Während die Hermeneutik in der Theologie und in der Juristik eine gängige Methode zum Verstehen von Sinnzusammenhängen ist, gibt es laut Peter Szondi gegenwärtig im deutschsprachigen Raum kaum eine literarische Hermeneutik. Stattdessen ist das Prinzip der Werkimmanenz verbreitet, bei der sich die Interpretation von Texten nur auf den Text selbst bezieht und andere Kontexte dabei außer Acht gelassen werden. Dies ist auch das Prinzip, das an deutschsprachigen Schulen bevorzugt wird, weshalb Schülerinnen und Schüler nicht lernen, einen Text hinsichtlich seiner Entstehungsgeschichte und dem außertextlichen Kontext zu untersuchen. Dabei ist genau das wichtig, um die Texte wirklich zu verstehen.
Doch wieso gibt es im deutschsprachigen Raum kein hermeneutisches Bewusstsein in Bezug auf die Literaturwissenschaften? Dies erörtert Peter Szondi in seinem Traktat über die philologische Erkenntnis. Mit einem Blick auf die englische Tradition des "literary criticism" und der französischen "critique" soll gezeigt werden, welche Perspektiven sich damit auch dem deutschsprachigen Raum bei der gelehrten Beschäftigung mit Literatur eröffnen.
Im Folgenden sollen nun zuerst die Gründe für das Fehlen der philologischen Hermeneutik im deutschsprachigen Raum genauer analysiert werden und in Bezug darauf der eigentliche Umgang mit literaturwissenschaftlichen Texten erläutert werden. Diese Divergenz soll dann hinsichtlich des angelsächsischen und französischen Bewusstseins für die literaturwissenschaftliche Hermeneutik aufgelöst werden.
Inhaltsverzeichnis
- Das Fehlen der philologischen Hermeneutik im deutschsprachigen Raum
- Das Selbstverständnis der Literaturwissenschaften
- Die Problematik der philologischen Erkenntnis
- Die Autorenorientierung
- Der Vergleich mit anderen Wissenschaften
- Die angelsächsische und französische Tradition
- Perspektiven für den deutschsprachigen Raum
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Text von Peter Szondi analysiert die Gründe für das Fehlen eines hermeneutischen Bewusstseins in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft und stellt die englische und französische Tradition der Literaturkritik als Gegenmodell vor. Szondi kritisiert die Fokussierung auf Werkimmanenz, die Vernachlässigung des außertextlichen Kontextes und die unreflektierte Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden in der Literaturwissenschaft.
- Das Fehlen der Hermeneutik in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft
- Kritik am Selbstverständnis der Literaturwissenschaft
- Der Einfluss des außertextlichen Kontextes auf die Interpretation
- Die angelsächsische und französische Tradition als Gegenmodell
- Perspektiven für eine hermeneutische Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum
Zusammenfassung der Kapitel
Das Fehlen der philologischen Hermeneutik im deutschsprachigen Raum
Szondi kritisiert die Dominanz des positivistischen Denkens, das die spekulative Erkenntnis zugunsten von Tatsachenforschung verdrängt. Er bemängelt die starke Autorenorientierung in der Interpretation, die den Text als bloße Wiedergabe der Gedanken des Autors begreift. Szondi argumentiert, dass Texte als eigenständige Kunstwerke betrachtet werden müssen, die nicht durch die Intention des Autors bestimmt werden. Außerdem kritisiert er die Nähe der Literaturwissenschaft zu den Naturwissenschaften und die damit verbundene Aneignung naturwissenschaftlicher Methoden.
Die angelsächsische und französische Tradition
Im Gegensatz zur deutschsprachigen Tradition, die den Begriff der Wissenschaftlichkeit betont, verstehen die angelsächsische und französische Tradition Literatur als künstlerischen Gegenstand. Diese Traditionen fokussieren auf die kritische Tätigkeit und das Verständnis des Denkprozesses, der einer Interpretation zugrunde liegt. Szondi sieht diese Traditionen als positives Gegenmodell für die deutschsprachige Literaturwissenschaft.
Perspektiven für den deutschsprachigen Raum
Szondi plädiert für eine Wiederbelebung der Hermeneutik in der Literaturwissenschaft. Er betont die Notwendigkeit, den hermeneutischen Zirkel zu begreifen, der Erkenntnis als einen fortschreitenden Prozess versteht. Außerdem plädiert er für eine Bewusstmachung der Tatsache, dass die Literaturwissenschaft Teil der Geisteswissenschaften ist und somit andere Methoden benötigt als die Naturwissenschaften.
Schlüsselwörter
Hermeneutik, Literaturwissenschaft, Werkimmanenz, außertextlicher Kontext, philologische Erkenntnis, Positivismus, Autorenorientierung, angelsächsische Tradition, französische Tradition, „literary criticism“, „critique“, Kunstwissenschaft, Geisteswissenschaften.
- Arbeit zitieren
- Lena Morgenstern (Autor:in), 2021, Essay zur Hermeneutik der Literaturwissenschaften Peter Szondis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1006905