Ziel dieser Masterarbeit ist es, einen Überblick über die aktuellen wissenschaftlichen Erhebungen hinsichtlich der Bildungsteilhabe Geflüchteter zu erstellen und dieses in den Kontext politischer Bedingungen zu setzen. Zusätzlich werden die Auswirkungen, die mit der Aussetzung des Familiennachzuges verbunden sind, auf Grundlage theoretischer Überlegungen, diskutiert. Hierbei wird der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen die Aussetzung des Familiennachzuges und die damit verbundenen Verlust- und Trennungserfahrungen auf die Bildungsteilhabe von Geflüchteten hat. Die Hypothese, die zur Beantwortung dieser zentralen Fragestellung aufgestellt wird und die es zu überprüfen gilt, lautet: Familiäre Rückzugsräume schaffen einen Raum der Identifikation und des Schutzes. Geflüchtete, die über ein familiäres Netzwerk verfügen und deren Angehörige in unmittelbarer Nähe leben, können sich auf die Aneignung neuer Bildungsinhalte eher einlassen, als jene, deren Familienmitglieder noch im Heimatland leben.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Darstellung der Thematik
1.2 Forschungsstand und Hypothesenbildung
2 Der Familiennachzug im Kontext rechtlicher und nationaler Rahmungen
2.1 Zu den rechtlichen Gegebenheiten des Familiennachzug
2.1.1 Das Recht auf Asyl aus historischer Perspektive
2.1.2 Das deutsche Asylrecht: Die Schutzformen
2.1.3 Zu den Bedingungen des Familiennachzuges nach dem Aufenthaltsgesetz
2.1.4 Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten
2.1.5 Verlauf und Entwicklung des Familiennachzuges in Zahlen . .
2.2 Der Familiennachzug und der politisch-gesellschaftliche Diskurs . . .
2.2.1 Migration: Entwicklung des politisch- gesellschaftlichen Diskurses
2.2.2 Zur Konstruktion von Feindbildern: der hegemoniale Diskurs um muslimische Familien
2.2.3 Zur Wirkungsweise rhetorischer Mittel in der Debatte um den Zuzug von Geflüchteten
3 Zur Sozialisationsinstanz Familie unter transnationalen Bedingungen
3.1 Zur Lebenslage von Familien in der Migration
3.1.1 Im Wandel? - Familiäre Bindungen und ihre Bedeutungen . .
3.1.2 Die Relevanz von familialen Bindungen in der Migration ...
3.1.3 Zur Lebenssituation von Geflüchteten unter Berücksichtigung transnationaler Familienverhältnisse
3.2 Psychosoziale Auswirkungen der Familientrennung: aktueller Forschungsstand
3.2.1 Trauma und Verlusterfahrungen im Kontext von Migration . .
3.2.2 Familiäre Trennung aus bindungstheoretischer Perspektive . .
3.2.3 Analysen und Erkenntnisse der Familien- und Bindungsforschung
4 Bildung und Migration
4.1 Zu den allgemeinen Bedingungen von Bildung
4.1.1 Bildung - Was ist Bildung?
4.1.2 Bedingungen und Voraussetzungen für schulisches Lernen ...
4.2 Zur schulischen Situation Geflüchteter und zu den Auswirkungen traumatischer Erfahrungen
4.2.1 Resilienz: Strategien und Erfolge von Geflüchteten in der Bildung
4.2.2 Traumatisierung als Einschränkung und Risiko
4.2.3 Zum Stellenwert der Bindungsmuster hinsichtlich der Bildungsteilhabe
5 Schlussbetrachtung
5.1 Zusammenfassung und Deutung der Ergebnisse
5.2 Schlussfolgerungen und Ausblick
6 Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
1.1 Darstellung der Thematik
Das Thema Migration und Zuwanderung wird im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs kontrovers diskutiert und nimmt eine besonders dominante Rolle in der politischen und medialen Debatte ein. Diskussionen über die Einwanderung von Geflüchteten sind im Zuge der erhöhten Migrationsbewegungen aus dem Jahre 2015 vermehrt im Fokus. Innerhalb der Bevölkerung entwickelte sich neben der Willkommenskultur auch zunehmend Unmut und Ablehnung gegenüber Geflüchteten sowie der Migrations- und Asylpolitik. In der Folge sind in den letzten Jahren europaweit Restriktionen hinsichtlich der rechtlichen Bedingungen von Geflüchteten verabschiedet worden. In Deutschland steht in diesem Kontext besonders der Familiennachzug von Geflüchteten im Blickpunkt. Nach Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird als Familiennachzug oder Familienzusammenführung der Zuzug von im Ausland lebenden Familienangehörigen zu einer Person, die sich bereits im Zielland befindet und über einen Aufenthaltstitel verfügt, bezeichnet. Dieses erfolgt um die Herstellung bzw. die Aufrechterhaltung der Familieneinheit zu bewirken (vgl. BAMF 2015).
Als wesentliche und meist diskutierte Einschränkung in der Asyl- und Migrationspolitik ist die im März 2016 verabschiedete zweijährige Aussetzung des Familiennachzuges für subsidiär Geschützte1 zu nennen (vgl. Cremer 2016, S.3). Anfang 2018 wurde diese um ein weiteres halbes Jahr verlängert. Als Legitimationsgrundlage für die Beschränkungen im Bereich des Familiennachzuges wird bspw. dessen quantitative Dimension herangeführt. Verdeutlicht wird diese u.a. mit einer Zunahme an erteilten Aufenthaltserlaubnissen, die im Zuge des Familiennachzugs für neueinge- reiste Drittstaatsangehörige seit 2014 ausgesprochen wurden (vgl. Grote 2017, S.17) und die wiederum zu einer hohen Zahl nachziehender Familienangehöriger führen kann. Die Hervorhebung quantitativer Daten korreliert oftmals mit einer politischmedialen Darstellung von Geflüchteten als Bedrohung (vgl. Link 2016, S.7). Hierbei werden Geflüchtete zunehmend mit Kriminalität sowie Separierungstendenzen ge- genüber der Mehrheitsbevölkerung assoziiert. Teile der Bevölkerung bewerten jene Zuwanderung als eine Bedrohung der deutschen Identität und Kultur (vgl. Petersen 2016, 5ff./ Mader 2016, S.442). Migrations- und Sozialverbände heben hingegen hervor, dass jene Diskursstränge vorwiegend negative Konsequenzen von Zuwanderung hervorheben und die Auswirkungen, die mit der Aussetzung des Familiennachzuges für die betroffenen geflüchteten Menschen in Deutschland einhergehen, weitestgehend ausblenden. Angesichts der in Deutschland geltenden rechtlichen Grundlagen, nach denen laut Grundgesetz ein besonderer Schutz der Ehe und Familie vorgesehen ist (Art.6 GG), kann die Begrenzung des Familiennachzuges für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz als widersprüchlich betrachtet werden. So gilt nach generellem Verständnis „Familie“, trotz zunehmender Individualisierung und Mobilisierung weiterhin als schutzgebender Raum, in dem die Voraussetzungen für Entwicklung, Wachstum und Geborgenheit geschaffen werden.
Für Menschen, die in Folge von Krieg, Verfolgung oder anderen lebensbedrohlichen Umständen unfreiwillig in die Situation versetzt werden, ihre Heimat zu verlassen, ist diese Migration aus diversen Gründen oftmals mit einer Trennung von ihren Familienmitgliedern verbunden. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) als auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR) bspw. stufen die Sorge um die Angehörigen bei Geflüchteten als erheblich ein. Sie betonen, dass viele der betroffenen Personen nahezu vollständig von der Angst und Sorge um die Familienmitglieder, die sich oftmals noch in einer bedrohenden Lebenssituation in dem Herkunftsland befinden, berichten (vgl. EKD 2018, S.8). Demnach werden aufgrund dieser Umstände, das Ankommen sowie die damit verbundene Arbeitssuche und der Spracherwerb in einem hohen Maße erschwert (vgl. SVR 2018, S.1). Dem familiären Rahmen wird somit eine entscheidende Funktion bei der Orientierung in einer neuen Umgebung und der Entfaltung eigener Handlungspotenziale beigemessen. Bei vielen Geflüchteten ist davon auszugehen, dass sie aufgrund der Gegebenheiten im Herkunftsland traumatisierende Ereignisse erlebt haben. Bei vielen Geflüchteten ist zudem davon auszugehen, dass sie neben der Trennung von der Familie aufgrund der Gegebenheiten im Herkunftsland traumatisierende Ereignisse erlebt haben.
Diese Gegebenheiten werfen die Frage auf, welche Bedeutung ein geschützter familiärer Raum für geflüchtete Menschen konkret einnimmt. Insbesondere der Aspekt der Bildung scheint in diesem Zusammenhang von hoher Relevanz. Wissenschaftlichen Studien zu Folge gelten Familien als essentieller Ausgangspunkt für alle weiteren Bildungsprozesse. Grundlegende Fähigkeiten, die für spätere schulische lern- und lebenslange Bildungsprozesse relevant sind, werden hier geschaffen (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2002, S.12, Kalicki 2012, S.8, Dearden et al. 2010, S. 15). So gehen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen mit dem Erwerb von Bildung in erster Linie positiv korrelierende Effekte hervor. Erhebungen belegen, dass höhere Bildungsabschlüsse, das Risiko von Arbeitslosigkeit reduzieren, die Wahrscheinlichkeit der subjektiven Zufriedenheit im beruflichen Bereich erhöhen und positive Auswirkungen auf das psychische und physisches Gesundheitsempfinden feststellbar sind (vgl. Rutter/Rutter 1993, S. 46ff.). Somit hat die familiäre Geborgenheit auch langfristig einen positiven Effekt auf die Lebenszufriedenheit und Integration in den Arbeitsmarkt.
1.2 Forschungsstand und Hypothesenbildung
Die wissenschaftliche Forschungslage zu den Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen von Geflüchteten enthält nur wenige Befunde und Daten über deren Bildungssituation und Bildungsverläufe. So ist bspw. über das schulische Abschneiden von Schüler*innen mit Fluchterfahrungen bislang kaum etwas bekannt. Ursächlich hierfür ist bspw. der Umstand zu nennen, dass in repräsentativen Daten Geflüchtete selten direkt identifizierbar sind (vgl. Söhn /Marquadsen et.al. 2017, S.19). Es ist allerdings auch hervorzuheben, dass sich die Forschung bisher auf die Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund fokussierte (vgl. Carnicer 2017, Glorius 2014, King /Koller 2009, Raiser 2007). In den meisten Erhebungen wurde hierbei keine Differenzierung nach Migrationsform oder Aufenthaltsstatus vorgenommen, und stattdessen unter dem Stichwort Menschen mit Migrationshintergrund eine vermeintlich homogene Gruppe beschrieben (vgl. Diefenbach 2010, S.20ff.). Der Fokus der wissenschaftlichen Untersuchungen lag hierbei überwiegend auf der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration. Ursächlich für diese Schwerpunktsetzung und die damit einhergehende geringe Beachtung der Lebenslagen von Geflüchteten im schulischen Kontext, wurde lange Zeit mit dem Hinweis auf die zunehmenden restriktiven Bedingungen der Geflüchteten und den geringen Bleibeperspektiven begründet. Diesbezüglich wurde u.a. von einer Verhinderung und einem Rückgang neuer Zuwanderung ausgegangen und die Bildungsund Sozialisationsbedingungen Geflüchteter als ein zu vernachlässigendes Thema eingestuft (vgl. Stanat 2008, S. 689). Dieses fehlende wissenschaftliche sowie politische Interesse an der Bildungssituation Geflüchteter drückte sich lange Zeit auch in der knappen Forschungsförderung entsprechender Untersuchungsfelder aus (vgl. Behrensen /Westphal 2009, S. 46).
Einhergehend mit den erhöhten Flucht- und Migrationsbewegungen im Jahr 2015 und einem anhaltenden gesellschaftlichem Diskurs über die Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen von Geflüchteten, rückte das Thema allerdings stärker in den Fokus wissenschaftlicher Erhebungen. Bisher existieren nur wenige Studien, die explizit die Situation neu zugewanderter Geflüchteter und den damit verbundenen Seiteneinstieg in das Bildungssystem untersuchen. Erhebungen, die die mit der Aussetzung des Familiennachzuges einhergehende Familientrennung und deren Einfluss auf Bildungsprozesse eruieren, gibt es in dieser Form bisher nicht. Die Auswirkungen von Trauma und Verlust auf die Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen wurden indessen in der Forschung bereits in einigen Untersuchungen analysiert. Ziel dieser Masterarbeit ist es, einen Überblick über die aktuellen wissenschaftlichen Erhebungen hinsichtlich der Bildungsteilhabe Geflüchteter zu erstellen und dieses in den Kontext politischer Bedingungen zu setzen. Zusätzlich werden die Auswirkungen, die mit der Aussetzung des Familiennachzuges verbunden sind, auf Grundlage theoretischer Überlegungen, diskutiert. Hierbei wird der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen die Aussetzung des Familiennachzuges und die damit verbundenen Verlust -und Trennungserfahrungen auf die Bildungsteilhabe von Geflüchteten hat. Die Hypothese, die zur Beantwortung dieser zentralen Fragestellung aufgestellt wird und die es zu überprüfen gilt, lautet: Familiäre Rückzugsräume schaffen einen Raum der Identifikation und des Schutzes. Geflüchtete, die über ein familiäres Netzwerk verfügen und deren Angehörige in unmittelbarer Nähe leben, können sich auf die Aneignung neuer Bildungsinhalte eher einlassen, als jene, deren Familienmitglieder noch im Heimatland leben.
Um die Hypothese zu untersuchen, wird als Methode ein ausschließlich theoretischer Zugang gewählt, bei dem im zweiten Kapitel als Ausgangslage zunächst die rechtlichen und politischen Gegebenheiten skizziert werden sollen. Dieses erfolgt u.a. um die Bedingungen und Einflussfaktoren, die bei der Integration in das Bildungssystem bestehen, aufzeigen zu können. Ein besonderer Fokus wird hierbei auf die gesetzlichen Regelungen für Geflüchtete und die Bedingungen des Familiennachzuges nach dem Asylrecht gelegt. Darüber hinaus werden Elemente des politischen- gesellschaftlichen Diskurses spezifiziert. Dieses beinhaltet u.a. die Darstellung des hegemonialen Diskurses um muslimische Familien sowie die Wirkungsweise rhetorischer Mittel in der Debatte um den Familiennachzug. Um den Forschungsstand näher eruieren zu können, werden in den beiden nun folgenden Kapiteln theoretische Zugänge aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen aufgeführt und gegenübergestellt. Hierbei wird in Kapitel 3 die Sozialisationsinstanz Familie unter transnationalen Bedingungen näher beschrieben. Dabei werden im ersten Schritt die Bedeutungen von familiären Beziehungen im Generellen sowie unter der Betrachtung transnationaler Zusammenhänge dargestellt. In diesem Kontext wird mit Hilfe von Studien die aktuelle Lebenssituation Geflüchteter hervorgehoben. Anhand des aktuellen Forschungsstandes aus der Trauma- und Bindungsforschung untersucht der zweite Teil dieses Kapitels die psychosozialen Auswirkungen der Familientrennung.
In Kapitel 4 wird auf den Aspekt der Bildung im Kontext von Migration näher eingegangen. Hierfür wird zum einen der Frage nachgegangen, wie Bildung zunächst definiert und interpretiert werden kann und zum anderen werden die Bedingungen und Voraussetzungen für schulisches Lernen betrachtet. Im Anschluss daran werden auf Grundlage mehrerer Erhebungen und Theorien sowohl die schulischen Situationen Geflüchteter als auch die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf Bildungsprozesse untersucht. Dabei werden zunächst Studien beschrieben, die überwiegend die Resilienz und Strategien im Hinblick auf Bildungserfolge darstellen. Im Anschluss daran werden diese Untersuchungen gegenübergestellt, die traumatische Ereignisse vermehrt als Einschränkung bei der Bildungsteilhabe von Geflüchteten interpretieren. Abschließend werden die Theorien aus den Vergleichsrahmen Bildung und Familie mit den politischen und rechtlichen Strukturen abgeglichen. Hierbei erfolgt eine Diskussion der Ergebnisse. Bevor eine dezidierte wissenschaftliche Betrachtung der beschriebenen Fragestellung erfolgen kann, ist darauf hinzuweisen, dass innerhalb der Migrationsforschung, in der Grenzziehungen, Verhältnissen und Strukturen untersucht werden, der Einbezug der eigenen Standpunktes, von hoher Relevanz ist. Die Reflexion der eigenen Position ist insbesondere deshalb von hoher Bedeutung, da jegliches Wissen so Ha (2007, S.42) „gesellschaftlich und historisch situiert“ ist , „seine blinden Flecken“ (ebd.) hat und gleichzeitig mit konsolidierenden Effekten für die Untersuchten als auch für die Darstellenden einhergeht (vgl. Said 2014). Die kritische Betrachtung struktureller Zusammenhänge insbesondere im Kontext von Migration implizieren nach Mecheril und Thomas-Olalde (2010, S.496) auch „Machteffekte der eigenen Wissensproduktion und -distribution“ mit zu berücksichtigen. Als weißer Mann verfüge ich über eine privilegierte Stellung innerhalb hegemonial geprägter gesellschaftlicher Strukturen. Darüber hinaus setzte ich mich als Akademiker im mittleren Alter, ohne Behinderung, mit deutscher Staatsbürgerschaft, der nicht muslimischen Glaubens ist, mit Strukturen auseinander, die meine eigene Privilegierung ermöglichen und sichern können. Eine Reflexion und kritische Haltung hinsichtlich meiner gesellschaftlichen Stellung und der Eingebundenheit in bestehende Machtstrukturen, ist bei der Analyse von Machteffekten im Zusammenhang von Wissensproduktion notwendig und stellt für mich eine Voraussetzung in der kritischen reflexiven Forschung dar. In dieser Hinsicht ist mein Umgang und mein Verständnis von Migrationsanderen durch die gegebenen Rahmenstrukturen beeinflusst. So ist es möglich, dass Kategorien und Konstruktionen, die mit spezifischen gesellschaftlich geprägten Implikationen und Machtstrukturen einhergehen, auch Einfluss auf meine Sichtweise im Forschungsprozess haben. Um eine Reproduktion gesellschaftlicher Machtstrukturen entgegen zu wirken, nimmt die Überprüfung des eigenen Standpunktes und der Anwendung meiner methodischen Vorgehensweise, einen hohen Stellenwert meiner Forschung ein. Ein besonderer Fokus liegt hierbei bei der gezielten Verwendung von Begriffen2, die im Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand eingesetzt werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass Begriffe, die die Differenz zwischen Menschen hinsichtlich ihrer Herkunft hervorheben, wie beispielsweise die Begriffe Migrationshintergrund, Migrant*in, Flüchtling3 oder Ethnie immer auch Teil des dominanten Ordnungsmodells „moderner“ Gesellschaften sind. Mit Hilfe dieser Begrifflichkeiten, kann ungeachtet der Nationalität auf die Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit von Menschen zu einem Land hingewiesen und so auch eine Aufteilung in Ihründ "Wir"vorgenommen werden. So kann durch die Verwendung, der beschriebenen Termini der Eindruck entstehen, dass es sich um eine homogene Gruppe mit prinzipiell ähnlichen Werten und Lebensstilen handelt.
2 Der Familiennachzug im Kontext rechtlicher und nationaler Rahmungen
2.1 Zu den rechtlichen Gegebenheiten des Familiennachzug
Um die Wirkungsweisen von Familienzusammenführung und Familientrennung im bildungsbezogenen Kontext näher untersuchen zu können, kommt der Betrachtung der aufenthaltsrechtlichen Bedingungen von fluchtmigrierten Menschen in Deutschland eine zentrale Bedeutung bei. Die rechtlichen Rahmen, die für Geflüchtete gelten, sind komplex ausgestaltet und fußen überdies auf nationalem, europäischem sowie internationalem Recht und Schutzabkommen. Aufgrund dieser Komplexität wird nur ein kurzer Überblick über die rechtlichen Grundlagen erfolgen, die im Rahmen des Familiennachzuges von Bedeutung sind. Der Einbezug der rechtlichen Rahmungen erscheint angesichts der steigenden Zahl an Menschen, die aufgrund von Krieg, Konflikten und Verfolgung weltweit fliehen und mit 70,8 Millionen Menschen im Jahre 2018 (vgl. UNHCR4 2019, S.3) einen Höchstwert erreicht hat, relevant und erwähnenswert. Hierbei fällt der Anteil derer, die nach Europa migrieren, gegenüber der Zahl jener, die in die angrenzenden Länder flüchten, wesentlich geringer aus (vgl. ebd.). Dieses hängt auch mit einer unerwünschten Einwanderung von Geflüchteten und der systematischen Abschottung an den Außengrenzen Europas (z.B. durch Frontex) zusammen (vgl. Kasparek 2013, S.44). In der Folge wählen viele Geflüchtete vermehrt weitere und gefährlichere Routen, um nach Europa zu kommen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen starben zwischen 1988 und 2014 mindestens 21439 Menschen auf der Flucht an den Grenzen Europas (vgl. Del Grande 2014 zit.n. Zito 2015, S.55). Jene Abschottungspolitik steht dem Recht auf Asyl konträr und widersprüchlich gegenüber. Um darlegen zu können auf welchen Grundlagen das Asylrecht konzipiert wurde und wie diese Widersprüche zu erklären sind, wird im Folgenden zunächst ein historischer Blick auf die Entwicklung der asylrechtlichen Bedingungen und Strukturen in Deutschland gelegt.
2.1.1 Das Recht auf Asyl aus historischer Perspektive
Retrospektiv ist die Entstehung des Asylrechts eng mit den Eindrücken des zweiten Weltkrieges und den damit zusammenhängenden Morden an Millionen von Menschen verbunden. In der Folge erklärten die Vereinten Nationen im Jahre 1948 das Recht auf Asyl zur Grundlage des Völkerrechts: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen"(Vereinte Nationen 1948, Artikel 4). Jene Erfahrungen sowie die mit den Folgen des Krieges verbundenen Migrationsbewegungen, machten auch die Notwendigkeit einer Neuregelung des bisherigen deutschen Asylrechts deutlich. In der Folge wurde bei der rechtlichen Ausrichtung der Bundesrepublik im Jahr 1949, das Recht auf Asyl im Grundgesetz festgesetzt (vgl. Krol 2017). So stand in Artikel 16 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschlands: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ (Art.16 GG). Eine Erweiterung des deutschen Asylrechts erfolgte bereits im Jahre 1954. Bisher schloss der Artikel 16 des Grundgesetzes nur politisch Verfolgte mit ein. Mit der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen gewährte die Bundesrepublik nun auch Asylsuchenden Schutz, die aufgrund ihrer "Rasse, Religion, Nationalität und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe"verfolgt wurden. In dieser Unterzeichnung wurde neben dem Recht auf Bildung und Arbeit für die Geflüchteten auch festgesetzt, dass eine Abschiebung in ein Land, in dem eine Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Freiheit besteht, nicht mehr zulässig ist (Vgl. Krol 2017). „Bis Anfang der 1990er Jahre beantragten verhältnismäßig wenig Menschen in Deutschland Asyl.“ (ebd.).
Allerdings zeichnete sich bereits in den 1980er Jahren ab, dass der Anspruch auf Asyl auf politischer Ebene zunehmend kritisch hinterfragt wurde und Asylsuchende mit der Bedrohung nationaler Interessen verknüpft wurden (vgl. Schönwälder 1999, S.82). Erste Restriktionen wie bspw. ein Arbeitsverbot sowie die Einschränkung der Mittel zur Lebenserhaltung sollten eine abschreckende Wirkung erzielen (vgl. Bär 2016, S.67). Mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien und den damit verbundenen Anstieg an Asylanträgen, verschärften sich die Diskurse und die Rechtslage Geflüchteter in einem hohen Maße (vgl. Krol 2017). Hierbei gingen die Diskurse um die Asylpolitik zunehmend mit einer rassistischen Stimmungsmache einher. Diese Stimmung richtete sich allerdings vorwiegend an Geflüchtete aus dem afrikanischen und arabischen Raum, die als Wirtschaftsflüchtlinge tituliert und mit dem Missbrauch des Asylrechts in Verbindung gebracht wurden (vgl. Schönwälder 1999, S.84). Höhepunkt dieser Debatte, bildeten die Änderungen des Grundgesetzes 1993, mit denen große Auswirkungen des Asylrechts in Deutschland verbunden waren.
Nach dem seither gültigen Artikel 16a des Grundgesetzes hat in aller Regel keine Chance mehr auf Asyl, wer aus "verfolgungsfreien"Ländern stammt oder über sogenannte sichere Drittstaaten einreist, mit denen Deutschland lückenlos umgeben ist (Oltmer 2016).
Im Anschluss an diese Regulierungen, nahm entsprechend der Erwartungen die Zahl der Asylanträge kontinuierlich ab. Darüber hinaus sank der Anteil der positiv be- schiedenen Asylanträge auf ein Drittel. Folglich wurden die Bewerber*innen mit abgelehntem Asylantrag aus Deutschland ausgewiesen (vgl. Krol 2017). Weitere Restriktionen folgten u.a. mit dem 1993 verabschiedeten Asylbewerberleistungsgesetz, welches festlegte, dass Asylbewerber*innen nun wesentlich weniger Geld für den Lebensunterhalt zugesprochen wurde (vgl. Baier 2017).
Gleichzeitig kam es in den 1980er/90er Jahren mit dem Abbau der Binnengrenzkontrollen in Europa im Zuge des Schengener Abkommens zu einer schrittweisen Verlagerung der Stärkung und Kontrolle der europäischen Außengrenzen. Diese umfasste die Visumspflicht für 126 Staaten, Sanktionen und Bestrafungen bei Fluchtmigrationshilfe sowie die Einführung des Prinzipes der Erstasyllandes. Letzteres kann als Vorläufer des Dubliner Übereinkommens betrachtet werden (vgl. Hent- ges/Staszczak 2010, S.25f.). Das Dubliner Übereinkommen trat 1997 in Kraft und damit gilt die grundsätzliche Regelung, dass die Zuständigkeit für das Asylverfahren an jenen Mitgliedsstaat der EU übertragen wurde, der für die Einreise in die EU verantwortlich war, entweder durch die Erteilung eines Visums oder durch das Nichtverhindern des Überquerens der EU-Außengrenze in das jeweilige Hoheitsgebiet (vgl. Baier 2017). Das Dubliner Übereinkommen setzte darüber hinaus fest, dass der Zuständigkeitsbereich für ein Asylverfahren ausschließlich bei einem EU-Staat liegt und somit gleichzeitige oder aufeinander folgende Asylanträge in mehreren EU- Staaten ausgeschlossen werden sollen (vgl. ebd.). Die Überarbeitung des Dubliner Übereinkommens erfolgte zunächst im Jahre 2003 durch die Dublin -II- Verordnung und wurde im Jahre 2013 durch die Dublin -III- Verordnung ersetzt. In erster Linie wurde in diesem Kontext die Überwachung von Migrationsprozessen mit Hilfe des EURODAC- Systems5 sowie dem Schengen-Informationssystem weiter ausgebaut (vgl. Nuscheler 2004, S.183).
Auch wenn diese Schritte als entscheidende Maßnahmen zur sog. Harmonisierung der Asyl- und Einwanderungspolitik in Europa betrachtet werden, bestehen bis heute massive Differenzen bei der Anerkennungspraxis, dem Verfahrensstandard sowie den Aufnahmebedingungen einzelner EU-Staaten (vgl. Bär 2016, S.69). Statt der Schaffung eines einheitlichen Asylsystems innerhalb der EU, wurde der Fokus verstärkt auf die Externalisierung des „Flüchtlingsschutzes“ gesetzt. Dieses bedeutet, dass Zahlungen an außereuropäische Staaten erfolgen, um diese bei der Verhinderung des Übertritts von Geflüchteten nach Europa einzubinden (vgl. Löhlein 2010, S.28). Ein zentrales Element nimmt in diesem Zusammenhang die 2004 gegründete EU- Agentur Frontex ein, welche die Hauptmigrationsrouten in die EU kontrolliert. So werden Geflüchtete bei der „illegalen Migration“ gehindert und sowohl auf dem See- als auch auf dem Landwege in die Herkunfts- oder Transitländer zurückgebracht (vgl. a.a.O., S.30). Da somit sämtliche sicheren und einfach zu nutzenden Fluchtwege in die EU versperrt sind, werden Geflüchtete stattdessen gezwungen lebensbedrohliche Flucht- und Migrationswege zu wählen. Jene Geflüchtete, die trotz der erschwerten Bedingungen die Flucht geschafft haben, werden mit den unterschiedlichen rechtlichen Reglementierungen in Deutschland konfrontiert. Im Folgenden sollen die Regeln des deutschen Asylrechts näher dargestellt werden.
2.1.2 Das deutsche Asylrecht: Die Schutzformen
Innerhalb des deutschen Asylrechts bestehen vier Schutzformen, die mit einer Aufenthaltserlaubnis verbunden sind. Mit der Differenzierung der einzelnen Schutzformen gehen unterschiedliche Rechtsansprüche einher, die auch die rechtlichen Modalitäten beim Familiennachzug umfassen. Menschen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen, haben ihr Heimatland aus den unterschiedlichsten Beweggründen verlassen. Aus rechtlicher Perspektive wird bei der Schutzgewährung nicht jede Motivation, in Deutschland einzureisen, als asylrelevant anerkannt. „Im Asylverfahren wird hingegen ausschließlich geprüft, ob einem Antragsteller gravierende Gefahren drohen würden, wenn er in sein Herkunftsland zurückkehren müsste“ (Kraft 2016). Im deutschen Asylrecht wird zwischen folgenden Schutzformen differenziert:
Asylberechtigung:
Asyl wird politisch Verfolgten, die durch staatliche oder staatsähnliche Akteure verfolgt werden, zugesprochen (Art. 16a Abs. 1 GG). Der Anspruch auf Asyl wird nur Geflüchteten, die nicht über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland eingereist sind, gewährt. „Sichere Drittstaaten6 sind nach dem Gesetz jene, in denen die Genfer Flüchtlingskonvention sowie die europäische Menschenrechtskonvention gelten“ (Meinhardt 2009, S.45). Da alle Nachbarländer Deutschlands als diese eingestuft werden, ist die Gewährung von Asyl, nur möglich, wenn Geflüchtete über den Seeoder Luftweg nach Deutschland einreisen. Mittlerweile tritt die Asylberechtigung in der praktischen Umsetzung nahezu vollkommen hinter dem Flüchtlingsschutz zurück. So wurden im Zeitraum von 2006 bis 2016 nur zwischen 0,8 bis 1,8 % als Asylberechtigte anerkannt (vgl. Kraft 2016).
Flüchtlingsschutz
Dieser basiert auf der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und ist in Relation zur Asylberechtigung umfassender ausgerichtet (vgl. BAMF 2016a). Eine wesentliche Bedingung bei der Erteilung dieser Schutzform, stellt die Motivation der Flucht dar, welche auf einer begründeten Furcht vor Verfolgung beruhen muss. In diesem Kontext wird eine geflüchtete Person dann als Flüchtling eingestuft, wenn sie sich aufgrund ihrer "Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungäußerhalb ihres Heimatlandes befindet (§ 3 Abs. 1 AsylG ). Im Gegensatz zur Asylgewährung, setzt die Erteilung des Flüchtlingsstatus keine staatliche Verfolgung voraus (vgl. Döring/Langenfeld 2016 S.3). Geflüchtete mit zugesprochenen Flüchtlingsschutz erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst drei Jahre (§26 Abs. 1 AufenthG).
Subsidiärer Schutz:
Da die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) den Schutz vor der Todesstrafe nicht beinhaltet, und diese in allen EU-Staaten massiv abgelehnt wurde, kam es 2011 zur Einführung des subsidiären Schutzes für Geflüchtete. Diesen erhalten Menschen, denen im Herkunftsland ein ërnsthafter Schaden"droht. Als Lebensumstände, denen Geflüchtete schutzlos ausgeliefert sind und die einen ernsthaften Schaden bewirken können, werden nach Artikel 15 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) Folter, Todesstrafe und Lebensgefahr in kriegerischen Konflikten angesehen. Der subsidiäre Schutz ist in § 4 AsylG in deutsches Recht umgesetzt. Im Gegensatz zum GFK- Schutz gilt für Subsidiär Schutzberechtigte eine Aufenthaltserlaubnis gemäß §26 Abs. 1 AufenthG zunächst für nur ein Jahr und bei Verlängerung für zwei weitere Jahre.
Nationale Abschiebungsverbot:
Eine vierte Variante des Schutzes stellt das sog. nationale Abschiebungsverbot dar. Dieses greift, wenn mit einer Abschiebung eine Verletzung der Rechte aus der EMRK7 einhergehen würde (§ 60 abs. 5 AufenthG) oder im Zielstaat für die geflüchtete Person eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (§ 60 Abs.
7 AufenthG) . Während § 60 Abs. 5 AufenthG gewissermaßen ein Auffangtatbestand für Geflüchtete ist, die aus verschiedenen Gründen durch die engen Raster der oben beschriebenen Schutzstatus fallen, findet § 60 Abs. 7 AufenthG seinen Hauptanwendungsbereich bei schwer erkrankten Geflüchteten, bei denen eine Abschiebung wegen der mangelnden medizinischen Versorgung im Herkunftsland eine akute Verschlechterung des Gesundheitszustands bewirken könnte.
Hinzuzufügen ist, dass Geflüchtete, die über einen Schutztitel verfügen, zunächst nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis nach §25 Absatz 1, 2 oder 3 AufenthG erhalten. Spätestens nach drei Jahren wird überprüft, ob die Gründe für die Schutzberechtigung weiter vorliegen. Im Zuge dieser Überprüfung, kann es zur Aberkennung der Schutzberechtigung kommen, wenn keine wesentlichen asylrelevanten Kriterien weiterhin bestehen. Bei Geflüchteten, deren Antrag auf Asyl abgelehnt wurde, erfolgt mit einer Frist von einem Monat eine Aufforderung zur Ausreise (§ 58 Abs. 1 AufenthG). Bestehen Gründe, aus denen eine Abschiebung in ein Land nicht durchgeführt werden kann, wird eine Duldung gemäß § 60a AufenthG erteilt. Diese werden in aller Regel kurzfristig verlängert und sind mit eingeschränkten sozialen Rechten verbunden.
2.1.3 Zu den Bedingungen des Familiennachzuges nach dem Aufenthaltsgesetz
Die Grundlagen des Familiennachzuges sind in unterschiedlichen Gesetzen auf nationaler sowie europäischer Ebene verankert. In Deutschland sind die Regelungen zum Familiennachzug in den §§ 27-36 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) festgesetzt und gelten für Ausländerinnen, die weder Bürgerinnen der EU noch Familienangehörige von EU-Bürger*innen sind. Diese fußen auf Art. 6 des Grundgesetzes, welcher einen besonderen Schutz der Ehe und Familie vorsieht. Neben den nationalen Rechtsvorgaben wird die Achtung und der Schutz des Privat- und Familienlebens in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 EMRK) sowie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (Art. 16) bekräftigt. Seit 2003 gibt die EU-Familienzusammenführungsrichtlinie den Rechtsrahmen innerhalb der EU in Bezug auf den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu Drittstaatsangehörigen vor. So gilt für Staatsangehörige, die nicht aus EU-Ländern stammen, aber über eine rechtmäßige Aufenthaltsgenehmigung in einem EU-Land verfügen, dass die Zusammenführung in dem entsprechenden Land, in dem sie sich aufhalten, zulässig ist (mit Ausnahme von Dänemark, Irland und im Vereinigten Königreich). Die Regelung des Familiennachzuges von EU-Bürger*innen und Familienangehörigen aus Drittstaaten, fällt unter das Freizügigkeitsgesetz, welches Einreise und Aufenthalt regelt.
Weiterhin wird auch der Schutz familiärer Bindungen zwischen Minderjährigen und ihren Eltern in den Blick genommen. Hierbei kommt den Richtlinien des Kindeswohls, wie sie in der UN-Kinderechtskonvention (KRK) in Art. 3 Abs. 1 KRK kodifiziert worden sind, eine entscheidende Bedeutung zu. So enthält etwa Art. 3 Abs. 1 KRK die staatliche Verpflichtung, das Kindeswohl bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, als ein vorrangiges Kriterium zu berücksichtigen. Der Kindeswohlvorrang wird auch in die Rechtssprechung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte miteinbezogen. In der Summe bestehen eine Reihe an unterschiedlichen Richtlinien und Gesetzen, die den Familiennachzug regulieren und festlegen. (Vgl. Cremer 2016, S.8)
Es ist allerdings hervorzuheben, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kein generelles Recht auf Familiennachzug existiert (vgl. Cremer 2016, S.8). Urteile des EGMR betonen, dass nach Art. 8 EMRK für die Vertragsstaaten keine Verpflichtung besteht, nach der sie die freie Wahl des ehelichen Wohnsitzes anerkennen und einen entsprechenden Gebietszugang gewähren müssen (vgl. Thym 2018, S.5). Ebenso stellte 1987 das Bundesverfassungsgericht heraus, dass der im Grundrecht verankerte Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG), keinen grundrechtlichen Anspruch auf Ehegattennachzug nach Deutschland begründe. Thym (vgl. 2018, S.7) hält allerdings diesbezüglich fest, dass eine Verweigerung der Familienzusammenführung einen Grundrechtseingriff darstelle, der die europäischen Staaten dazu verpflichte, diesen zu rechtfertigen Es lässt sich konstatieren, dass der Gesetzgeber zwar dazu verpflichtet ist, jene Grundsatznorm zu berücksichtigen, allerdings bei der Wahrnehmung seiner Schutz- und Förderpflichten über weite Entscheidungsspielräume verfügt. (Vgl. Deutscher Bundestag 2017)
Der Anspruch auf Familienzusammenführung geht aus § 27 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 29 Abs. 1 AufenthG hervor. In § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG findet sich die Privilegierung für Flüchtlinge und subsidiär Geschützte unter der Voraussetzung der fristwahrenden Anzeige. Hierbei ist zu erwähnen, dass die Privilegierung für subsidiär Schutzberechtigte erst seit dem 1.8.2015 gilt. Zwar bestand vorher bereits ein Anspruch auf Familienzusammenführung für subsidiär Geschützte, dieser enthielt aber keine Privilegierung. Allerdings erfolgte bereits im März 2016 die zweijährige Aussetzung des Familiennachzuges für subsidiär Geschützte (§ 104 Abs. 13 AufenthG). Generell lässt sich konstatieren, dass der Familiennachzug an den Besitz eines spezifischen Aufenthaltstitels gebunden ist. Familienangehörige von Geflüchteten, die geduldet werden oder deren Aufenthalt nach § 55 Abs. 1 Satz 1 und 3 AsylG gestattet ist, sind nach §§ 27 ff. AufenthG nicht nachzugberechtigt.
Bei der Zulassung des Familiennachzuges wird der Familienbegriff so definiert und ausgelegt, dass lediglich für die sog. Kernfamilie ein Recht auf Nachzug besteht.
Jene umfasst neben den Ehegatten, die eingetragenen Lebenspartner*innen, minderjährige ledige Kinder sowie Eltern unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter. In außergewöhnlichen Situationen greift die Härtefallregelung (§ 36 Abs. 2 AufenthG), nach der Ausnahmen in der Familienzusammenführung für Angehörige, die nicht zur sogenannten Kernfamilie gehören, gemacht werden können.
Die Familienzusammenführung ist an ein Visumsverfahren geknüpft. Demnach sind die deutschen Auslandsvertretungen für die Prüfung der Voraussetzungen zuständig, § 71 Abs. 2 AufenthG. Die Prüfung erfolgt unter Beteiligung der Ausländerbehörde, die nach der Einreise der Nachzugsberechtigten für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zuständig ist, § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, z.B. die Lebensunterhaltssicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), sind dabei grundsätzlich zu erfüllen. Jedoch ist zu betonen, dass bei dem Familiennachzug zu Schutzberechtigten erleichterte Voraussetzungen gelten sollen.
Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden. (Erwägungsgründe Abs. 8 RL 2003/86/EG)
So wird von dem allgemeinen Grundsatz der Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnraumerfordernisses (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) gesetzlich eine ausdrückliche Ausnahme gemacht. Der Gesetzgeber spricht diesbezüglich vom privilegierten Familiennachzug. So wird von diesen Erteilungsvoraussetzungen abgesehen, wenn die in Deutschland lebende Person über eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Niederlassungserlaubnis verfügt. Hierbei wird vorausgesetzt, dass die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Staat außerhalb der EU, zu dem die Familienmitglieder eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist (§ 29 Abs. 2 Satz 2 Nr.2 AufenthG). Darüber hinaus muss die Beantragung des Familiennachzugs innerhalb von 3 Monaten nach unanfechtbarer Anerkennung der Schutzberechtigung erfolgen. Andernfalls trifft die Ausländerbehörde eine Ermessensentscheidung, in welcher Weise die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu erfüllen sind. Sollte die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem nicht der EU zugehörigen sicheren Drittstaat durchführbar sein, wandelt sich der Rechtsanspruch auf Familiennachzug ebenfalls in eine Ermessensentscheidung der Behörde um. Eine Umsiedelung in einen Drittstaat darf demzufolge keinesfalls mit einer Gefahr der Verfolgung oder Zurückweisung für die schutzberechtige Person und ihre Familie verbunden sein (§ 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG).
2.1.4 Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten
Die bisherige Darstellung der rechtlichen Modalitäten des Familiennachzuges zeigt auf, dass diese komplex strukturiert sind und Modifizierungen abhängig von den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten erfolgen. Letzteres wird insbesondere bei der Aussetzung des Familiennachzuges für subsidiär Geschützte deutlich. So galt der „privilegierte Familiennachzug“ vor der am 1.8.2015 in kraftgetretenen Änderung im Aufenthaltsgesetz nicht für subsidiär Schutzberechtigte. Ein Erlass dieser Erteilungsvoraussetzungen konnte lediglich im Zuge einer Ermessensentscheidung der Behörde erteilt werden. Fortan wurde der privilegierte Familiennachzug nun auch für subsidiär Geschützte verabschiedet und vom Nachweis der Erteilungsvoraussetzungen abgesehen (vgl. Grote 2017, S.24). Allerdings wurde bereits am 17.3.2016 im neu verfassten § 104 Abs. 13 AufenthG beschlossen, dass der Familiennachzug für subsidiär Geschützte für zwei Jahre ausgesetzt werde (vgl. Cremer 2017, S.3). Dieses wurde im Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren in folgender Weise beschrieben:
Nach §104 Abs. 13 AufenthG ist der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten i.S.v. § 4 Abs. 1 AsylG (§ 60 Abs. 2 und 3 AufenthG), die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzen, für zwei Jahre bis zum 16.3.2018 ausgesetzt. Ausnahmen sind gemäß §§ 22, 23 AufenthG möglich (Art.2 Nr.4 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren v. 11.3.2016 - BGBI.I S.390)
In Folge dieser gesetzlichen Modifizierungen änderte sich auch die Entscheidungspraxis des BAMF, so dass ab Juni 2016 wesentlich mehr syrischen Geflüchteten statt des Flüchtlingsstatus, der subsidiäre Schutz zugesprochen wurde. Hierbei ist zu erwähnen, dass im Jahre 2015, um die Entscheider zu entlasten, die Anträge von Syrer*innen in einem beschleunigten Schriftverfahren entschieden wurden. Dieses führte dazu, dass ihnen nahezu ausschließlich der Flüchtlingsschutz zugesprochen wurde. Die im Asylpaket II beschlossenen Maßnahmen sahen unter anderem vor, dass alle Antragsteller wieder angehört werden mussten, so dass der pauschale Flüchtlingsstatus für Syrer entfiel. (Vgl. Abdi-Herrle, Sasan 2017/ Pro Asyl 2016a) Zusätzlich beschloss der Bundestag am 1.02.2018, dass die Aussetzung des Familiennachzuges nach Deutschland für Geflüchtete mit subsidiären Schutzstatus um ein weiteres halbes Jahr bis zum 31. Juli 2018 zu verlängern. In diesem Zuge wurde auch beschlossen, dass ab dem 1.08.2018 der Familiennachzug für subsidiär Geschützte auf 1000 nachzugberechtigte Familienangehörige monatlich begrenzt werde. Hierbei gilt weiter die Härtefallregelung nach § 22 des AufenthG, so dass zusätzlich zu dem Kontingent Menschen nach dieser Regelung kommen können. (Vgl. Deutscher Bundestag 2018a)
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass für Geflüchtete aus Syrien, die Erteilung des subsidiären Schutzes statt des Flüchtlingsschutzes in Kombination mit der Aussetzung des Familiennachzuges mit schwerwiegenden Folgen verbunden ist. Demnach konnten all jene, denen nach dem 17. März 2016 der subsidiäre Schutz zuerkannt worden ist, erst frühestens ab dem 01. August 2018 einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen. Erschwerend kommt hinzu, dass nachzugsberechtigte Familienangehörige in einigen Ländern in der Regel viele Monate warten müssen, um von der entsprechenden deutschen Botschaft ein Visum zu erhalten (vgl. Cremer 2016, S.4). Lange Bearbeitungszeiten bei der Visa Vergabe, führten auch dazu, dass das monatliche Kontingent nicht erreicht werden konnte und insgesamt statt 5000 nur 2612 Visa ausgeteilt wurden (vgl. zeit-online 2019). In diesem Zusammenhang weist Pro Asyl daraufhin, dass der subsidiäre Schutz dem GFK-Schutz im Sinne des EU-Gesetzgebers grundsätzlich gleichgestellt werden sollte, aber eine Tendenz bestehe den subsidiären Schutz mit signalkräftigen Formeln wie „eingeschränkter“ oder „geringwertiger“ Schutz zu belegen. Die Aussetzung des Familiennachzuges stehe in Spannung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welches 1987 entschieden hatte, dass die Respektierung der familiären Bindungen nach Art. 6 GG auch Ausländer mit einbeziehe. (Vgl. Pro Asyl 2018)
2.1.5 Verlauf und Entwicklung des Familiennachzuges in Zahlen
In politischen Auseinandersetzungen wurde vielfach diskutiert, in welchem Umfang der Familiennachzug von Geflüchteten in den nächsten Jahren erfolgen werde. So wurde mitunter der drohende Nachzug von Millionen von Menschen beschrieben und demzufolge die Notwendigkeit der Aussetzung des Familiennachzugs als auch deren Verlängerung begründet. Aktuellen Angaben des AZR zu Folge, hielten sich zum 31.12.2017 rund 41.739 Asylberechtigte und 602.539 anerkannte Flüchtlinge auf (vgl. Deutscher Bundestag 2018b, S.3ff.). Darüber hinaus verfügten 192.406 Geflüchtete über einen subsidiären Schutzstatus und 73.367 Personen erhielten aufgrund eines Abschiebeverbots eine Aufenthaltserlaubnis (vgl. a.a.O. S.6ff.). Insgesamt zogen 114 861 Bürger aus Drittstaaten aus familiären Gründen 2017 nach Deutschland. Dieses entspricht einem Anstieg um 8,8% gegenüber dem Vorjahr (vgl. BAMF 2018 a, S.96ff.).
Es ist darauf hinzuweisen, dass in der Zuzugsstatistik des AZR keine Differenzierung des Familiennachzugs von Geflüchteten und anderen Zugewanderten erfolgt. Demzufolge können Rückschlüsse, die den reellen Familiennachzug bei Geflüchteten abschätzen, lediglich unter Einbezug der Nationalität erfolgen. Weiterhin bezieht sich die Bezeichnung Ausländer*in ausschließlich auf Drittstaatsangehörige bzw. nicht-EU-Ausländer*innen. Nach den Angaben des AZR kamen 2016 und 2017 ein hoher Teil des Familiennachzugberechtigten aus den wesentlichen nicht-europäischen Asylherkunftsländern. Dieser Anteil umfasste u.a. 33.389 (+1607 gegenüber 2016) Staatsbürger aus Syrien, 7.481 (+803) aus dem Irak sowie 1.386 (+184) aus dem Iran. Insgesamt zogen 82 197 Personen, davon 45.976 Kinder, zu ausländischen Staatsangehörigen. Bezogen auf diese Werte sind ein hoher Anteil der Zugewanderten, nachziehende Kinder. Anteilig sind 59,1% der syrischen, 57 % der irakischen sowie 28,9 % der iranischen Zuwander*innen Kinder. Nach der Gruppe der Kinder stellte in den letzten Jahren die Gruppe der nachziehenden Ehefrauen quantitativ die zweitgrößte Gruppe beim Nachzug zu Drittstaatsangehörigen dar. So wurden insgesamt 44.855 Aufenthaltserlaubnisse an nachziehende Frauen erteilt, von denen 31.227 der nachziehenden Ehefrauen zu einem Ausländer zogen. Auffällig ist weiterhin, dass der Anteil nachziehender Männer mit 13.126 (11,4%) deutlich geringer ausfiel. (Vgl. BAMF 2018 a, S.96ff. )
Generell ist weiter festzustellen, dass seit 2014 die Anzahl der erteilten Aufenthaltserlaubnisse für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der Familienzusammenführung deutlich gestiegen ist (vgl. Grote 2017, S. 17). Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Angaben nicht ausschließlich den Familiennachzug zu Geflüchteten skizzieren. So verfügen viele Migrationsandere aus Drittstaaten über andere Aufenthaltstitel, die gleichermaßen mit dem Rechtsanspruch auf Familiennachzug einhergehen. Dennoch ist davon auszugehen, dass ein hoher Teil der Familiennachzüge zu Geflüchteten erfolgte. Da die Zahl der Asylanträge deutlich sinkt, eine zunehmende Verteilung des subsidiären Schutzes statt der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus zu beobachten ist und mehr Asylanträge abgelehnt werden, ist von einem vorläufigen Höhepunkt des Familiennachzuges von Geflüchteten auszugehen.
Da keine offiziellen Zuzugsstatistiken des AZR bestehen, die dezidiert den Nachzug der Familienangehörigen von Geflüchteten aufzeigen, wird im Folgenden auf eine Studie von Herbert Brückner (2017) zurückgegriffen, die den möglichen Umfang des Familiennachzuges von Geflüchteten errechnete. Im Namen des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) befragte Brücker mehr als 4700 volljährige Schutzsuchende, die im Zeitraum vom 1.1.2013 bis zum 31.1.2016 nach Deutschland gekommen sind. Die erhobenen Daten geben einen Hinweis über die Familienstruktur von Geflüchteten in Deutschland und ihren im Ausland lebenden Familienangehörigen. Die Erhebungen ergaben, dass 46 % der befragten Geflüchteten verheiratet waren und 43 % über eigene Kinder verfügten. Allerdings migrierten nur 27 % der verheirateten Geflüchteten ohne ihre*n Ehepartner*in nach Deutschland. Darüber hinaus blieben durchschnittlich 27 % der minderjährigen Kinder in den Herkunfts- bzw. Transitländern. Somit läge nach seiner Schätzung die Gesamtzahl der Angehörigen, die ab 2018 nach Deutschland nachziehen dürften (subsidiär Geschützte eingeschlossen), bei etwa 150.000 bis 180.000 Menschen. (Vgl. Brücker 2017, S.16f.)
Bei diesen Zahlen handelt es sich um Schätzungen, die einen möglichen Famili ennachzug Geflüchteter nachzeichnen. Dennoch wird eine Diskrepanz zwischen diesen Daten und den Aussagen von Politikerinnen (vgl. Handelsblatt 2018), die von einem Vielfachen ausgehend vor dem Familiennachzug gewarnt haben, deutlich. In welcher Weise politisch- gesellschaftliche Diskurse hinsichtlich der Themen Flucht und Migration geführt werden, soll in den kommenden Kapiteln näher dargestellt werden.
2.2 Der Familiennachzug und der politisch-gesellschaftliche Diskurs
Um die Mechanismen und Strukturen des gesellschaftlichen Diskurses hinsichtlich des Familiennachzuges von Geflüchteten betrachten zu können, soll im Vorwege aufgezeigt werden, was angelehnt an Michael Foucault unter Diskurs verstanden wird. Generell ist festzuhalten, dass mit dem Diskursbegriff unterschiedliche Bedeutungsverwendungen einhergehen, welche im alltäglichen Sprachgebrauch allgegenwärtig verwendet werden. Aufgrund der Komplexität des Begriffes und des begrenzten Untersuchungsrahmens dieser Arbeit wird ausschließlich der Ansatz von Foucault kurz beschrieben. Nach Foucault (vgl. 1991, S.10f.) stellen Diskurse regelnde und geregelte Äußerungssysteme dar, deren wesentliche Charakteristik sich durch Ein- und Ausschluss auszeichnet. Demzufolge werden bestimmte Äußerungen und Statements zugelassen und andere hingegen verworfen oder verkürzt. So enthalten Diskurse sowohl alles was zu einer bestimmten Zeit geäußert wird, als auch „die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird, etwa Verleugnungsstrategien, Relativierungsstrategien, Enttabuisierungsstrategien etc.“ (Jäger 2006, S. 85 f.). In dieser Logik können Diskurse als wandelbar und als Ergebnis vorausgehender historischer Entwicklungen und Ereignisse betrachtet werden. „Diskurse sprechen nicht einfach nur über ihre Gegenstande; sie konstituieren diese zuallererst als soziale Wirklichkeit. Darin liegt ihre Wirkmächtigkeit (oder in Foucaults Worten: ihre „bedrohliche Materialität“)“ (Blatter et.al. 2018, S.124).
Allerdings sind Diskurse nicht nur auf sprachliche Kommunikationen zu reduzieren, da diskursive Praktiken auch mit Handlungen und Verhaltensweisen einhergehen (vgl. Grönheim 2018, S. 56). Indem Diskurse Wahrheiten formen und Wissen produzieren, können diese nach Foucault auch als wesentliche Konstitutionsbedingung von Macht betrachtet werden (vgl. Foucault 1991, S.13f.). Basierend auf diesem Begriffsverständnis soll im Folgenden der Diskurs um muslimische Familien sowie die Wirkungsweise rhetorischer Mittel hinsichtlich des Familiennachzuges analysiert und deren Strukturen und Mechanismen herausgearbeitet werden. Einleitend wird hierbei zunächst die Entwicklung des politisch-gesellschaftlichen Diskurses herausgestellt.
2.2.1 Migration: Entwicklung des politisch- gesellschaftlichen Diskurses
Migrationspolitische Diskurse und die damit verbundene Frage der nationalen Zugehörigkeit sind zu unterschiedlichen Dekaden und Zeitpunkten in Deutschland stets gegenwärtig gewesen. Innerhalb dieser Debatten, werden durchgehend auch ablehnende sowie skeptische Haltungen gegenüber dem Thema Migration vertreten. So führte der 1973 ausgerufene Anwerbestopp für Gastarbeiter* innen zu dem Effekt, dass der Familiennachzug sich erhöhte und in der Konsequenz ein zunehmender Verbleib der Gastarbeiter*innen resultierte. Daraufhin spitzten sich die ideologisch geprägten Diskussionen um das Thema Zuwanderung weiter zu, so dass die Abwehr von Immigration vermehrt gefordert wurde (vgl. Oberndörfer 2016, S.20).
Ähnlich stellte es sich auch Anfang der 1990er Jahre dar, als die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland zunehmend stieg. In der Folge war der Grundtenor der gesellschaftlichen Debatte negativ und die Zuwanderung und das Entstehen multikultureller Tendenzen wurde als Bedrohung wahrgenommen. Dieses äußerte sich u.a. darin, dass Geflüchtete mit kriminellen Handlungen assoziiert und die Folgen der Einwanderung in einer Semantik der Gefahr dargestellt wurden (vgl. Demren/ Ruhrmann 2000, S.72). So ging die Ablehnung von Zuwanderung auch mit massiven gewalttätigen Übergriffen gegenüber Geflüchteten einher. Trotz Widerständen und Protesten gegen diese ablehnende Haltungen, wurden auf politischer Ebene 1993 Restriktionen beschlossen, die das Asylrecht und somit die Migration in einem hohen Maße einschränkten (vgl. Jäger/Wamper 2017, S.26).
Im Zuge der erhöhten Fluchtbewegungen im Sommer 2015, bei der hunderttausende Flüchtende (2015: 476.649 und 2016: 745.545 Asylanträge in Deutschland) nach Europa migrierten (BAMF 2018 a, S.13), rückten die Diskurse um Migration und Flucht auf vielen Ebenen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten. Innerhalb dieser mehrten sich die Stimmen, die die Politik der Bundesregierung als „flüchtlingsfreundlich“ und „deutschlandfeindlich“ betrachteten und sich massiv gegen die weitere Migration Geflüchteter einsetzten (vgl. Fehser 2017, 55f.). Dieses wurde bspw. durch Demonstrationen der Vereinigung Pegida8 deutlich, in denen Migration insbesondere aus muslimischen Ländern als Bedrohung der „eigenen“ Kultur dargestellt wird (vgl. Grönheim 2018, S.367). Weiterhin sind die Stärkung und Präsenz rechtspopulistischer Positionen, wie sie durch die AfD und in Teilen auch durch die CSU vertreten werden, im politischen-medialen Diskursen immer deutlicher zu beobachten (vgl. Hemmelmann et.al 2016, S.32f.).
Gleichzeitig stieg auch die Anzahl von Gewalttaten gegenüber Geflüchteten und ihren Unterkünfte stark an. Dahingehend bestehen in vielen Aspekten Parallelen zu den Entwicklungen in den 1990er Jahren. Es ist diesbezüglich aber hervorzuheben, dass die politischen Voraussetzungen andere waren. Gingen mit der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren noch massive ideologisch überlieferte Bremskräfte gegen „das Fremde“ einher (vgl. Oberndorfer 2016, S.32), herrschte vor 2015 hingegen eine wesentlich offenere Haltung gegenüber Zuwanderung. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts veränderte sich der politisch- gesellschaftliche Diskurs, so dass zunehmend eine Anerkennung der Migrationstatsache festzustellen war (vgl. Castro Varela/ Mecheril 2010, S.24f.). So wird die Aufnahme Geflüchteter im Spätsommer 2015 innerhalb der Gesellschaft sehr unterschiedlich bewertet. Neben dem Erstarken des Rechtspopulismus, gab es viele Stimmen in den Medien und der Politik, die den aufkeimenden Rassismus sehr kritisch bewerteten und sich hiervon distanzierten. Weite Teile der Bevölkerung setzten sich für die Aufnahme von Geflüchteten ein und engagierten sich ehrenamtlich. Die Begriffe „Refugees welcome“ und Willkommenskultur stehen stellvertretend für die Stimmungslage zu diesem Zeitpunkt. (Vgl. Jäger /Wamper 2017, S.33)
Als Wendepunkt dieser Zeit können allerdings die sexuellen Übergriffe an Frauen in der Silvesternacht 2015/ 2016 betrachtet werden. Da die Hauptverdächtigten Geflüchtete und Migrationsandere waren, führte die mediale Berichterstattung über diese Ereignisse im Zusammenhang mit einer steigenden Zahl Geflüchteter zur Veränderung der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Grundhaltung. In diesem Zusammenhang kann zwar nicht von einem homogenen gesellschaftlichen Meinungsbild gesprochen werden, allerdings führten diese Umstände dazu, dass die Debatte um begrenzte Kapazitäten bei der Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen verschärft geführt wurde. (Vgl. Grönheim 2018, S.368f.) In Verbindung mit den erfolgten Terroranschlägen in Europa wuchs auch die Forderung nach einer schnelleren Ausweisung straffälliger „Ausländer*innen“ (vgl. Janisch 2016). So wurden auf Grundlage dieser Geschehnisse von der Politik mehrere Restriktionen in der Asylpolitik wie bspw. die schnellere Abschiebung von Asylbewerber*innen im Asylpaket II beschlossen (vgl. Baier 2017). Die Aussetzung des Familiennachzuges sowie die zunehmende Abwertung und Ablehnung des Islams müssen dementsprechend in diesen Kontext verortet werden. Aus diesem Grunde soll im folgenden Kapitel der hegemoniale Diskurs um den Islam und das damit einhergehende Bild muslimischer Familien näher beschrieben werden.
2.2.2 Zur Konstruktion von Feindbildern: der hegemoniale Diskurs um muslimische Familien
Bei der Betrachtung der politisch gesellschaftlichen Rahmungen, die maßgebend die Lebensbedingungen Geflüchteter beeinflussen, nimmt der Diskurs um den Islam und die damit zusammenhängenden Wertungen gegenüber Geflüchteten aus muslimischen Ländern eine dominante Rolle ein. Der Alteritätsdiskurs über den Islam und die damit zusammenhängenden dichotomen Strukturen sind in Deutschland kein ausschließliches Phänomen der aktuellen Migrationsbewegungen, sondern bereits zu früheren Zeitpunkten in öffentlichen Debatten existent (vgl. Konrad 2010). Konstant ist festzustellen, dass Muslime mit dem Scheitern von Integration in Verbindung gebracht werden. Im Vordergrund steht hierbei oftmals die Unvereinbarkeit von Kultur und Glaube der muslimischen Migrationsanderen mit den Werten der Aufnahmegesellschaft in Deutschland (vgl. Hösch 2018, S.276).
In aktuellen Diskursen fällt auf, dass auch in der Berichterstattung über die Familienverhältnisse von Migrationsanderen dichotome und hegemoniale Darstellungen bestehen. Hierbei werden insbesondere Familien mit muslimischem Hintergrund in Relation zur „deutschen“ Mehrheitsbevölkerung abweichende Einstellungen unterstellt. Yildiz (vgl. 2014, S.60) stellt fest, dass religiöse Differenz diesbezüglich als entscheidende Trennlinie fungiert, so dass im Abgleich mit der Mehrheitsbevölkerung „problematische“ Differenzen herausgestellt und Muslime als ethnisch-kulturell anders deklariert werden . Auch Riegel und Stauber (vgl. 2018, S.40) weisen darauf hin, dass in öffentlichen Debatten unveränderliche, essentialisierende Deutungen hervorgebracht werden, in denen verstärkt intersektionell verschränkte Vorstellungen von Ethnizität und Geschlecht enthalten sind. Diese Argumentationslinien werden insbesondere auch in der aktuellen Debatte um den Nachzug von Familien sehr deutlich. So zieht bspw. Ruud Koopmans (2018) Parallelen zwischen dem momentanen Familiennachzug Geflüchteter und dem Familiennachzug von Gastarbeiter*innen vor 50 Jahren.
Die ersten Gastarbeiter, die vor 50 Jahren nach Deutschland kamen, lebten hier eher modern und fanden Anschluss an die hiesige Bevölkerung. Als dann die Familien nachzogen und sich damit Gemeinschaften bildeten, wurden aus den modernen Männern plötzlich konservative Familienväter“, (Koopman zit. n. Welt 2018a)
In diesem Zusammenhang hebt Koopmans weiter hervor, dass eine soziale Segregation erst mit dem Nachzug der Familien zu beobachten war. Ursächlich hierfür seien nach Ansicht des Soziologen, tradierte Rollenbilder und die vergleichsweise geringe Erwerbsbeteiligung muslimischer Frauen. Aus diesen Gründen werde die Assimilation jener Familien an die „Mehrheitsgesellschaft“ in einem hohen Maße erschwert (vgl. ebd.).
Diese Aussagen verdeutlichen, dass muslimische Familien überwiegend als patriarchalisch strukturiert präsentiert und insbesondere Frauen hierbei als passiv, unterdrückt und schwach dargestellt werden. Demgegenüber werden männliche Muslime als gewalttätig und gefährlich imaginiert (vgl. Kuhn 2015, S.59f.).
Nach Yildiz (vgl. 2014, S.62) wird diesbezüglich auch der Eindruck erzeugt, dass Familien oftmals nicht über die notwendigen Ressourcen verfügen, um Kindern bei der Verortung in der Gesellschaft helfen zu können. In diesem Zusammenhang werden traditionelle Werte und Erziehungsziele mit Rückständigkeit verknüpft und deren Implementierung in scheinbar modernen Erziehungssettings als hinderlich und dysfunktional herausgestellt (vgl. Terkessidis 2004 zit.n. Yildiz 2014, S.62).
Konträr zu diesen Darstellungen wird schlussendlich ein Bild deutscher Familien gegenübergestellt, welches hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses als modern und gleichberechtigt erscheint (vgl. Baros/Baumann 2016, S.266). Somit werden patriarchale Geschlechterverhältnisse allein in Familien von Migrationsanderen, insbesondere in muslimischen Familien verortet (vgl. Yazici 2011 S.34). Neben den patriarchalen Strukturen und den Rollenaufteilungen wird in den gesellschaftlichen Debatten, wie Necla Kelek bspw. im Kontext des Familiennachzuges beschreibt, die Separation muslimischer Familien thematisiert.
Familie heißt in orientalisch-muslimischen Gesellschaften die Großfamilie, die Sippe, die patriarchalisch organisiert ist. Mit dem Familiennachzug importieren wir ein islamisches Familiensystem, das erst zu Parallelgesellschaften und Integrationsproblemen führt. Niemand braucht sich mehr anzupassen, man kann unter sich bleiben und Traditionen wie die Kinderehe, Frauenunterdrückung oder Gebärzwang weiterleben.
(Kelek zit. n. Welt 2017)
Zuschreibungen über die Situation von muslimischen Familien wie sie Kelek oder Koopman vornehmen, enthalten kulturrassistische Deutungen und identifizieren Mus- lim*innen als die Anderen. Im Hinblick auf den Familiennachzug von Schutzberechtigten, wird der Islam und die damit verbundenen Implikationen als dysfunktional und hinderlich bei der Integration von Geflüchteten herausgestellt. Gleichzeitig wird oftmals die Separation von Muslim*innen, wie im folgenden Artikel des Spiegels zu erkennen ist, mit Bedrohungen und Gefahren assoziiert.
Erstarrt in den Traditionen ihrer anatolischen Herkunft bestehen archaisch organisierte Familienverbände auf der Einhaltung von Sitten und Gebräuchen, [. ..].Das Beharren auf der Muttersprache, auf machistischen Familienstrukturen, die Selbstgerechtigkeit, mit der Eltern das Leben ihrer Töchter beherrschen und oft zerstören, ja selbst die vergleichsweise harmlose religiöse Sitte, Haare in Kopftücher einzupacken:
All das ist eine Herausforderung für die freiheitliche Grundordnung der bundesdeutschen Gesellschaft. (Spiegel 42/2009 S.45)
Hierbei ist festzuhalten, dass Muslim*innen, insbesondere türkische Gastarbei- ter*innen im Hinblick auf ihre ländliche Herkunft zunächst nur als rückschrittig und traditionell beschrieben wurden. Nach den Anschlägen vom 11. September veränderte sich deren mediale und politische Darstellung in einem hohen Maße. In der Folge wurden Muslime nun auch verstärkt mit Krieg, Bedrohung und Terrorismus in Verbindung gebracht (vgl. Attia 2009, S.69), welches bspw. in einer Studie der Bertelmann Stiftung zum Ausdruck kommt, nach der sich 57 % der Deutschen vom Islam bedroht fühlen (vgl. Shooman 2014, S.39). Dieser Zeitpunkt markiert auch eine neue Positionierung und symbolische Stabilisierung der westlichen bzw. europäischchristlichen Werte und Traditionen (vgl. Mecheril 2010, S.58 ).
In Zeiten transnationaler Restrukturierungen können diese Zuschreibungsmechanismen so auch als Suche nationaler Identität und Zusammengehörigkeit interpretiert werden. Scheibelhofer weist dem Orient und dem Islam eine tragende Rolle zu. „Wenn die eigene Leitkultur schon nicht durch Konsens zwischen öffentlichen Intellektuellen gefunden werden kann, so scheint »der Moslem« nun doch - zumindest ad negativo klarzustellen, was »wir« ganz bestimmt nicht sind“ (Scheibelhofer 2008, S.49). Demnach stehen Implikationen westlicher Gesellschaften, die u.a. mit Moderne, Individualismus, Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Freiheit einhergehen, Assoziationen muslimischer und orientalischen Familien gegenüber, welche im Gegensatz dazu u.a. mit Rückständigkeit, Tradition, Gewalt, Despotie, Kollektivismus und Loyalität gegenüber der Familie verbunden werden (vgl. Schulze 2007, S.49 / Geisen et. al. 2013, S.1). Bezogen auf die Darstellung muslimischer Familien erfolgt demzufolge mit Hilfe kulturalisierender und ethnisierender Zuweisungen eine binäre Spaltung (vgl. Hall 2000, S. 13) in traditionelle und moderne Familien, die mit den Bildern des Orients und des Okzidents verknüpft werden.
Auffällig ist, dass trotz der Heterogenität der muslimischen Bevölkerung, oft stark verallgemeinernde Vorstellungen über die 3,8 bis 4,3 Millionen in Deutschland lebenden Muslime bestehen und Kategorisierungsprozesse zwar entlang religiöser Merkmale verlaufen, allerdings Zuweisungen ebenso aufgrund des Aussehens, des Namens oder des Akzentes erfolgen. Diese kollektiven Zuschreibungen haben zur Folge, dass Menschen, auch wenn sie nicht muslimischen Glaubens sind, als solche markiert werden, da sie bestimmte äußere Merkmale erfüllen (vgl. Kuhn 2015, S.23f.). Entlang dieser kulturalisierenden und essentialiserenden Zuordnungsprozesse kommt es zur Reproduktion und Festigung von Privilegien, gesellschaftlichen Hierarchien und Ungleichverhältnissen, so dass der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen erschwert und limitiert sein kann (vgl. Yildiz 2014, S.61). Riegel und Stauber heben hervor, dass die bestehenden Familienbilder von Muslim*innen insbesondere dann politisch instrumentalisiert werden:
... wenn im Kontext von Einwanderungspolitik bzw. im Ausländer- und Asylrecht mit Bezug auf von Nation und Familie Aufenthaltsfragen oder Familiennachzug geregelt und damit gesellschaftlich Ein- und Ausschluss hergestellt wird. (Riegel/Stauber2018, S.39)
Nach Kuhn (vgl.2015, S.35) erfolgen jene dichotomen Zuweisungen auch, um vor sozialen Widersprüchen abzulenken und Überwachungssysteme ausbauen zu können. Bestehende Bilder von Muslim*innen werden demnach auch aufgrund geopolitischer Interessen und den damit einhergehenden kriegerischen Auseinandersetzungen eingesetzt.
Zurückzuführen ist diese Dialektik nach Edward Said auf frühere koloniale Weltbilder und Hierarchien. Said setzte sich mit den kolonialen Strukturen und dem Verhältnis zwischen Orient und Okzident auseinander und prägte den Begriff des Orientalismus. Anhand dieses Begriffes soll die alltägliche Konstruktion und Projektion des Orients in der “europäischen“ Gesellschaft aufgezeigt werden (vgl. Said 2014, S.11).
Demnach stelle jenes Konstrukt einen geographisch und kulturell klar bestimmbaren Raum dar, bei dem die sogenannten „Oriental *innen“ als konträr zu Europäer *innen und damit als “die Anderen“ erscheinen (vgl. Castro Varela/ Dhawan 2015, S.96f.). Bestehende Imaginationen über den Orient und den Islam sind eng mit einer möglichen Bedrohung Deutschlands und Europas verknüpft. Die Ursprünge dieser Wahrnehmungen sind auf die Expansion des Osmanischen Reiches im Mittelalter zurückzuführen. Um der Ausweitung des Osmanischen Reiches entgegenzuwirken, dienten Berichte über den Orient dazu, direkte Macht auszuüben und Gewalt zu rechtfertigen (vgl. Attia 2009, S.72). Diese Darstellungen festigten die Hauptaussage, dass der Islam rückständig und gefährlich sei. Auf dieser Grundlage wurde die Vorherrschaft über den nahöstlichen Raum legitimiert (vgl. Hierl 2012, S. 23).
Ähnliche Mechanismen sind auch nach dem Ende des kolonialen Zeitalters gesellschaftlich stark verankert und weiter vorzufinden (ebd.). Hierbei wird dieses weit verbreitete gesellschaftliche Wissensrepertoire im Umgang mit dem Orient laufend durch aktuelle kulturalisierende und stigmatisierende Zuordnungsprozesse fortgeführt. Aufgrund der festen Implementierung in der gesellschaftlichen Normalität und der kontinuierlichen Reproduktion dieser Dichotomien, entwickelte sich dieses Wissen zu einer Ansammlung angenommener, unabänderlicher Wahrheiten und Handlungsanweisungen (vgl. Yildiz 2014, S.62f.).
Demzufolge kann diese kulturrassistische Differenzierung als eine spezifische institutionalisierte Praxis zusammengefasst werden. „So wird der Unterschied bzw. der Abstand naturalisiert: Die Anderen werden als noch nicht reif für die Freiheit und Gleichheit betrachtet, sie gelten als unzivilisiert, faul, grausam, kindlich etc.“ (Ter- kessidis 2004, S 97). Unverhältnismäßigkeiten und ungleiche Teilhabechancen werden auf Grundlage dieser rassistischen Vorprägungen oft als rechtmäßig empfunden. Ein wesentliches Element bei der Reproduzierung der hegemonialen Machtverhältnisse ist die Weitergabe von Wissensbeständen mittels Sprache (vgl. Foucault 1981, S.74).
In welcher Weise bestimmte sprachliche Rahmungen den hegemonialen Diskurs um die Zuwanderung von Geflüchteten beeinflussen, soll im nächsten Kapitel untersucht werden.
2.2.3 Zur Wirkungsweise rhetorischer Mittel in der Debatte um den Zuzug von Geflüchteten
Angesichts der beschriebenen Konstruktionen hegemonialer Diskurse und der damit einhergehenden Machtstrukturen, stellt sich die Frage, welche dezidierten Prozesse und Mechanismen zur Reproduktion und Verfestigung dieser diskursiven Praktiken führen. Wie kommt es also dazu, dass große Teile der Bevölkerung oftmals sehr konkrete Vorstellungen und Einstellungen über Geflüchtete haben, obwohl nur wenige Menschen in der unmittelbaren Umgebung von Asylbewerber*innen leben bzw. direkten Kontakt zu Geflüchteten haben.
Eine zentrale Rolle bei der politischen Meinungsbildung nehmen nach wissenschaftlichen Untersuchungen sprachliche Strukturen ein. Demnach nimmt Sprache bei der Wahrnehmung der Umwelt sowie anderer Menschen einen hohen Einfluss ein und wirkt sich unmittelbar auf die Verhaltensweisen, wie z.B. soziale Interaktionen oder Körperbewegungen aus (vgl. Wehling 2016 b, S.20f.). Die aus der Hirnforschung sowie der kognitiven Linguistik entlehnten Auffassungen von „assoziativen Netzwerken, kognitiven Schemata oder auch Frames genannt, können als Erklärungsansätze herangezogen werden und aufzeigen warum bestimmte Implikationen über ein Thema dieses dominieren. Insbesondere der Begriff «Frames», was übersetzt so viel wie Rahmungen oder Rahmen bedeutet, konkretisiert diese Vorstellungen. So lassen sich Frames als symbolische Deutungsmuster beschreiben, welche zur Sinngebung und Bewertung herangezogen werden können (vgl. Dahinden 2006, S. 14).
Die Linguisten George Lakoff und Elisabeth Wehling (vgl. 2008, S.73) differenzieren in ihrem konstruktivistisch orientierten Framing-Konzept zwischen zwei unterschiedlichen Arten von Framing. Als Surface Frames bezeichnen sie, jene mit denen Menschen die Bedeutung einzelner Worte und Sätze erfassen. Demnach aktivieren Worte, sobald sie wahrgenommen werden, einen Frame, um dem Gesagtem einen Sinn zuschreiben zu können. Frames sind inhaltlich und strukturell so konzipiert, dass sie auf den eigenen Erfahrungen mit der Umwelt beruhen. Dieses schließt neben physischen Erfahrungen wie bspw. Bewegungsabläufe, Zeit, Raum und Emotionen auch sprachliche und kulturelle mit ein (vgl. Wehling 2016 b, S. 28). Nach diesem Konzept von Framing sind jene Surface Frames in sogn. Deep Seated Frames eingebunden (vgl. Lakoff /Wehling 2008, S. 73).
[...]
1 Subsidiärer Schutz ist eine Schutzform für Geflüchtete (§4 Abs. 1 AsylG), die erteilt wird, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch Asyl gewährt werden können und im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Menschen, die diesen Schutz erhalten, werden subsidiär Geschützte genannt.
2 Aus diesem Grunde wird in dieser Masterarbeit stattdessen vorwiegend der Begriff „Migrationsandere“ eingesetzt, der nach Paul Mecheril (2010, S. 17) darauf hinweist, dass die Differenzierung von Migrant*in und Nicht-Migrant*in als Konstruktion und relationales Phänomen der Migrationsgesellschaft zu verstehen ist. Mit der Verwendung des Terminus „Migrationsandere“ soll die mit dieser Relation einhergehende Festschreibung und Pauschalisierung deutlich anzeigt und gleichzeitig zur Reflexion des Konstruktionsprozesses von Andersheit aufgefordert werden (ebd.).
3 Das Wort Flüchtling verfügt über das Suffix Ling, welches als Diminutiv fungiert und etwas verkleinert und abwertet (vgl. Wehling 2016 a). Stattdessen wird auf den Terminus Geflüchtete zurückgegriffen.
4 UNHCR steht für The UN Refugee Agency, was sich mit Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen übersetzen lässt.
5 Das EURODAC (European Dactyloscopy) ist ein Fingerabdruck-Identifizierungssystem, welches für den Abgleich der Fingerabdruckdaten aller Asylbewerber sowie von bestimmten Drittstaatsangehörigen eingesetzt wird. Hierbei soll verhindern werden, dass Personen in mehreren EU- Mitgliedstaaten Asyl beantragen können.
6 Eine Auflistung der sicheren Drittstaaten findet sich in § 26a Abs. 2 i. V. m. Anlage I zum Asylgesetz.
7 EMRK steht für die Europäische Menschrechtskonvention. Uber ihre Umsetzung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
8 Pegida, kurz für "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandesi'st eine nationalkonservative, islam- und fremdenfeindliche Organisation.(vgl. Fehser 2017, 55f.)
- Arbeit zitieren
- Helge Schumacher (Autor:in), 2019, Zur Relevanz des Familiennachzuges bei der Integration von Geflüchteten in das Bildungssystem, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1012566
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