Leseprobe
II. Inhaltsverzeichnis
I. Abstract
II. Inhaltsverzeichnis
III. Abbildungsverzeichnis
V. Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Begriff der Führung in Theorie und Praxis
3. Relevante neurowissenschaftliche Kenntnisse für neue Führungskonzepte
3.1. Das Emotionssystem
3.2. Das Belohnungssystem
3.3. Das Gedächtnissystem
3.4. Das Entscheidungssystem
3.5. Zusammenfassung
4. Bisherige Ansätze des Neuroleadership
4.1. Die Konsistenztheorie nach Grawe
4.2. Neuroleadership nach Rock
4.3. Neuroleadership nach Elger
4.4. Neuroleadership nach Peters und Ghadiri
4.5. Kritik an Neuroleadership
4.6. Zusammenfassung
5. Überlegungen zur Applikabilität neurowissenschaftlicher Erkenntnisse im Führungsprozess?
5.1. Faktor Persönlichkeit
5.1.1. Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit
5.1.2. Sechs psychoneurale Grundsysteme
5.1.3. Persönlichkeitsmerkmale, -typologie und -diagnostik der Führungskraft
5.1.3.1. Persönlichkeitsmerkmale der Führungskraft
5.1.3.2. Persönlichkeitstypologie der Führungskraft
5.1.3.3. Persönlichkeitsdiagnostik der Führungskraft
5.2. Faktor Beziehungsmanagement
5.3. Faktor Motivation
5.4. Faktor Stress
5.5. Zusammenfassung
6. Resümee
7. Literaturverzeichnis
I. Abstract
Führungsstile und -prozesse unterliegen seit jeher zahlreichen Veränderungen, ausgelöst durch unterschiedliche Ursachen wie gesellschaftspolitische Umgestaltungen, kulturhistorische Veränderungen, technischen Wandel aber auch durch wirtschaftswissenschaftliche oder medizinische Studien und Ergebnisse. Gleichzeitig wirkt sich im Unternehmenskontext Führungsverhalten direkt auf Mitarbeiter1 sowie deren Verhalten aus und somit auf die daraus resultierenden Ergebnisse. Dieses belegen verschiedene Studien, allen voran die Gallup Studie, die seit 2001 dazu regelmäßig in Deutschland erhoben wird.
Ausgelöst durch neue bildgebende Verfahren haben die kognitiven Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entwicklung genommen. Dabei wurden zahlreiche neue Erkenntnisse gewonnen, die sich auch mit den Grundlagen und Funktionsweisen menschlichen Verhaltens beschäftigen. Führung impliziert grundsätzlich Verhaltensänderung und daher ist es sinnvoll, dass sich die Führungslehre mit diesen neuen Erkenntnissen befasst.
Im Zuge dieser Arbeit werden in der Einleitung wichtige Ergebnisse zum Thema Führung des Gallup Engagement Index 2018 und 2019 dargestellt. Danach werden verschiedene Führungsstile und Führungskonzeptionen aufgezeigt. Anschließend werden die vier Gehirnsysteme beschrieben, die maßgeblich für Führung und Motivation verantwortlich sind. Es folgt die Beschreibung der neurowissenschaftlich begründeten Führungskonzepte von Klaus Grawe, David Rock, Christian E. Elger sowie Theo Peters und Argang Ghadiri. Im letzten Abschnitt wird zunächst der Faktor Persönlichkeit beleuchtet, der meines Erachtens bisher in den neurowissenschaftlichen Führungskonzepten zu wenig Beachtung findet. Zudem wird anhand der drei Faktoren Beziehungsmanagement, Motivation und Stress deren neurowissenschaftliche Bedeutung für die Führungspraxis aufgezeigt.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, wichtige Erkenntnisse der kognitiven Neurowissenschaften für den Führungsprozess aufzuzeigen und darzustellen, was Führungskräfte daraus für die eigene Führungspraxis lernen und ableiten können.
III. Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Engagement Index im Zeitverlauf (2001-2019)
Abbildung 2: Emotionale Bindung zahlt sich in barer Münze aus
Abbildung 3: Ausgewählte Führungstheorien
Abbildung 4: Regelkreislaufmodell der Motivation
Abbildung 5: Gedächtnistypen
Abbildung 6: Überblick verschiedener Konzepte zum Neuroleadership
Abbildung 7: Sechs psychoneurale Grundsysteme und beispielhafte Merkmale
Abbildung 8: Typologie der Persönlichkeit aufgrund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse
Abbildung 9: Selbstverstärkender Regelkreis
V. Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abbildung
ACTH adrenocorticotropes Hormon
AKTIV-Modell Akronym für: Analyse, Konsistenzprofil, Transformation, Inkonsistenz, Vermeidung und Vereinbarung
BLA basolateraler Komplex
bzw. beziehungsweise
CRF Corticotropin-Releasing-Faktor
CRH Corticotropin-Releasing Hormone
DISG Akronym für: Dominant, Initiativ, Stetig und Gewissenhaft
ebd. ebenda
EEG Elektroenzephalographie
fMRT funktionelle Magnetresonanztomographie
HHNA Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse
Hrsg. Herausgeber
KMU Kleine und mittlere Unternehmen
MBTI Akronym für: Myers-Briggs-Typenindikator
MPA Akronym für: Motivations-Potential-Analyse
OFC orbito frontaler Cortex
P. Page
PERFEKT-Modell Akronym für: Potentialentfaltung bei Mitarbeitern, Ermutigung zu neuen Lösungen, Rückmeldung, Freiheiten einräumen, emotionale Führung, Kommunikation auf Augenhöhe und transparentes Handeln
S. Seite
SCARF Akronym für: Status, Certainty, Autonomy, Relatedness, Fairness
SNA Sympathikus-Nebennierenmark-Achse
Tab. Tabelle
Vgl. Vergleiche
VTA ventrales tegmentales Areal
1. Einleitung
„Unser Kapital sind unsere Mitarbeiter“, „Unsere Mitarbeiter fühlen sich wohl und arbeiten gerne bei uns“ oder „Ich wüsste nicht, was ich ohne unsere Mitarbeiter machen sollte“ – so oder so ähnlich klingen Führungskräfte und Unternehmer, die nach der Wichtigkeit ihrer Mitarbeiter befragt werden.
Doch die Realität in den deutschen Unternehmen sieht oftmals anders aus. Der Gallup Engagement Index fördert dies in umfangreichen Studien seit 2001 jährlich fortlaufend und für jedermann sichtbar zu Tage. Hierbei geht es vor allem um das Engagement von Mitarbeitern am Unternehmen sowie deren Motivation bei der Arbeit.2
Der Engagement Index (siehe Abb. 1) zeigt für 2019 beispielhaft auf, dass nur 15 % aller Mitarbeiter über eine hohe Bindung an ihren Arbeitgeber verfügen. 69 % der Mitarbeiter verfügen über eine geringe Bindung zum Arbeitgeber und 16 % der Mitarbeiter haben bereits komplett mit ihrem Arbeitgeber gebrochen – sie haben somit innerlich bereits gekündigt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Engagement Index im Zeitverlauf (2001-2019)
(Quelle: NINK, M. (2019), S. 30)
In der Studie „Deutschland führt?!“ von 2015 waren über 90 % aller befragten Teilnehmer in Deutschland überzeugt, dass gute Führungskräfte die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens deutlich verbessern. 93 % aller Befragten meinten sogar, dass im „War of Talents“ gute Führungskräfte die Arbeitgeberattraktivität steigern und somit für ihr Unternehmen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil erlangen können.3
Bestätigt wird dies in einer weiteren Studie von 2016. Die Ergebnisse (siehe Abb. 2) von schlechter Führung sind für die Unternehmen verhängnisvoll, denn Mitarbeiter, die sich nicht an ihren Arbeitgeber und somit auch nicht an ihre Führungskraft gebunden fühlen, zeigen eine geringere Eigeninitiative, weniger Leistungsbereitschaft und kaum Verantwortungsbewusstsein.4
Im Umkehrschluss führt eine hohe Bindung an das Unternehmen und die Führungskraft zu einer deutlich höheren Produktivität und auch Rentabilität bei gleichzeitiger Reduktion unter anderem von Qualitätsmängeln, Abwesenheit, Fluktuation und Arbeitsunfällen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Emotionale Bindung zahlt sich in barer Münze aus
(Quelle: NINK, M. (2018), S. 25)
Bereits 2007 wies Gallup in einer weiteren Untersuchung nach, dass Führungskräfte etwa 75 % der Gründe, die für eine ungewollte Fluktuation der Mitarbeiter genannt werden, direkt beeinflussen können.5
Als Ergebnis dieser Studien lässt sich festhalten, dass die Führungsleistung von Führungskräften in Deutschland als nicht ausreichend angesehen werden kann.
Besonders auffällig ist, dass es laut Gallup Engagement Index 2018 einen großen Unterschied zwischen der Selbstwahrnehmung der Führungskräfte und der Fremdeinschätzung durch die Mitarbeiter gibt: 97 % der befragten Führungskräfte hielten sich demnach für gute Führungskräfte. Umgekehrt antworteten Mitarbeiter in einer Gallup Studie von 2015 zu 69 % positiv auf die Frage: „Hatten Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn schon einmal eine schlechte Führungskraft?“6
Angesichts des zeitlichen Verlaufs der Studien von 2001-2019 lässt sich zudem erkennen, dass trotz vorliegender Daten und umfangreicher Informationen sowie deren Ableitungen aus zahlreichen Studien und möglichen Änderungen in den Unternehmen bis heute kaum Veränderungen bzw. Besserungen im Führungsprozess erzielt werden konnten. Die Ergebnisse der Studien in Bezug auf Führung bleiben im oben genannten zeitlichen Verlauf nahezu gleich schlecht.
Der volkswirtschaftliche Schaden durch Mitarbeiter, die keinerlei Bindung mehr an das Unternehmen haben, belief sich hierbei laut Gallup Engagement Index 2019 auf eine geschätzte Summe zwischen circa 105 und 120 Milliarden Euro pro Jahr.7
Laut Gerhard Roth beschreiben die Studienergebnisse exakt, was Mitarbeiter von ihren Führungskräften und Unternehmen erwarten: „eine hervorragende Führungskraft, die es versteht, eine emotionale und vertrauensvolle Bindung zwischen Mitarbeitern und Unternehmen herzustellen“ (Roth, G. 2019, S. 364). Darüber hinaus wünschen sich Mitarbeiter Arbeitsinhalte, die sie gut ausführen können, die sie fordern, abwechslungsreich sind und als sinnvoll erachtet werden. Um die individuellen Potentiale der Mitarbeiter vollumfänglich auszuschöpfen und die Mitarbeiter dabei individuell zu fördern, bedarf es einer hervorragenden Führungskraft.8
Es lässt sich somit ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Führungskräften und deren eingesetzten Führungspraktiken auf der einen Seite sowie den Auswirkungen auf die Arbeitsergebnisse, Zufriedenheit und Bindung der Mitarbeiter an die Unternehmen auf der anderen Seite herleiten.
Was aber können die Gründe für diese Ergebnisse sein? Kommen Führungskräfte unabsichtlich ihren Führungsaufgaben nicht nach oder bleiben Führungserfolge aus, da die Führungspersönlichkeit und die Führungsposition nicht passgenau aufeinander abgestimmt sind?9 Viele Vorgesetzte geben an, vielfältige Seminare für Führungskräfte besucht zu haben. Jedoch bleiben die gewünschten Erfolge hierzu aus.10
Uwe Schirmer und Sabine Woydt machen zwei Faktoren für Führungserfolg aus: Die strukturelle Führung meint Rahmenbedingungen, die das Verhalten der Mitarbeiter ohne direkte Einflussmöglichkeit der Führungskraft beschreiben.11 Dazu zählt die große Zunahme an Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit in den sich immer rasanter verändernden Märkten. Eine nie dagewesene Dynamik an Entwicklungsprozessen stellen somit nicht nur Mitarbeiter, sondern auch Führungskräfte vor enorme Herausforderungen. Die personelle Führung wird hingegen als unmittelbarer, interaktioneller und bewusst ausgeübter Einflussversuch des Führenden beschrieben. Hierzu zählen unter anderem Tätigkeiten wie anweisen, motivieren und kontrollieren, mit dem Ziel, eine gewünschte Verhaltensänderung beim Mitarbeiter zu bewirken.12 Führungskräfte prägen damit aber nicht nur das Verhältnis zu einzelnen Mitarbeitern, sondern zu ganzen Teams oder manchmal sogar zum kompletten Unternehmen.13 Somit spielen die Persönlichkeit, die Handlungen und die Werte eines Vorgesetzten eine bislang unterschätzte Rolle im gesamten Führungsprozess.
Daraus lässt sich ableiten, dass bestimmte Eigenschaften eines Menschen grundlegenden Einfluss auf seine Wirksamkeit als Führungskraft auf die Mitarbeiter in den Unternehmen hat.14 Um diese Wirksamkeit auf andere noch genauer zu untersuchen und zu bestimmen, liefern die neuesten Erkenntnisse der kognitiven Neurowissenschaften einen wichtigen Beitrag. Denn die kognitiven Neurowissenschaften sind ein interdisziplinäres Feld, das sich laut Lutz Jäncke mit neuronalen Mechanismen auseinandersetzt, denen kognitive und psychische Funktionen zugrunde liegen.15
Dabei bildet nach Eric R. Kandel die kognitive Neurowissenschaft mit ihren Unterdisziplinen Neuroanatomie, Elektrophysiologie, Zellbiologie und Entwicklungsbiologie die moderne Wissenschaft des Geistes durch Verschmelzung der kognitiven Psychologie und der Neurowissenschaften.16 Die kognitive Psychologie beschäftigt sich dabei mit der Erforschung von Zuständen und Prozessen, die zwischen der Reizaufnahme und dem daran anschließenden Erleben und Verhalten liegen. Die Neurowissenschaften versuchen hingegen, Verhaltensweisen anhand von Gehirnaktivitäten zu erklären. Zu verstehen gilt es, wie Millionen Nervenzellen zusammenarbeiten, dabei Verhalten erzeugen und zudem durch äußere Umwelteinflüsse inklusive des Verhaltens von anderen Menschen viceversa beeinflusst werden.17
Mithilfe moderner bildgebender Verfahren, wie zum Beispiel fMRT, erreichte die Hirnforschung in den letzten Jahren enorme Fortschritte zum Verständnis und zur Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Seit der Entwicklung dieser Verfahren wachsen auch die Erkenntnisse und Ergebnisse der kognitiven Neurowissenschaft mit einer bis dahin unbekannten Dynamik. Hierbei werden neben neuen Erkenntnissen und Ergebnissen aus diesem Feld auch Erfahrungen und Beobachtungen früherer Forschungen verlässlich bestätigt. Die Forschungsfelder der kognitiven Neurowissenschaften zielen dabei auf fast alle Lebensbereiche ab.
Die Übertragung dieser neurowissenschaftlichen Erkenntnisse auf den Führungsbereich wird in der Literatur als Neuroleadership bezeichnet und gilt als ein Ansatz, der auf bestehenden Führungstheorien aufbaut. Im Zuge dieser Arbeit werden drei Fragen zum Begriff Führen unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse beantwortet: (1) Was lässt sich für den Bereich Führung aus den neuesten Erkenntnissen der Gehirnforschung ableiten? (2) Welche neuronalen Prozesse sind im Führungskontext, also bei Verhaltensveränderungen zwingend zu beachten? (3) Welche Bedeutung hat die Führungskraft, genauer deren Persönlichkeit, für den Führungsprozess an sich?
Die Hypothese hierzu lautet: Führungskräfte schaffen die Rahmenbedingungen und tragen die Verantwortung für eine leistungsgerechte Erbringung von Arbeit und Dienstleistung durch die Mitarbeiter. Die bisherigen Ergebnisse im Führungsalltag sind jedoch in vielen Fällen weder für die Unternehmen, noch für die Führungskräfte selber und auch für die Mitarbeiter nicht zufriedenstellend. Die Persönlichkeit der Führungskraft sowie das Verständnis und die Anwendung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse im Führungskontext können den Prozess der Führung erfolgreich unterstützen.
2. Der Begriff der Führung in Theorie und Praxis
Führung ist ein interaktiver Prozess, mit der bewussten und zielbezogenen Einflussnahme des Erlebens sowie des Verhaltens von Einzelpersonen und von Gruppen innerhalb von Organisationen. In der Arbeitswelt soll Führung zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Unternehmen gelten dann als erfolgreich, wenn sie ihre Ziele erreichen oder übertreffen.18
Führung und Führungsstile unterliegen seit jeher ständigen Veränderungen, da sie etwa abhängig sind von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, politischen Entwicklungen, Erziehungs- und Bildungstheorien oder auch dem technischen Fortschritt.
Führungsstile sind nach Wolfgang H. Stähle ein langfristiges Verhalten einer Führungskraft, die gleichzeitig die Grundeinstellung gegenüber den Mitarbeitern zum Ausdruck bringt.19 Bekannte Führungsstile sind unter anderem der Patriarchalische Führungsstil, der Partizipative Führungsstil, der Kooperative Führungsstil oder der Laissez-faire-Führungsstil. Thomas Bartscher und Regina Nissen unterscheiden darüber hinaus in eigenschafts-, verhaltens- und situationstheoretischen Führungskonzeptionen, die klassischen Ansätze der Mitarbeiterführung und die interaktions- und evolutions-/transformationstheoretischen Führungskonzeptionen, welche als neuere Ansätze der Mitarbeiterführung bezeichnet werden können (siehe Abb. 3).20
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Ausgewählte Führungstheorien
(Quelle: BARTSCHER, T. u. NISSEN, R. (2017), S. 108)
Die Transaktionale und die Transformative Führung entstanden durch die Weiterentwicklung des Laissez-faire-Ansatzes und gelten heute in den unterschiedlichsten Branchen und Unternehmensgrößen als sehr weit verbreitet. Die Transaktionale Führung basiert auf dem Austausch von Leistung und Gegenleistung und arbeitet dem Grunde nach dem Prinzip Belohnung, etwa Prämien bei Zielerreichung oder Bestrafung wie kein Sonderurlaub bei Minderleistungen. Bei der Transformativen Führung handelt es sich um eine Weiterentwicklung der Transaktionalen Führung, wobei der Mitarbeiter stärker im Fokus steht und wirkungsvollere Methoden der Verhaltensänderung und Motivation genutzt werden. Führungskräfte arbeiten dabei verstärkt an ihrer Vorbildfunktion, fordern und fördern die individuellen Stärken und Talente der Mitarbeiter, regen zu mehr Eigeninitiative und Kreativität an und vermitteln höhere, sinnvollere und attraktivere Ziele wie die übergeordneten Unternehmensziele, um wirksamer zu führen.21
Um sich den Herausforderungen und Veränderungen der heutigen Zeit zu stellen, wird in jüngster Zeit immer häufiger das Konzept der Agilen Führung angewandt, welches einzelne Teams und ganze Organisationen flexibler, anpassungsfähiger und schneller agieren lässt. Agilität greift auf Methoden zurück, die diese Verhaltensänderungen der Mitarbeiter und Führungskräfte fördert.22
Aktuell wirken laut Birgit Gebhardt folgende Veränderungen und Herausforderungen auf heutige Führungskonzepte und somit direkt auf Führungskräfte ein:
- Umfelder werden unberechenbarer,
- Werte konkurrieren mit Zahlen,
- Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung gelten als wichtig,
- Bestehende Rollenverteilungen geraten aus den Fugen,
- Gültige Strukturen und etablierte Institutionen lösen sich auf,
- Wissen obliegt keinerlei Beschränkung mehr,
- Flexibilisierung von Arbeit, sowohl räumlich, zeitlich und strukturell,
- Komplett neue Geschäftsmodelle entstehen.23
Tobias Esch merkt zudem an: „Das Wohlbefinden der Mitarbeiter ist ein wichtiges Ziel unternehmerischen Handelns geworden, auch wenn das hierzulande für viele Führungskräfte noch ein ‚rotes Tuch‘ zu sein scheint.“ (Esch, T. 2017, S. 181).
Diese Veränderungen üben auch eine enorme Auswirkung auf Führungskräfte und deren Verhalten sowie deren Interaktion mit Mitarbeitern aus. Denn der Wunsch nach Work-Life-Balance in Form von Selbstverwirklichung, persönlichem Lebensglück, Gestaltungs- und Handlungsfreiheit oder der Selbstwirksamkeit formen die Erwartungen von Mitarbeitern und Führungskräften gleichermaßen.24
Diese Veränderungen und neuen Anforderungen betreffen Führungskräfte daher in zweifacher Hinsicht. Einerseits müssen Vorgesetzte diese Entwicklung selbst verstehen bzw. die notwendigen Rahmenbedingungen gestalten. Andererseits wird von ihnen verlangt, diese Veränderungen ihren Mitarbeitern nachhaltig zu vermitteln und die Mitarbeiter dabei konsequent zu begleiten und zu motivieren. Um Führungskräfte zu unterstützen hat Waldemar Pelz in einer Studie 2016 die wichtigsten und die selbstverständlichen Verhaltensweisen einer Führungskraft ermittelt.
Die sieben wichtigsten Verhaltensweisen von besonders erfolgreichen Führungskräften nach Pelz lauten:
- Fördert Fähigkeiten und Talente,
- Hilft bei der Entwicklung persönlicher Kompetenzen und Perspektiven,
- Formuliert klare Ziele und Erwartungen,
- Stärkt das Selbstvertrauen in die Erreichbarkeit von Zielen,
- Fördert die Motivation aller Mitarbeiter,
- Schafft ein Klima des Verantwortungsbewusstseins,
- Macht klar, wie jeder zum Unternehmenserfolg beitragen kann.
Zudem sollte eine Führungskraft laut Pelz folgende selbstverständliche Verhaltensweisen mitbringen:
- Fördert das Kostenbewusstsein,
- Kritisiert Fehler, ohne dass der Betroffene sein Gesicht verliert,
- Alle Mitarbeiter kennen ihre persönlichen Stärken und Schwächen,
- Informiert ausreichend über wichtige geschäftliche Vorgänge,
- Nutzt Chancen und geht dabei auch Risiken ein,
- Sorgt dafür, dass alle die notwendigen Ressourcen haben,
- Steht „hinter“ seinen Leuten, auch wenn sie Fehler machen.25
Führung ist somit als Prozess zu verstehen, in dem Beziehungen zwischen Menschen und die gegenseitige Interpretation dieser Beziehungen im Mittelpunkt stehen – und dabei die permanente Einbeziehung von Zielen, Aufgaben und Situationserfordernissen berücksichtigt.26
Die Ergebnisse des Gallup Engagement Index 2018 zeigen jedoch, dass es zahlreiche Führungskräfte gibt, die diesen Verhaltensweisen als Führungskraft nicht gerecht werden.
Christian E. Elger schreibt ebenfalls, die Reihenfolge der wichtigsten Motive von Führungskräften seien (1) Ehrgeiz, (2) Leistungswille, (3) mit anderen etwas gemeinsam bewegen, (4) Einfluss, (5) Macht (6) Ansehen, (7) Prestige, (8) Status und (9) materielle Motive (wie Geld und geldwerte Vorteile).27 Er schlussfolgert dazu, dass es erst an dritter Stelle „um Andere“, also die Mitarbeiter geht.
Wenn für Führungskräfte heute die individuelle Unterstützung der Mitarbeiter die zentrale Führungsaufgabe ist, dann steht außer Frage, dass Vorgesetzte nicht aus Gründen der Seniorität zur Führungskraft ernannt werden dürfen. Das bedeutet, dass Führungskräfte besser ausgewählt und noch qualifizierter ausgebildet werden müssen, um ihrer Führungsverantwortung und den Zielen ihrer Unternehmung gerecht zu werden.
Viele Führungskräfte nehmen laut eigenen Aussagen aktiv an Weiterbildungen teil und erhalten Kenntnisse über Kommunikation, Kooperation, Überzeugungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen und diverse Führungsstile. Das wirft jedoch die Frage nach qualifizierteren Ausbildungsinhalten auf, die zum Beispiel die individuelle Persönlichkeit oder etwa die Funktion und Bedeutung zwischenmenschlicher Verhaltensweisen in den Fokus der Weiterbildungen stellen.28
3. Relevante neurowissenschaftliche Kenntnisse für neue Führungskonzepte
Das menschliche Gehirn ermöglicht unser Überleben unter den verschiedensten Voraussetzungen. Dabei gelten der Erhalt des körperlichen Gleichgewichts in überlebensrelevanten Bereichen, die Verteidigung des eigenen Überlebens und die Reproduktion als die drei wichtigsten Aufgaben.29 Im Laufe der Evolution entwickelte sich das menschliche Gehirn zu einem komplexen Organ, welches zum Beispiel die Sprache oder das Bewusstsein entwickelte. Die meisten Hirnforscher sind sich zudem einig, dass das, was Menschen fühlen, denken und auch tun, nicht losgelöst von den Strukturen und Funktionen des menschlichen Gehirns betrachtet werden kann.30
Die Erkenntnisse der aktuellen Gehirnforschung liefern zudem neue Antworten auf viele Fragen, die sich mit Verhalten, daraus abgeleitetem Handeln und Veränderungsbereitschaft beschäftigen. Obwohl viele Führungskräfte beispielsweise wissen, dass es grundsätzlich sinnvoller wäre eigenes Verhalten gegenüber Mitarbeitern zu verändern, verharren diese in alten Führungsmustern und -strukturen, denn die bloße Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung ist keineswegs ausreichend.31
In Bezug auf den Führungsprozess ist es daher notwendig, die wichtigsten Grundlagen des menschlichen Gehirns näher zu betrachten, um menschliches Verhalten und Handeln im Kontext von Führung besser zu verstehen. Hierzu werden nachfolgend das Emotionssystem, das Belohnungssystem, das Gedächtnissystem und das Entscheidungssystem des Menschen erläutert, da diese Gehirnsysteme einen wesentlichen Einfluss auf den Umgang mit Menschen und die notwendige Motivation für sie haben.
3.1. Das Emotionssystem
Emotionen werden als ein psychophysiologischer Vorgang beschrieben. Ausgelöst werden Emotionen durch bewusste und/oder unbewusste Prozesse wie Wahrnehmung oder kognitive Interpretationen von Situationen oder Objekten.32 Emotionen sind somit Reaktionen auf spezifische Stimuli, die sowohl unbewusst als auch bewusst, ein sogenannter Flashback, ausgelöst werden.33
Emotionen haben eine starke Auswirkung auf die Verhaltenssteuerung des Menschen und übernehmen die folgenden vier Funktionen:
1. Regulation organismischer Zustände,
2. Sicherstellung der Handlungsbereitschaft,
3. Vorbereitung von Handlungen,
4. Verhaltensintentionen signalisieren.34
Die Intensität von Emotionen können unterschiedlich ausfallen und entweder positiv oder negativ sein. Dies nennt man Valenz.35
Sowohl positive Emotionen wie Freude und Glück als auch negative Emotionen wie Wut oder Ekel werden in der Regel individuell interpretiert und richten sich in ihrer Intensität nach den persönlichen Erlebnissen bzw. abgespeicherten Erfahrungen.36 Handlungen und Erlebnisse haben positive, negative oder neutrale emotionale Auswirkungen. Unbewusst oder bewusst werden diese unterschiedlichen Emotionen in direkter Verbindung mit dem jeweiligen Ereignis oder der jeweiligen Handlung abgespeichert. Alles, was der Mensch demnach erlebt, erzeugt eine Wirkung.37 Emotionen wirken daher motivierend oder demotivierend, leistungsfördernd oder leistungshemmend.
Diese unzähligen Lernvorgänge unterschiedlichster Konsequenzen und Erfahrungen werden im Gehirn mit emotionalen „Markern“ versehen und im Erfahrungsgedächtnis abgespeichert. Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio spricht hierbei von somatischen Markern, welche bei bekannten oder ähnlichen Situationen mit dem gerade Erlebten eine entsprechende Emotion auslösen. Sie helfen, die jetzt erlebte Situation einzustufen und die entsprechende Handlungsvorbereitung einzuleiten.38
Die somatischen Marker gehen mit körperlichen Ausdrucksformen wie Mimik, Gestik, Körperhaltung und Stimmlage einher, aber auch mit vegetativen Reaktionen wie Pulsschlag, Zittern, Schwitzen oder schneller Atmung. Daraus lassen sich auch bestimmte Motive bzw. Handlungstendenzen wie Annäherung oder Vermeidung ableiten.39
Emotionen entstehen ausschließlich im Gehirn, im sogenannten limbischen System, welches eng mit dem Körper und den Organen verbunden ist. Der bewusste Erlebniszustand wird Gefühl genannt. Gefühle sind subjektiv und entstehen in der Großhirnrinde, dem Sitz des Bewusstseins. Das sogenannte „Bauchgefühl“ ist demnach eine „Rückprojektion“ vom Gehirn in den Körper.40
Unterschieden wird zudem zwischen Affekten und Emotionen. Affekte sind Reaktionen, die in der Regel nicht oder nur schwer kontrollierbar sind. Hierzu zählen Ereignisse, die von unserem Gehirn als überlebensrelevant bzw. als lebensgefährlich eingestuft werden. Diese ausgelösten Handlungen sind dann zumeist unbewusst. Ist das Gehirn im Affektmodus, konzentriert es seine Kapazitäten auf die Stimuli, die als lebensbedrohlich eingestuft werden und reagiert entsprechend sensibel hierauf. Affekte sind demnach kurz anhaltende Emotionen mit einer Handlungskompetenz.41
Die Amygdala, das Areal der Emotionsverarbeitung und des emotionalen Lernens, steuert die vegetativen Reaktionen. Zudem sind die Amygdala und das mesolimbische System die Hauptorte für die unbewusste emotionale Konditionierung. Sie stehen jeweils in enger Verbindung zum nachgelagerten Mittel- und Zwischenhirn und erhalten ihre Stimuli direkt durch die Sinnesorgane.42 Die Amygdala reagiert dabei vor allem auf starke, oft unerwartete Ereignisse.
Laut Daniel Kahnemann werden Gefahren oder schlechte Nachrichten im menschlichen Gehirn schneller verarbeitet, um das Überleben zu sichern. Der evolutionäre Aspekt ist, dass potentiell lebensbedrohliche Situationen oder lebensbedrohliche Umgebungen vermieden werden.43 Furcht oder Angst erhöhen somit die Überlebenschance, da mit ihr Abwehrmaßnahmen einhergehen wie beispielsweise Flucht, aber auch Kampf oder Erstarren. Bewiesen ist zudem, dass nicht nur die Gefühle und die körperlichen Reaktionen von der Amygdala reguliert werden, sondern diese auch emotionale Einflüsse auf die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ausübt.44
Der Nucleus accumbens hingegen verarbeitet den Belohnungs- bzw. Bestrafungswert, von unerwarteten oder neu zu lernenden Ereignissen. Hierbei wird der Grad der Motivation „errechnet“.45
Die Vorgänge und das Zusammenspiel von Amygdala, Nucleus accumbens und weiteren Arealen wird anschließend an den Hippocampus als Organisator des deklarativen Gedächtnisses sowie an den limbischen Cortex gemeldet. Dies bildet die Grundlage von Motivation und der Ausbildung von Zielen.46
Jäncke beschreibt die Emotion als eine Regelabweichung, denn erst daraus entwickelt sich Motivation (siehe Abb. 4). Das heißt der Organismus strebt nach Reduktion der Regelabweichung durch die Motivation.47
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Regelkreislaufmodell der Motivation
(in Anlehnung an: JÄNCKE, L. (2015), S. 600)
Joseph LeDoux beschreibt Emotionen als mächtige Motivatoren des künftigen Verhaltens. „Sie bestimmen ebenso den Kurs des Handelns von einem Moment zum nächsten, wie sie die Segel für langfristige Ziele setzen“ (LeDoux, J. 1998, S. 27).
Menschen wollen sich grundsätzlich wohlfühlen. Sie wollen, dass es ihnen gut geht, sie Spaß und Freude haben, optimistisch in die Zukunft schauen und streben somit nach „Affektoptimierung“. Das bedeutet, Menschen versuchen positive oder appetitive Gefühlszustände zu erwirken und negative oder aversive Gefühlszustände zu vermeiden.48
Motive zur Sicherstellung des Überlebens sind auf der unteren limbischen Ebene wirksam, die meisten anderen Motive sind Ergebnisse von Lernvorgängen, die im Erfahrungsgedächtnis abgelegt werden. Aufgrund von unbewussten oder bewussten Bewertungen wird im Gehirn festgestellt, ob und in welcher Weise bestimmte Ereignisse oder Handlungen appetitive oder aversive Folgen haben. Das Ergebnis entscheidet somit über die Ausrichtung künftiger Motive.49
Die vornehmliche Bedeutung von Emotionen liegt in der Organisation und Motivation des Verhaltens und dient zugleich der Kommunikation zwischen den Menschen und der Vermittlung des individuellen Wohl- oder Unwohlbefindens.
Emotionen beeinflussen unser Denken und unser Handeln. Das Gehirn ist ein emotionales Gehirn.50
3.2. Das Belohnungssystem
Lust und Unlust, Gewinn und Verlust sowie Erfolg und Misserfolg können in unserem Gehirn durch zahlreiche Methoden registriert und miteinander „verrechnet“ werden. Für Gerhard Roth und Alice Ryba ist das Erkennen und Abspeichern des Positiven sowie Negativen aus unserem Erleben und Handeln elementar, da sich nach der Bewertung daraus unser zukünftiges Verhalten ausrichtet.51
Mehrere Hirnareale sind an diesem Vorgang beteiligt: das ventrale tegmentale Areal (VTA), die Substantia Nigra, die mesolimbischen und mesokortikalen Bahnen, der Nucleus accumbens, der dorsale Teil der Basalganglien, der Präfrontalcortex und der orbitofrontale Cortex (OFC).52
Dem Neurotransmitter Dopamin kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Das vor allem in der Substantia Nigra gebildete Dopamin löst bei seiner Ausschüttung im Gehirn eine Belohnungserwartung aus. Hierbei wird die Differenz zwischen erwarteter Belohnung und tatsächlicher Belohnung „berechnet“. Die Differenz wird als Belohnungsvorhersagefehler bezeichnet.53
Ist die tatsächliche Belohnung gleich der erwarteten Belohnung, dann ist das Abweichungssignal null und es erfolgt keine oder nur eine sehr geringe Ausschüttung von dopaminergen Neuronen. Fällt die tatsächliche Belohnung höher aus als die erwartete Belohnung, erfolgt eine starke, impulsartige Aktivierung des Neurotransmitters Dopamin. Solche Neurone feuern umso stärker, je größer die Belohnung ist. Deshalb spricht man auch von „Belohnungs-Neuronen“. Diese überraschende Ausschüttung kann zu einem positiven Gefühl bzw. Zustand führen und sorgt damit gleichzeitig für einen motivationalen Aspekt. Ist die tatsächliche Belohnung geringer als die erwartete Belohnung, ist das Abweichungssignal negativ und die neuronale Ausschüttung ist gehemmt. Hier kommt die Amygdala wieder ins Spiel, da bei ausbleibender Belohnung dort Neuronen aktiviert werden, die sogar Schmerzempfinden auslösen können.54
Belohnungsempfinden in Form dopaminerger Ausschüttung ist eine wichtige Grundlage für optimales Verhalten. Als optimales Verhalten bezeichnet man Verhalten, das Belohnung maximiert. Daraus können wir schlussfolgern, dass Menschen Handlungen meiden, welche nicht belohnt oder gar bestrafft werden. Belohnungen sind mit einem positiven Gefühl bzw. Zustand verbunden und gelten somit als Antrieb oder Motivation für zukünftiges Handeln. Belohnungen werden gelernt und sorgen somit für zukünftige Verhaltensänderungen.55
Die Aktivität solcher Neurone geht zudem immer stärker zurück, je wahrscheinlicher mit einer Belohnung gerechnet werden kann. Das bedeutet, das eine Belohnung die als erwartbar eingestuft wird, letztlich nicht als Belohnung angesehen wird und uns somit auch nicht antreibt bzw. motiviert.56
Motivation und Belohnung haben laut Esch eine direkte Korrelation. Motivationsgrundlage ist entweder eine Hin-zu-Strategie oder eine Weg-von-Strategie. Hin-zu-Strategie meint, sein Verhalten auf ein Ziel ausrichten, das erreicht werden soll. Das Streben nach etwas Positivem, heißt Appetenz. Die Weg-von-Strategie beschreibt, Handlungen zu unterlassen bzw. zu vermeiden, die Negatives auslösen (Aversion).57
Der Motivations-/Belohnungskreislauf nach Esch erfasst die Bereiche Motivation, Belohnung sowie Verhalten bzw. Handlung. Dieser Kreislauf führt zunächst über eine Idee, die durch Abwägung zu einer Entscheidung führt. Diese Entscheidung sorgt für ein entsprechendes Verhalten bzw. eine Handlung mit anschließender Überwachung und Bewertung. Da es sich um einen Kreislauf handelt, stehen alle Bereiche direkt oder indirekt in Beziehung bzw. Wechselwirkung zueinander und begründen somit das positive Verhaltenslernen.58
Im Gehirn bilden die Antworteigenschaften dopaminerger Neuronen damit eine elementare Grundlage der Motivation, die man auch als Belohnungserwartung bezeichnen kann. Die Belohnung selbst stellt uns zunächst zufrieden, jedoch das Abklingen des Belohnungseffekts und das dadurch verursachte Streben nach neuer Belohnung treibt uns an, motiviert uns. Wir wollen uns wieder so gut fühlen bzw. wohlfühlen wie beim letzten positiven Ereignis.
3.3. Das Gedächtnissystem
Jeden Tag erleben wir, dass wir uns an bestimmte Informationen nicht mehr erinnern. Andererseits behalten wir andere Informationen länger – manchmal ein Leben lang. Dinge, obwohl sie interessant schienen, werden vergessen. Andere Dinge, an die wir nicht mehr gerne erinnert werden möchten, „brennen“ sich in unser Gedächtnis ein. Um sich weiterzuentwickeln, ist der Mensch gefordert, seinen Wissenstand immer weiter auszubauen, Informationen zu erhalten, abzuspeichern und sinnvoll auch wieder abzurufen. Das ist nicht nur für Fakten und Ereignisse relevant, sondern auch für automatisierte Abläufe wie die Motorik und emotionale Ereignisse.
Unter Gedächtnis werden Prozesse und Systeme zusammengefasst, die die Einspeicherung, die Aufbewahrung, den Abruf, das Vergessen sowie die Anwendung von Informationen, deren Quelle nicht mehr verfügbar ist, ermöglichen.59
Die hierarchische Anordnung der Gedächtnissysteme sieht das Ultrakurzzeitgedächtnis, auch sensorischer Speicher genannt, als unterste Stufe, die Stimuli werden hier nur für wenige Sekunden gespeichert – entweder als visueller oder auditiver Speicher. Im nachfolgenden Kurzzeitgedächtnis werden die Informationen zwischen mehreren Sekunden bis zu einigen Minuten vorgehalten. Jedoch ist die Kapazität hier äußerst gering. Somit können circa sieben plus oder minus zwei Informationseinheiten in dieser Zeit behalten werden. Anschließend werden diese Informationen entweder in das Langzeitgedächtnis überführt oder dem Arbeitsgedächtnis zur Verfügung gestellt. Ansonsten gehen diese Informationen verloren.60
Über das intermediäre Gedächtnis, das auch Zwischengedächtnis genannt wird, gelangt ein Teil der Inhalte des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis. Eine gesonderte Stellung nimmt das Arbeitsgedächtnis ein, denn es werden sensorische oder mentale Inhalte zu einem neuen und sinnhaften Ganzen zusammengesetzt und diese zur Ausübung sequenzieller motorischer oder kognitiver Leistungen genutzt. Auch diese Informationen gelangen anschließend über das intermediäre Gedächtnis hauptsächlich während des Schlafens ins Langzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis verfügt darüber hinaus über eine sehr große Speicherkapazität und ist unempfindlich gegenüber Störfaktoren.61 Alle bisher gemachten Erfahrungen und Erlebnisse sind im Langzeitgedächtnis abgelegt.
Unterschieden wird zwischen dem deklarativen (bewussten) und dem nicht-deklarativen (unbewussten) Gedächtnis (siehe Abb. 5).
- Im deklarativen Gedächtnis werden Informationen gespeichert, die wir bewusst wiedergeben können. Es umfasst wiederum das faktische und das episodische Gedächtnis.
- Das faktische Gedächtnis umfasst sämtliches Faktenwissen, wie die Namen von Mitarbeitern und Vorgesetzten oder nicht personenbezogenes Wissen.
- Das episodische Gedächtnis wiederum speichert Ereignisse aus dem persönlichen Erleben und bezieht sich auf die eigene Person in Bezug auf inhaltlichen, räumlichen und zeitlich konkreten Erlebnissen, wie die Beförderung zum Abteilungsleiter und der 50. Geburtstag des Unternehmens inklusive der Feierlichkeiten im Jahre 2005.62
Der Hippocampus gilt als Organisator des deklarativen Gedächtnisses. Dieser legt verschiedene Gesichtspunkte eines bestimmten Lerninhalts wie Fakten, Objekte, Orte, Namen oder Farben in verschiedene Cluster ab, die sich dann mit steigendem Wissenserwerb untereinander vernetzen.
Je mehr Wissen gesammelt wird, desto mehr vernetzen sich die Erinnerungen der einzelnen Cluster. Somit entstehen durch neuronale Netzwerke assoziatives Denken, das heißt, bei einem Gedanken oder Thema fallen uns automatisch weitere Inhalte ein.63
- Unbewusste Erinnerungen werden hingegen im nicht-deklarativen Gedächtnis abgespeichert. Hierzu zählt zum einen das prozedurale Gedächtnis und zum anderen das emotionale Gedächtnis.
- Automatisierte Abläufe bei motorischen Fertigkeiten oder Bewegungsabläufen wie Fahrradfahren, aber auch die Ausbildung von Gewohnheiten sind im prozeduralen Gedächtnis verankert. Zudem erfolgt hier der Prozess der klassischen Konditionierung und des nichtassoziativen Lernens.
- Alle Ereignisse, die mit starken emotionalen Eindrücken oder Erinnerungen verbunden sind, werden im emotionalen Gedächtnis abgelegt. Hierbei werden die Erinnerungen bereits entweder als positiv oder negativ abgelegt.
Das prozedurale Gedächtnis ist abhängig von subcortical gelegenen Strukturen wie den Basalganglien und dem Kleinhirn, da implizite Erinnerungen von Fertigkeiten und konditionierten Assoziationen notwendig sind. Eine Beteiligung des Cortex mit bewusster Durchführung und erhöhter Konzentration beim Erlernen von Fertigkeiten ist anfänglich dabei zwingend erforderlich. Danach erfolgt eine Reduktion der corticalen Beteiligung und eine Verlagerung der erlernten Aktivität zu den Basalganglien und zum Kleinhirn wird vollzogen.64
Das emotionale Gedächtnis hingegen steht in direktem Zusammenhang mit der Amygdala. Beim Entstehen emotionaler Erinnerungen sind zwei Teilbereiche der Amygdala wichtig: der basolaterale Komplex (BLA) und der zentrale Kern der Amygdala. Der BLA erhält Informationen durch Verbindungen mit vielen corticalen assoziativen Arealen und sensorischen Kerngebieten des Thalamus. Darüber hinaus unterhält der BLA reziproke Beziehungen unter anderem mit dem Hippocampus- und dem Striatum-Gedächtnissystem.65
Als ein wichtiger Teil unserer Persönlichkeit kann daher das nicht-deklarative Gedächtnissystem bezeichnet werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Gedächtnistypen
(in Anlehnung an: Academy of Neuroscience, FM-Lernprozesse, (2015), S. 22)
Alles, was wir in unserem Gedächtnissystem verarbeiten, ablegen und wieder aufrufen, kann man als Lernformen beschreiben. Sämtliche Lernformen unseres Gehirns weisen dabei Gemeinsamkeiten auf, denn alle Informationen werden im Nervensystem gespeichert und die zellulären und molekularen Prozesse sind bei allen Lern – und Gedächtnisleistungen gleich.66
3.4. Das Entscheidungssystem
Wir treffen zahlreiche private, aber auch berufliche Entscheidungen pro Tag. Zuständig ist dafür der präfrontale Cortex. Hier sitzt die Schaltzentrale unseres Entscheidungssystems. Um die entsprechende Handlungssteuerung angemessen einleiten zu können, ist jedoch die Unterstützung des Emotionssystems, des Belohnungssystems und des Gedächtnissystems notwendig. Sämtliche Informationen werden hier zusammengeführt und bilden somit die Grundlage zur Entscheidungsfindung. Neben dem Abgleich von Werten und Normen werden auch Strategien und Planungen initiiert. Das Entscheidungssystem besitzt die Hoheit über unser Verhalten und unsere Handlungen. Ohne die anderen drei Systeme wäre es aber machtlos.67
Entscheidungen werden stark von unwesentlich erscheinenden Merkmalen oder Erwartungshaltungen beeinflusst. Der sogenannte Framing-Effekt macht deutlich, dass unterschiedliche Formulierungen bei gleichem Inhalt unterschiedliche Entscheidungen hervorrufen können.68
Die Prospect-Theorie von Daniel Kahnemann und Amos Tversky von 1979 besagt, dass Menschen Entscheidungen anhand erwarteter Gewinne und Verluste treffen, abhängig vom aktuellen und individuellen Zustand. Dabei tendieren sie dazu, Verluste vermeiden zu wollen, anstatt Gewinne anzustreben. Kognitive Verzerrungen wie die individuellen Wahrnehmungen, Glaubenssätze, Art und Anzahl vorhandener Alternativen, Herstellung vermeintlicher Kausalzusammenhänge, Anker- und Kontrasteffekte wirken in der Regel unbewusst, sind aber maßgebliche Einflussfaktoren auf unser Entscheidungsverhalten.69
Das bestätigte auch John-Dylan Haynes im Jahre 2008: „Viele Prozesse im Gehirn laufen unbewusst ab – wir wären sonst schon mit alltäglichen Aufgaben der Sinneswahrnehmung und Bewegungskoordination völlig überfordert. Von unseren Entscheidungen aber glauben wir in der Regel, dass wir sie bewusst fällen. Diese Annahme ist mit unserer Studie in Frage gestellt." (Haynes. 2008, S.1)
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1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Text die männliche Form gewählt, jedoch beziehen sich die Angaben immer auf Angehörige beider Geschlechter.
2 Vgl. NINK, M. (2018), S. 7.
3 Vgl. INFORMATION FACTORY (Hrsg.) (2015), S. 6.
4 Vgl. NINK, M. (2018), S. 11.
5 Vgl. ebd. S. 11.
6 Vgl. NINK, M. (2018), S. 116.
7 Vgl. NINK, M. (2019), S. 7.
8 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 364.
9 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 363.
10 Vgl. ebd. S. 364.
11 Vgl. Schirmer, U. u. Woydt, S. (2016), S. 4, zitiert nach WEGGE, J. u. ROSENSTIEL, L. (2014), S. 317ff.
12 Vgl. ebd. S. 4.
13 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 365.
14 Vgl. ebd. S. 365.
15 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 22.
16 Vgl. KANDEL, E. u. a. (2011), S. 325.
17 Vgl. ebd. S. 6.
18 Vgl. NERDINGER, F. W. (2018), S. 95f.
19 Vgl. STÄHLE, W. H. (1999), S. 334.
20 Vgl. BARTSCHER, T. u. NISSEN, R. (2017), S. 107ff.
21 Vgl. PELZ, W. (2016), S. 4.
22 Vgl. HOFERT, S. (2016), S. 6.
23 Vgl. GEBHARDT, B. u. a. (2015), S. 6ff.
24 Vgl. GEBHARDT, B. u. a. (2015), S. 17f.
25 Vgl. PELZ, W. (2016), S. 14ff.
26 Vgl. WEIBLER, J. (2013), S. 41f.
27 Vgl. ELGER, C. E. (2013), S. 13.
28 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 364.
29 Vgl. EAGLEMAN, D. u. DOWNAR, J. (2015), S. 8.
30 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 25.
31 Vgl. ebd. S. 355.
32 Vgl. JÄNCKE, L. (2015), S. 599.
33 Vgl. Academy of Neuroscience, FM-Emotionen, Köln, (2015), S. 5.
34 Vgl. JÄNCKE, L. (2015), S. 600.
35 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 160.
36 Vgl. ROTH, G. (2017), S. 183.
37 Vgl. ebd. S. 183.
38 Vgl. JÄNCKE, L. (2015), S. 612.
39 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 160.
40 Vgl. ebd. S. 169.
41 Vgl. JÄNCKE, L. (2015), S. 602.
42 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 169.
43 Vgl. KAHNEMANN, D. (2012), S. 370.
44 Vgl. ACADEMY OF NEUROSCIENCE, FM-Lernprozesse, Köln, 2015, S. 27f.
45 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 171.
46 Vgl. ebd. S. 172.
47 Vgl. JÄNCKE, L. (2015), S. 600ff.
48 Vgl. ROTH, G. (2019), S. 207f.
49 Vgl. ebd. S. 213.
50 Vgl. ACADEMY OF NEUROSCIENCE, FM-Emotionen, Köln, 2015, S. 19f.
51 Vgl. ROTH, G. u. RYBA, A. (2016), S. 209.
52 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 643.
53 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 644.
54 Vgl. ROTH, G. u. RYBA, A. (2016), S. 210.
55 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 643.
56 Vgl. ROTH, G. u. RYBA, A. (2016), S. 211.
57 Vgl. ESCH, T. (2017), S. 118.
58 Vgl. ebd. S. 119.
59 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 417.
60 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 418.
61 Vgl. ACADEMY OF NEUROSCIENCE, FM-Lernprozesse, Köln, 2015, S. 20f.
62 Vgl. ACADEMY OF NEUROSCIENCE, FM-Lernprozesse, Köln, 2015, S. 22f.
63 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 433f.
64 Vgl. ACADEMY OF NEUROSCIENCE, FM-Lernprozesse, Köln, 2015, S. 25f.
65 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 27.
66 Vgl. ebd. S. 417.
67 Vgl. ELGER, C. E. (2013), S. 130f.
68 Vgl. KAHNEMANN, D. (2012), S. 447f.
69 Vgl. JÄNCKE, L. (2017), S. 636f.