Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2.„Historischer Kinder- und Jugendliteratur“ im Unterricht
2.1 Vor- und Nachteile des Einsatzes im Unterricht
2.2 Auswahl- und Analysekriterien
3. Der Roman „Stadt der Diebe“
3.1 Inhaltszusammenfassung
3.2 Sachanalyse
3.3 Fachdidaktische Beurteilung
3.3.1 Auswahl- und Analysekriterien nach Rox-Helmer
3.3.2 Geschichtsbewusstsein nach Pandel Didaktische Idee
Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildungen
1. Einleitung
In den letzten Jahren erschienen einige „historische Kinder- und Jugendromane“ auf dem Literaturmarkt und standen bei den Jugendlichen hoch im Kurs1. Die Qualität der Bücher differiert stark. Bei einigen werden die historischen Ereignisse nur als reine Kulisse benutzt und das Verhalten der Figuren wird davon kaum beeinflusst. Romane mit einer besseren Qualität sind in der Lage, dem Leser den Geist der damaligen Zeit spüren zu lassen und historische Sachverhalte plausibel in die Geschichte einzubinden. Fiktion und Realität sind dabei oft fließend. Entsprechen die Bücher diesen Kriterien können sie den Kindern und Jugendlichen auch außerhalb des Unterrichtes eine historische Orientierung vermitteln2 und vor allem das Interesse an Geschichte wecken3. Solche Romane regen die Imagination der Jungen und Mädchen an, wodurch Bilder über die beschriebenen historischen Zustände in den Köpfen der Kinder entstehen. Geschichte wirkt somit nicht mehr so abstrakt, was wiederum den Zugang zu ihr erleichtert4. Warum dies nicht auch im Unterricht nutzen? Eine geeignete Auswahl und sorgfältige Vorbereitung sind Grundvoraussetzungen, um die Bücher möglichst sinnvoll didaktisch einzubinden. In Zusammenarbeit mit dem Deutschunterricht können die Romane im Ganzen gelesen werden, ansonsten bietet es sich an mit Ausschnitten zu arbeiten, da ein kompletter Roman den Zeitrahmen, der knapp bemessenen Geschichtsstunden, übersteigen würde.
In dieser Arbeit wird das „historische Kinder- und Jugendbuch“ „Stadt der Diebe“ von David Benioff im Fokus stehen, in der zwei pubertierende Jungen sich im besetzen Leningrad im Winter 1942 auf die Suche nach Eiern begeben müssen, um ihr Leben zu retten. Auf ihrem Weg erfährt der Leser einiges über die Zustände zur Zeit der Belagerung und deren Auswirkungen auf das Leben der Zivilbevölkerung. Somit wird eine historische Thematik in den Mittelpunkt gestellt, die im Unterricht kaum Beachtung findet. Das Thema wäre in der 9ten Hauptschule5 und in der 10ten Realschule6 und Gymnasium7 einzubinden. Einzuordnen wäre die Besatzung Leningrads in der Haupt-und Realschule unter dem Aspekt „Beschwichtigung, Aggression,
Vernichtung - Eskalation der Gewalt in der Außenpolitik“8, im Gymnasium unter „Vernichtungskrieg und Völkermord“9
Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut. Als erstes werden die Vor- und Nachteile von „historischer Kinder- und Jugendliteratur“ eingegangen und erläutert, welche Auswahl- und Analysekriterien, je nach Lernziel relevant sind, um das Medium sinnvoll im Unterricht einzubinden. Danach wird der Roman „Stadt der Diebe“ im Fokus der Arbeit stehen. Zunächst wird der Inhalt des Buches wiedergegeben und eine fachdidaktische Beurteilung auf Grundlage der vorher erarbeiteten Auswahl- und Analysekriterien, abgebeben. Zum Schluss der Arbeit werden verschiedene thematische Schwerpunkte, die mit dem Roman erarbeitet werden können, herausgearbeitet und für einen ein konkreter Arbeitsvorschlag unterbreitet.
2. Historischer Kinder- und Jugendliteratur“ im Unterricht
Der Begriff „Historische Kinder- und Jugendliteratur“ ist fachlich irreführend, da nicht, wie der Begriff initiiert, Literatur aus vergangener Zeit, sondern Romane, die aus einer zeitlichen Distanz heraus in der Vergangenheit spielen, gemeint sind10. „Historische Kinder- und Jugendbücher“ handeln von expliziten, historischen Gegebenheiten. Die Fiktionalität sollte an das historisch Mögliche gebunden sein und Handlungen im Roman dem Leser Zugang zu den Lebensweisen der vergangenen Gesellschaften eröffnen. Damit wird Geschichte für Kinder und Jugendliche erleb- und fassbar. Dabei beansprucht der historische Roman keineswegs eine korrekte wissenschaftliche Darstellung der Geschichte.
2.1 Vor- und Nachteile des Einsatzes im Unterricht
In den 80er Jahren kamen einige Argumente gegen die Nutzung von „historischen Kinder- und Jugendromanen“ im Unterricht auf. Kritisiert wurde unter anderem das Personalisieren von Geschichte, das Erfinden von Geschichten ohne Beachtung der Darstellung der Historie und das Auslassen von Konflikthemen, um ein harmonisierendes Geschichtsbild zu erzeugen12. Ein in sich geschlossener Erzählverlauf würde historische Eindeutig, die so nicht existieren kann, suggerieren. Durch eine geeignete Auswahl anhand bestimmter Kriterien und durch eine reflektierte Handhabung des Mediums, lässt sich dieser Kritik entgegenwirken13. Geschichte existiert in erster Linie in den Köpfen der SuS14, da keine direkten Erfahrungen erlebbar sind.
Frau Rox-Helmer bezeichnet die Fähigkeit der Imagination bei der Handhabung mit historischem Material als unerlässlich15. Das Einsetzen des Mediums im Unterricht kann dazu beitragen die Imagination anzuregen, weil durch das Lesen der Romane im Kopf Bilder der Vergangenheit, die an historischen Ereignissen, Handlungen oder/und Denk- und Gefühlsweißen der Menschen anknüpfen, entstehen können16. Dies kann durch reine Quellenarbeit nur bedingt erreicht werden17. Reeken spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das Medium das Wachsen des „Fiktiven und Imaginären im Geschichtsbewusstsein“18 unterstützt. Das Buch sollte dazu anregen, nicht bei der Imagination zu stagnieren, sondern über das Fremde und deren Verhältnisse nachzudenken19.
Ein weiterer Vorteil kann darin liegen, dass die meisten „historischen Kinder- und Jugendromane“ Erzählungen aus der Alltagswelt wiedergeben. Meistens wird die Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte „von unten“ dargestellt, wodurch sich leichter ein Gegenwartsbezug herstellen lässt, indem die SuS angeregt werden, die damaligen Lebensumstände mit denen aus der eigenen Zeit vergleichen20.
Ein weiterer positiver Aspekt kann darin bestehen, dass anhand solcher Literatur ein kritisches Geschichtsbewusstsein ausgebildet werden kann. Abhängig von der Literaturauswahl und der didaktischen Aufarbeitung im Unterricht können die sieben Dimensionen des Geschichtsbewusstseins von Hans-Jürgen Pandel, das Zeit-, Wirklichkeits-, Historizitäts-, Identitätsbewusstsein, sowie das politische, ökonomische und moralische Bewusstsein21, unterschiedlich stark gefördert werden22. Besonders die Entwicklung des Wirklichkeitsbewusstseins kann bestärkt werden, indem die Lehrkraft durch das Einsetzen dieses Mediums die Jugendlichen schult, Informationen der Medien kritischer zu hinterfragen und somit die Kompetenz Realität und Konstrukte in den Medien schneller und einfacher zu differenzieren und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, bekräftigt23. Qualitativ hochwertige „historische Kinder- und Jugendbücher“ können die Mentalitäts- und Beweggründe von einer bestimmten vergangenen Gesellschaftsgruppe anschaulich darstellen. Die Jugendlichen können so das Verhalten als Handlungsbedingungen, basierend auf den historischen Ereignissen, besser begreifen, wodurch eine moralische Wertung auf der Grundlage der damaligen Umstände und nicht unseren heutigen Wertvorstellungen gezogen werden kann24. Folglich wird das moralische Bewusstsein bestärkt.
Ein weiterer Vorteil von „historischen Kinder- und Jugendromanen“ basiert darauf, das geschichtliche Ereignisse und deren Auswirkungen einfacher zu verstehen sind, wenn sie durch konkrete Personen erzählt werden. Die Figuren machen den Leser mit deren Gefühlen, Erlebnissen und Gedanken vertraut25. Die Identifikation mit der Hauptfigur kann Emotionen zu einem historischen Thema wecken und damit das weitere Interesse, sich mit den geschichtlichen Ereignissen auseinanderzusetzen, fördern26.
2.2 Auswahl- und Analysekriterien
Sowohl Reeken27 als auch Rox-Helmer stellten eine Liste mit wichtigen Analyse- und Auswahlkriterien auf, die als Anhaltspunkt für eine Auswahl geeigneter Romane im Geschichtsunterricht genutzt werden können. Je nach pädagogischer Zielsetzung und Lernabsicht können sie unterschiedlich stark gewichtet werden28. In dieser Arbeit wird sich hauptsächlich auf die Kriterien nach Rox-Helmer bezogen. Für den Geschichtsunterricht erachte ich den Aspekt der fachlichen Qualität und der Personifizierung als die entscheidenden Kriterien.
Fachliche Qualität beinhaltet, dass die Erzählungen historisch plausibel sein sollten. Das heißt, die Handlung sollte zumindest in der Theorie sich ereignet haben können. Die Fiktion bleibt damit im Rahmen des historisch Möglichen. Die Grenzen zwischen Fiktion und tatsächlichen Gegebenheiten sind fließend und sollten trotzdem erkennbar sein29. Zeittypische Ereignisse sollten sich auf das Leben der Figuren auswirken und das historische Thema sollte fachlich korrekt dargeboten werden. Für die Lehrkraft bedeutet es darauf zu achten, ob der historische Stoff als reine Kulisse oder zur historischen Rekonstruktion dient, ob eine zeitliche Fixierung der Ereignisse erkennbar ist und in wie weit die Ereignisse und Personen im Buch im historischen Kontext und in Zusammenhang mit den politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten fachlich korrekt eingebunden werden. Weiterhin ist unter diesem Gesichtspunkt abzuklären, ob Probleme im Roman auf strukturellen Ursachen basieren und, ob die Motive der handelenden Personen erläutert werden30.
Das für mich andere gewichtige Kriterium ist die Personifizierung. Auf der einen Seite sollten die Jugendlichen sich mit den Figuren identifizieren können. Dafür müssen die Personen im Roman weitgehend den aktuellen Rollenvorstellungen entsprechen. Auf der anderen Seite sollten die Figuren eine für die historische Zeit stellvertretenden Sozialtypus repräsentieren31. Die Ereignisse sollten nicht aus der Sicht einer bedeutenden Persönlichkeit erzählt werden32 und so viel Raum lassen, dass die Leser selbst Wertungen und Interpretationen vornehmen können, um sich in die historische Situation einfinden zu können33. In diesem Zusammenhang sollte die Lehrkraft überprüfen, ob der Protagonist zum größten Teil leidtragender der gesellschaftlichen Verhältnisse oder selbst agierend ist. Außerdem ist zu analysieren, welche Probleme, die des Charakters oder die der Gesellschaft, im Fokus des Romans stehen34. Weiterhin nennt Rox-Helmer das Kriterium der literarischen Qualität. Dann sollte auf das Niveau, die Originalität und Glaubhaftigkeit des Textes und die sprachlich-stilistische Gestaltung geachtet werden. Dieses Kriterium ist dann von Relevanz, wenn im Fokus des Unterrichtes der Aufbau der literarischen Kompetenz stehen soll35.
Ein anderer Aspekt ist die Brücke zur Freizeitlektüre. In diesem Zusammenhang ist zu analysieren, in wie weit das Buch spannend genug ist die Lesemotivation zu fördern36.
Ein weiteres Auswahlkriterium kann das Vorwissen der SuS sein. Es sollte ausreichend Wissen vorhanden sein, so dass die SuS sich in die fiktiv-historische Welt einfinden können37. Dies würde ich als Grundvoraussetzung bei der Auswahl ansehen.
Auch die Multiperspektivität kann ein Auswahlkriterium sein. Dann müsste das Buch unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Thema miteinbinden. In diesem Zusammenhang sollten die Figuren realistisch abgebildet werden38.
Die Frage nach dem Lesegenuss sollte bei der Auswahl ebenfalls berücksichtigt werden. Das Buch sollte alters- und zeitgemäß sein. Dies beinhaltet, dass die Hauptfiguren ungefähr der Altersklasse der Jugendlichen entsprechen. Thematisch sind solche Bücher von Interesse, die zum Beispiel die Suche nach der eigenen Identität, die Erste Liebe und/oder auch Krieg, Tod und das Unrecht eines Regimes behandeln. Dabei ist es wichtig, zu überlegen, ob das Buch für beide Geschlechter geeignet ist39. Klischees und Stereotypen sollten keine Verwendung finden40.
3. Der Roman „Stadt der Diebe“
Der Roman Stadt der Diebe wurde von David Benioff, ein bekannter amerikanischer Drehbuchautor, verfasst und handelt von einer pseudobiographischen Erzählung eines Jungen, Namens Lew, der über seine Erlebnisse in einer Woche im Januar 1942 im vom deutschen besetzten Leningrad berichtet.
3.1 Inhaltszusammenfassung
Der Roman beginnt in der Gegenwart, in der ein Drehbuchautor aus Los Angeles beschließt, die Erlebnisse seiner Großeltern zur Zeit der Besatzung Leningrads niederzuschreiben. Dafür besucht er sie in Florida und erzählt schließlich die Geschichte seines Großvaters im Winter 1942 in Leningrad, als das Gebiet von deutschen Soldaten belagert wurde41.
Der 17-Jährige Jude Lew wird im Winter des Jahres 1942 in Piter, dem heutigen Sankt Petersburg, beim Plündern eines toten deutschen Soldaten erwischt. Auf Plünderung, das nicht Einhalten der Ausgangssperre und eigenmächtiges Entfernen von einem Feuerlöschtrupp, den er angehörte, stand die sofortige Exekution42. Er wird ins berüchtigte Kresty-Gefängnis in Leningrad gebracht. Seit dem Ausbruch des Krieges hatte niemand mehr diesen Ort lebend verlassen. Dort lern Lew seinen Mithäftling Kolja kennen. Ein gutaussehender, charismatischer Soldat der Roten Armee, der wegen Desertation festgenommen wurde. Trotz des androhenden Todes scheint er keine Angst zu empfinden43. Es geschieht etwas Unglaubliches, anstatt Exekutiert zu werden, erhalten beide die Chance am Leben zu bleiben, wenn sie folgende Aufgabe innerhalb weniger Tage erfolgreich absolvieren: Sie sollen für den Oberst des russischen Geheimdienstes ein Dutzend Eier für die Hochzeitstorte seiner Tochter besorgen. Dies scheint eine unlösbare Aufgabe zu sein, weil Leningrad seit Monaten von den Deutschen eingekesselt wird, Lebensmittel sind rar und Eier haben die Beiden vor Monaten das letzte Mal gesehen. Der Oberst behält die Lebensmittelkarten der Jungen. Ohne diese werden sie auf Dauer sicher verhungern44.
Damit beginnt das Abenteuer von Lew und Kolja, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Kolja der kräftige, schlagfertige und mutige Frauenheld und Lew, der magere und ängstliche Junge, der bei Frauen keinen Erfolg hat. Die Suche nach den Eiern führt sie durch halb Leningrad und darüber hinaus, hinter die feindlichen Linien. Der Leser erfährt während der Suche einiges über die Zustände in Leningrad, die Lebensmittelknappheit, die Besatzung, den psychischen Druck auf die Bevölkerung Leningrads, die Propaganda der Deutschen und der Russen und der Kriegsführung beider Parteien.
Zwischen Lew und Kojak entwickelte sich allmählich eine tiefe Freundschaft. Auf ihrer „Reise“ treffen sie auf eine Partisanengruppe. In dieser befindet sich Vika, eine Scharfschützin des NKWDs, welche die Jungs eine ganze Weile begleitet. Zwischen Lew und ihr entwickelt sich eine Liebesgeschichte. Letztendlich begegnen sie den Einsatzgruppen der Waffen- SS und der deutschen Gebirgsjäger und schleichen sie heimlich in deren Gefangenschaft45. Ziel der Dreien ist es Abendroth, einen brutalen SS-Oberst zu töten. Kojak schafft es durch seine charismatische Art ein Schachspiel zwischen Abendroth und Lew, der früher Turniere spielte, zu arrangieren. Die Zeit die Eier aufzutreiben wird dabei immer knapper. Abendroth lässt sich nicht so leicht austricksen und erkennt sofort das Vika ein Mädchen, Lew ein Jude und Kolja ein Soldat der Roten Armee ist. Wenn Lew das Spiel gewinnen würde, dann würde er Vika freilassen und ihn behalten, damit er jeden Abend mit ihm Schach spielen könne, kein anderer könne mit ihm mithalten. Außerdem würden sie ihre Eier erhalten. Kolja müsse er allerdings töten46. Als die Partie fast ihr Ende erreichte, griff Lew mit einem eingeschmuggelten Messer Abendroth an, der Lews Plan gerade noch durchschaute. Daraufhin bricht ein Kampf zwischen den Soldaten, den Aufpassern von Abendroth, ihm selbst und den Dreien, aus. Dabei tötet Lew Abendroth mit dem Messer und rettet Vika und Kolja das Leben47. Von einem ängstlichen kleinen Jungen wird er zu einem Helden. Sie flüchten und Vika trennt sich von den Jungs48. Als Kolja und Lew die russische Grenze von Leningrad erreichen, wird Kolja angeschossen, weil die Soldaten der russischen Armee die Beiden zuerst für Deutsche halten49. Am Ende stirb Kolja und Lew schaffte es, die Eier zum Oberst des russischen Geheimdienstes zu bringen, um dort zu erfahren, dass er bereits im Besitz von zwei Dutzend Eiern ist. Lew erhält als Belohnung seine Freiheit und zwei für Offiziere gültige Lebensmittelmarken50.
Jahre später, als die Besatzung überstanden war, steht Vika plötzlich vor seiner Tür. Die Beiden sind bis heute ein Paar51.
3.2 Sachanalyse
Die folgende Beschreibung der historischen Geschehnisse wird sich aufgrund der zeitlichen Fixierung des Romans „Stadt der Diebe“ weitgehend auf die Ereignisse im Winter 1941 und 1942 in Leningrad beziehen.
Ohne Kriegserklärung fand der Vormarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in drei Heeresgruppen52 statt. Die Heeresgruppe Nord53 marschierte von Ostpreußen durch die baltischen Länder bis nach Leningrad54. Das Ziel war die Einnahme des Baltikums, Besetzung der Ostseehäfen und die Eroberung von Kronstadt und Leningrad55. Dabei bauten sie auf die Unterstützung Finnlands, die am 26. Juni 1941 eine Kriegserklärung an die Sowjetunion herausgaben56.
Bereits im Dezember 1940 verlautet Hitler in Weisung Nr.21 „Fall Barbarossa“, Leningrad soll eingenommen werden57. Militärische Unterlagen weißen darauf hin, dass die Belagerung im Juni 1942 eine bewusste Entscheidung Hitlers und der Wehrmacht gewesen war. Das Ziel lautete, die Bewohner Leningrads größtenteils verhungern zu lassen, um die „slawischen Untermenschen“ auslöschen zu können. Damit wären sie nicht in der Pflicht gewesen zusätzlich zu den eigenen Leuten diese „Barbaren“ durch den Winter bringen zu müssen58. Die OKW59 besaß klare Vorstellungen über die Zukunft von Leningrad, zunächst die Einschließung und schließlich die Zerstörung der Stadt und Zermürbung der Bewohner durch Hunger, Artilleriebeschuss und Luftbombenangriffe. Die restlichen Einwohner sollten vertrieben oder in Gefangenschaft genommen werden. Der letzte Schritt sollte der Abtritt des Gebietes an die Finnen sein60.
Die 18. Armee61 nahm mit Unterstützung Estlands Anfang August die linke Flanke der Sowjetunion ein, die Panzertruppe 4 näherte sich dem Zentrum Leningrads und die 16. Armee verursachte in Cudovo eine Unterbrechung der Bahnverbindung nach Moskau. Ein paar Tage darauf gelangte die Panzertruppe 4 nach Neva und nahm schließlich am 8. September
Schlüsselberg am Ladogasee ein, wodurch der Landweg abgeschnitten wurde62. Der Frontverlauf63 im Dezember 1941 begann an der Küste bei Strelna, setzte sich in südöstlicher Richtung fort, an den Städten Ulrick und Pulkovo vorbei und schloss am Ladogasee nach Nordosten an. Darauf wurde ein ungefähr 10 km am Ladogasee anschließender Abschnitt, besetzt und fiel südöstlich zum Volchov an Zicharevo ab64. Die Finnländer sollten von Norden aus den anderen Teil des Ladogasees einschließen65. Am 8. Dezember ging Hitlers Weisung Nr.39 raus, die besagte, dass das Eisen- und Straßenbahnnetz zwischen Tichwin und Volchov unter Kontrolle gebracht werden muss, um sich somit mit Finnland zu vereinigen und Leningrad komplett einzuschließen66. Der komplette Einschluss konnte nicht erreicht werden67.
Am 7.Oktober 1941 erteilte die Wehrmacht das Oberkommando, eine Kapitulation Leningrads sei abzulehnen und alle Leningrader seien bei einer Grenzüberschreitung zu erschießen68. Die Bewohner der Stadt wurden als die Verursacher der Oktoberrevolution, damit als die Ursache für das Ende des Kaiserreiches 1918 und der wahrgenommen. Weiterhin wurde die Stadt als der Kern der jüdischen und asiatischen Bedrohung Europas und des Bolschewismus propagiert69.
Die Stadt besaß eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung für die UDSSR und Deutschland. Sie war das zweitgrößte Industriezentrum und machte 10% der kompletten Kriegsindustrie der UDSSR aus70. Die Bewohner selbst sahen sich als die Verteidiger einer Stadt an, die sie als Symbol für die „Teilhabe des Fortschrittes der europäischen Moderne“71 angesehen hatten. Deren Zerstörung würde die Kultur Russlands im Kern vernichten. Viele Bewohner wollten daher freiwillig in der Stadt bleiben und diese verteidigen72. Zu Beginn der Belagerung konnten mehr als 600 000 Menschen evakuiert werden. Vielen gelang die Flucht nicht mehr73.
[...]
1 Vgl. Sauer, M.: Historische Kinder- und Jugendliteratur. In: Geschichte lernen, 71, 1999, S.18.
2 Vgl. ebd., S. 19.
3 Vgl. ebd., S. 23.
4 Vgl. Rox-Helmer, M: Jugendbücher im Geschichtsunterricht. Wochenschauverlag, 2006, S. 32.
5 Vgl. Hessisches Kultusministerium (b): Lehrplan Geschichte. Bildungsgang Hauptschule Jahrgangsstufen 5 bis 9/10. Text abrufbar unter: https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/HKM/lphauptgeschichte.pdf, S.17. (Zugriff am 25.01.2018)
6 Vgl. Hessisches Kultusministerium (c): Lehrplan Geschichte. Bildungsgang Realschule Jahrgangsstufen 5 bis 10. Text abrufbar unter: https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/HKM/lprealgeschichte.pdf, S. 23. (Zugriff am 25.01.2018)
7 Vgl. Hessisches Kultusministerium (a): Lehrplan Geschichte. Gymnasialer Bildungsgang Jahrgangsstufen 6 bis 13.Text abrufbar unter: https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/g9-geschichte.pdf, S.36. (Zugriff am 25.01.2018)
8 Hessisches Kultusministerium (b), S. 17/ Hessisches Kultusministerium (c), S. 23.
9 Hessisches Kultusministerium (a), S. 36.
10 Vgl. Sauer, M., S. 18.
11 Vgl. Rox-Helmer, M, S. 16.
12 Vgl. Sauer, M., S.19.
13 Vgl. Rox-Helmer, M., S.17.
14 SuS steht in dieser Arbeit für Schüler und Schülerinnen.
15 Vgl. Rox-Helmer, M., S. 32.
16 Vgl. Sauer, M., S.19.
17 Vgl. Rox-Helmer, M., S. 20.
18 Reeken, D.: Das historische Jugendbuch. In: Pandel, H./Schneider, G. (Hrsg.): Medien im Geschichtsunterricht. Wochenschauverlag, 2010, S.72.
19 Vgl. ebd., S.72.
20 Vgl. Sauer, M., S.19.
21 Siehe Anhang, Abbildung 1, „Erläuterungen zu den Dimensionen des Geschichtsbewusstseins“ nach Pandel, S.26.
22 Vgl. Rox-Helmer, M., S.28-30.
23 Vgl. ebd., S.31 -32.
24 Vgl. Rox-Helmer, M., S.35.
25 Vgl. ebd., S. 36-37.
26 Vgl. Reeken, D., S.77.
27 Siehe Anhang, Abbildung 2 „Stichworte zur Analyse und Bewertung historischer Jugendbücher“, S.27.
28 Vgl. Rox-Helmer, M., S. 49.
29 Vgl. Sauer, M., S.21.
30 Vgl. Rox-Helmer, M., S.54.
31 Vgl. Sauer, M., S.22.
32 Vgl. Rox-Helmer, S.18
33 Vgl. Reeken, D., S.77.
34 Vgl. Rox-Helmer, M., S. 55-57.
35 Vgl. ebd., S. 49-50.
36 Vgl. ebd., S.50-51.
37 Vgl. ebd., M., S. 53.
38 Vgl. ebd., M., S. 54.
39 Vgl. Rox-Helmer, M., S.56-57.
40 Vgl. Reeken, D., S.77.
41 Vgl. Benioff, D.: Stadt der Diebe. Heyne,2008, S. 9-15.
42 Vgl. ebd., S. 28-33
43 Vgl. ebd., S. 34-42.
44 Vgl. ebd, S.51-62.
45 Vgl. Benioff, D., S.272-276.
46 Vgl. ebd., S. 324-331.
47 Vgl. ebd., S 342-345.
48 Vgl. ebd., S 345-352.
49 Vgl. ebd., S 361-363.
50 Vgl. ebd., S 371-376.
51 Vgl. ebd., S 377-381.
52 Eine Heeresgruppe bestand aus bis zu 1. Millionen Soldaten, die dem Oberkommando der Wehrmacht und des Heeres unterstanden (vgl. Keller, B.: Der Ostfeldzug-Die Wehrmacht im Vernichtungskrieg. Planung, Kooperation, Verantwortung. Diplomica, 2012, S.49-50.)
53 Diese bestand anfänglich aus der Panzergruppe 4, der 16. und 18. Armee (vgl. Ganzenmüller, J.: Das belagerte Leningrad 1941-1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. In: Förster, S./et.al. (Hrsg.): Krieg in der Geschichte, Band 22, Ferdinand Schöningh, 2005, S.14).
54 Vgl. Jahn, P. (Hrsg.): Blockade Leningrads: 1941 - 1944. Dossiers. Links, 2004, S.38.
55 Vgl. Ganzenmüller, J., S.13.
56 Vgl. Jahn, P., S.38.
57 Vgl. Hürter, J.: Die Wehrmacht vor Leningrad 1941/1942. In: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 49 (3),2001, S. 392.
58 Vgl. Jahn, P., S.14.
59 OKW ist die Abkürzung für Oberkommando der Wehrmacht.
60 Vgl. Hürter, J., S. 399.
61 Oberbefehlshaber der 18. Armee war Generaloberst Georg von Küchler (vgl. ebd., S. 372).
62 Vgl. Hürter, J., S. 392.
63 Siehe Anhang, Abbildung 3 „Karte vom Frontverlauf der Heeresgruppe Nord im Dezember 1941“, S.28.
64 Vgl. Hürter, J., S.407.
65 Vgl. Ganzenmüller, J., S.27.
66 Vgl. Salisbury, H: 900 Tage: Die Belagerung von Leningrad. Büchergilde Gutenberg, 1972, S. 401.
67 Vgl. Ganzenmüller, J., S.27.
68 Vgl. ebd., S.22.
69 Vgl. Jahn, P., S.17-18.
70 Vgl. ebd., S.19.
71 ebd., S.22.
72 Vgl. Jahn, P., S.22.
73 Vgl. Reid, A.: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941-1944. Bloomsbury Publishing, 2011, S.15.