Der Konflikt als gesellschaftliches Integrationsmittel


Seminararbeit, 2000

19 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. DIE NEUBEFRAGUNG DES POLITISCHEN
2.1 DAS SYMBOLISCHE DISPOSITIV DER DEMOKRATIE UND DER LEERE ORT DER MACHT
2.2 DEMOKRATIE UND TOTALITARISMUS

3. KONSENS ODER KONFLIKT?
3.1. INTEGRATION DURCH KONFLIKT
3.2 ZIVILER UNGEHORSAM: DIE DEMOKRATISCHE FRAGE NEU GESTELLT
3.3 POLITISCHE INSTITUTIONEN ALS INTEGRATIONSINSTANZEN
3.4 KONFLIKTE: GESELLSCHAFTLICHER KITT ODER LÖSUNGSMITTEL?

4. FAZIT

LITERATURVERZEICHNIS

Einleitung

Seit Anfang der achtziger Jahre hat das kommunitaristische Denken im angelsächsischen Raum an Einfluß in intellektuellen Kreisen, aber auch in der praktischen Politik gewonnen. Die kommunitaristische Position äußert sich vor allem in einer Kritik am Liberalismus: „Das liberale Menschenbild hatte anfangs eine befreiende Wirkung gegenüber althergebrachten Ordnungen, die liberale Gesellschaft selbst war aber für ihr funktionieren immer auch auf Bürgerengagement und Bürgertugenden angewiesen.“ (Reese-Schäfer 7) Der liberale Staat „zehrt passiv von ethischen Ressourcen, die er innerhalb seines eigenen Regelwerks selbst nicht reproduzieren kann.“ (Dubiel 130) Das allgemeine Gut ist, zumindest für klassische Liberale, ausschließlich „die öffentliche Garantie des Rechts auf die Verfolgung des privaten Glücks“. (Dubiel 131)

Die Kommunitaristen kritisieren, daß eine Gesellschaft, die sich konsequent auf atomisierte , voneinander isolierte und ihren Eigeninteresse verfolgende Individuen stützt, ihre eigenen Grundlagen untergräbt. Weiter appellieren sie an eingelebte Verhaltensweisen und Traditionen. (Reese-Schäfer 7-8)

Gegen Ende der achtziger Jahre stoßen die Thesen der Kommunitaristen auf das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Als Reaktion auf den „Liberalismus der Gier“ und die rücksichtslose Selbstbereicherung während der Reagan-Ära, wurde der Wunsch nach gemeinschaftlichen Werten laut. So war der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf 1992 von kommunitaristischen Themen wie der Einführung einer öffentlichen Krankenkasse bestimmt. Bill Clinton ging nicht zuletzt, weil er an den Gemeinsinn der Amerikaner appellierte als Sieger hervor, obwohl seiner mittelständischen Wählerschaft durchaus klar war, daß seine Regierung sie mit höheren Abgaben belasten würde. (Reese-Schäfer 9)

In der Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen geht es im Kern darum, welches Minimum an normativ integrierenden Überzeugungen in einem demokratischen Staat vorausgesetzt werden müssen. Das Ausmaß an Konsens, dessen eine demokratische Gesellschaft bedarf ist je nach Position unterschiedlich. Im Fall der Radikalliberalen beruht die Legitimität staatlicher Institutionen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller Bürger, moralisch strittige Fragen werden in den privaten Bereich verdrängt. Der philosophisch- theoretisch argumentierende Kommunitarist Alisdair McIntyre orientiere sich an der traditionellen Tugendlehre, für ihn „decken sich die über tradierte Definitionen des guten Lebens integrierten kulturellen Gemeinschaften mit den politisch geeinten“. (Dubiel 132)

Zwischen beiden Extremen liegen mannigfaltige Nuancen, je nach Maßgabe des konsensuellen Bereiches.

Der deutsche Sozialwissenschaftler Helmut Dubiel stellt diametral zu den Annahmen, die den Kommunitarismusstreit beherrschen, in Anlehnung an die französischen Demokratietheoretiker Claude Lefort und Marcel Gauchet, die These auf, daß demokratische Gesellschaften, sich nicht über Konsens, sondern über Konflikte integrieren. In vorliegender soll zunächst die von Lefort und Gauchet entworfene Theorie, die „das vom Totalitarismus geleugnete Phänomen der gesellschaftlichen Teilung und des Konflikts in den Mittelpunkt rückt[e]“ (Marchart 121), erläutert werden. Anschließend wird Dubiels Argumentation vorgestellt. Anhand eines Beispiels, namentlich des in der alternativen Kultur geübten zivilen Ungehorsams werden die theoretischen Annahmen auf den bundesrepublikanischen Kontext angewandt. Abschließend werden Dubiels Thesen kritisiert bzw. relativiert.

Die Neubefragung des Politischen1

Die von Lefort entwickelte und von seinem Schüler Gauchet weitergedachte politische Theorie stellt „ein Denken der Brüche“ dar. (Marchart 120)

Der in der Biographie Leforts verankerte Bruch mit dem Marxismus, bei gleichzeitiger Verwerfung des Liberalismus und der positivistischen Sozialwissenschaften, führt ihn zu einer Neubefragung „traditionell republikanischer Referenzpunkte“ wie Machiavelli, de Tocqueville, die amerikanische Revolution und die Menschenrechtserklärung. Über diesen Umweg entwirft er eine Theorie des Totalitarismus, der Demokratie und der Zivilgesellschaft.2

2.1 Das symbolische Dispositiv der Demokratie und der leere Ort der Macht

Lefort fragt zunächst nach der Form des Sozialen. Die Form bezeichnet er als symbolisches Dispositiv. Das Politische ist dabei nicht im Staat allein lokalisiert. Formgebung ist gleichzeitig Sinngebung (mise en sens) und Inszenierung (mise en scène):

Sinngebung, da der gesellschaftliche Raum sich als Raum des Intelligiblen entfaltet, insofern er sich gemäß einer je spezifischen Form der Unterscheidung zwischen dem Realen und Imaginären, dem Wahren und Falschen, dem Gerechten und Ungerechten, dem Erlaubten und Verbotenen, dem Normalen und dem Pathologischen aufgliedert. Inszenierung, da dieser Raum in seiner jeweiligen Verfassung (sei sie aristokratisch, monarchisch oder despotisch, demokratisch oder totalitär) eine Quasi-Repräsentation seiner selbst enthält. (Lefort 284-285 [b])

Gesellschaft repräsentiert sich selbst gegenüber als Ganzes. Doch wenn der gesellschaftliche Raum trotz aller Teilungen als ein und derselbe organisiert sein soll, impliziert dies die Bezugnahme auf einen externen Punkt, von dem aus die Gesellschaft betrachtet und benannt werden kann. Diese kann sich nur konstituieren, wenn sich ihrer Selbstidentität von einem symbolischen Pol aus manifestiert. Dieser Pol zeichnet sich durch eine radikale Ambiguität aus: Da der symbolische Pol nicht Teil des Inneren der Gesellschaft sein kann - denn sonst ließe sich die Gesellschaft nicht von ihm aus überblicken - muß er außerhalb liegen. Doch wenn die Gesellschaft als umfassend und integral dargestellt wird, kann ein solcher Ort jenseits der Gesellschaft gar nicht existieren. Für Lefort besteht die Notwendig einer symbolischen Repräsentation der Gesellschaft für diese selbst, auch wenn das eigentlich unmöglich ist. Er spricht daher auch von „Quasi-Repräsentation“ und gibt dem symbolischen Ort den Namen Macht. (Marchart 124)

„Einerseits veräußert sich der Ort der Macht der Gesellschaft gegenüber, um in der Abtrennung deren Einheit zu gründen, andererseits gelingt diese Gründung der Macht nur, insofern sie Teil der Gesellschaft und damit im Inneren der Gesellschaft bleibt. (Marchart 124)

Aus der „Theorie von den Zwei Körpern des Monarchen“, die es im Folgenden noch zu erläutern gilt, leitet Lefort das Theorem ab, daß „in der Demokratie der symbolische Ort der Macht leer ist.“ (Marchart 125)

In vormodernen Herrschaftsformen mit traditionell-religiösen Legitimationsgrundlagen wurden Macht und Gesellschaft in der Person des Herrschers als symbolische und faktische Realität verkörpert. (Rödel 22) In Analogie zum Korpus Christi war der Körper des Monarchen „zweigeteilt in einen irdischen, sterblichen und individuellen Körper und einen himmlischen unsterblichen und kollektiven Körper“. (Marchart 125) Der Ort der Macht war personell besetzt und eindeutig lokalisierbar. Einerseits gehörte der Körper des Monarchen einem Bereich außerhalb der Gesellschaft an ,andererseits projizierte „die Gesellschaft ihre imaginäre, organische Einheit auf das Bild des Körpers des Monarchen“. (Marchart 125) Die Idee zweier Körper veranschaulicht, daß eine Teilung besteht, d.h. der König ist mit sich selbst nicht identisch und so kann es auch die Gesellschaft nicht sein.

Im Laufe des Säkularisierungsprozesses, der seinen symbolischen Höhepunkt mit der Guillotinierung Louis XVI erreicht, erfolgt eine Dekorporierung der Macht, mit der Folge, daß Macht und Gesellschaft aus der symbolischen Verschränkung im sakralen Körper des Monarchen auseinandertreten können. Von nun an muß die Gesellschaft aufgrund eines leeren Ortes der Macht, der keine greifbare Realität mehr darstellt, und einer „radikalen

Unbestimmtheit ihrer eigenen Legitimationsbasis“ fertig werden. Mit der Säkularisierung der Legitimationsgrundlagen der Macht kann sich eine autonome Zivilgesellschaft entwickeln, die Macht über sich selbst ausübt.

Weiter ist die Zivilgesellschaft durch interne Pluralität zerrissen, Interessenkonflikte lassen sich nicht dauerhaft versöhnen, die Sphären der Macht , des Rechts und des Wissens autonomisieren sich, der politische Konflikt wird als legitim und notwendig angesehen, vorausgesetzt er wird institutionalisiert und periodisch stattfindende Wahlen, erlauben keinem Akteur mehr, den leeren Ort der Macht auf Dauer symbolisch einzunehmen. (Marchart 126) Der Staat ist nicht mehr der exklusive Ort der Politik, sondern die Sphäre des Politischen bezeichnet den Ort, von dem aus die autonome Zivilgesellschaft ihrer eigene Geschichte hervorzubringen vermag, d.h. den Ort, an dem der „unaufhebbare und unabschließbare Konflikt innerhalb der Zivilgesellschaft über ihre Geschichte ausgetragen werden kann“. (Rödel 16)

Politik und Machtausübung sind nicht endgültig in den staatlichen Institutionen vergegenständlicht und sind ihnen nicht innerlich zugehörig. Die politische Handlungsfähigkeit verbleibt in der konflikthaften autonomen Zivilgesellschaft. (Rödel 16) Demokratische Institutionen bieten die Möglichkeit, daß sich die Formen der internen Konfliktaustragung zivilisieren. Der Rückgriff auf Gewalt zwischen den gesellschaftlichen Konfliktparteien oder auf staatliche Gewaltmittel durch die temporären Inhaber der Macht, bedeutet für Lefort und Gauchet das Ende von Macht und Politik und nicht die Freilegung des wahren Kerns. (Rödel 17)

2.2 Demokratie und Totalitarismus

Demokratie und Totalitarismus sind für Lefort und Gauchet Konsequenzen desselben historischen Entwicklungsprozesses der Säkularisierung der Legitimationsbasis von Machtausübung, sie sind mögliche Entwicklungen im Rahmen des symbolischen Dispositivs der Demokratie. (Rödel 13)

Totalitarismus darf demnach nicht als Gegensatz zur Demokratie aufgefaßt werden:

Denn der Totalitarismus geht aus einer politischen Mutation hervor; er ist in einer Umkehrung des demokratischen Modells begründet, das er zugleich in gewissen Zügen ins Phantastische verlängert. Er entspringt jener demokratischen Revolution, welche im 19. Jahrhundert die Gesellschaften vollständig umgewälzt hat. [...] Vergeblich versucht man diese Abstammung zu ignorieren. (Lefort 47 [c])

Demokratie enthält Totalitarismus immer schon als Tendenz. Lefort grenzt sich ausdrücklich von der ideologisch instrumentalisierten Totalitarismustheorie des Kalten Krieges ab, seines Erachtens „greift eine bloße Denunziation des Totalitarismus - wie [...] umgekehrt eine Apologie der realexistierenden Demokratie - eindeutig zu kurz“ (Marchart 126):

Zwar wurde der Totalitarismus mit [...] Vehemenz angegriffen, [...] ohne, daß man jedoch versucht hätte, ihn zu begreifen. Seine Kritiker haben es vorgezogen, die politische Reflexion zu diskreditieren, anstatt das Risiko einzugehen, zu denken anzufangen, nachdem die Gewißheiten des Sozialismus einmal zersetzt waren. Von der Monstrosität des totalitären Staates überzeugt, haben die zynischsten unter ihnen die Wohltaten der Herrschaftsformen entdeckt, in denen wir leben - während die überschwenglichsten die Kulisse einer gänzlich monströsen Geschichte aufzogen und die Tragödie des Menschen in Szene setzten. (Lefort 52 [c])

Lefort fordert dazu auf, „die Paradoxien einer Gesellschaft zu erforschen, die nicht mehr über die Repräsentation ihrer Ursprünge, Ziele und Grenzen verfügt und als rein weltliche von der Frage nach ihrer Einrichtung, nach ihrem Veränderungspotential [..] heimgesucht wird“. (Lefort 50 [c]) Da die Gesellschaft sich selbst erzeugen muß, neigt sie notwendigerweise zu den Phantasmen einer totalen Beherrschung des gesellschaftlichen Raumes, einer allwissenden Macht und eines allmächtigen Wissens. (Lefort 50 [c])

Der Totalitarismus wird in seinem Verhältnis zum leeren Ort der Macht bestimmt. Der Totalitarismus leugnet jegliche gesellschaftliche Teilung, Gesellschaft und Macht werden gleichgesetzt, wodurch sich der gesellschaftliche Raum homogenisiert und schließt. Der leere Ort der Macht wird neu besetzt und zwar durch die „Reinkarnation eines Gesellschaftskörpers“, namentlich die Partei, der Staat und die Bürokratie. Am Ende dieser Reinkarnationskette steht der Führer, der Egokrat. Die Macht verweist nicht mehr auf ein „Jenseits des Gesellschaftlichen“ wie in feudalen Zeiten, sondern es gibt nichts mehr außer ihr, sie ist grenzenlos. Die Macht bezieht sich auf eine Gesellschaft, die nichts außerhalb ihrer selbst erkennt, und sich als von den Menschen, die sie bevölkern, produzierte Gesellschaft zu vollenden scheint. Hier drängt sich das Bild der Maschine auf: Während sich die Gesellschaft als Gemeinschaft präsentiert, deren Mitglieder strikt solidarisch sind, wird sie gleichzeitig aufgebaut. Mit dem Ziel einen neuen Menschen zu erschaffen, lebt die Gesellschaft in einem Zustand andauernder Mobilmachung. (Lefort 288 [b])

Im Gegensatz zum Monarchen ist der Egokrat also mit sich selbst identisch, sowie die Gesellschaft die er inkarniert.

Doch damit man sich den Volkskörper auch wirklich als ein Ganzes vorstellen kann, bedarf es auch hier wieder eines internen Außens. Für den Totalitarismus ist es der Volksfeind. Die Bekämpfung der Volksfeinde kommt einer Eliminierung der Parasiten gleich, die die Identität des Körpers zu zersetzten drohen. Das totalitäre Dispositiv basiert auf einem Widerspruch: Einerseits verneint es die internen Spaltungen, andererseits beruft es sich auf die Teilung zwischen dem einheitlichen Volk und seinem konstituiven Anderen, dem Feind. (Marchart 128) „Sein wichtigstes Mittel“, so Gauchet, „ist gerade jene Spaltung, die [es] abzuschaffen behauptet.“ (Gauchet 220)

Die Verleugnung der Teilung und des leeren Ortes der Macht ist letztlich zum scheitern verurteilt, da der ideologische Diskurs die Brüche und Risse im Gesellschaftskörper zwar verkleistert, doch gleichzeitig läuft er immer die Gefahr, als partikularer Diskurs einer bestimmten Klasse oder Gruppe wahrgenommen zu werden und neue Spaltungen zu verursachen. (Marchart 128)

Konflikte und Kämpfe werden im demokratischen Dispositv nicht geleugnet, sondern auf einer symbolischen Ebene, beispielsweise mittels demokratischer Wahlen, ausgetragen. Interessenkonflikte werden in den politischen Prozeß übertragen. Es kommt zu einer Institutionalisierung des Konflikts, er wird als Instanz legitimiert.

3 Konsens oder Konflikt?

An dieser Stelle knüpft Dubiel3 an die Theorie Leforts und Gauchets an, indem er die Demokratie als „Projekt einer Gesellschaft, die sich einzig in der institutionalisierten Anerkennung ihrer normativen Desintegration integrieren kann“, definiert. (Dubiel 134) Eine symbolische und normative Integration politischer Gemeinschaften ist lediglich im Fall traditioneller Ständegesellschaften, die sich auf ein einheitliches religiöses Weltbild beziehen, möglich sowie im Fall totaler Herrschaft. Die Säkularisierung und Pluralisierung moderner Gesellschaften begründen deren konfliktuelle Beschaffenheit und machen den Streit um ein Mehr oder Weniger an Konsens obsolet.

3.1. Integration durch Konflikt

Demokratische Gesellschaften sind charakterisiert durch eine „institutionalisierte Infragestellung ihrer selbst.“ (Dubiel 133) Sie geben auf einen unabschließbaren Kreis politischer Fragen immer gegensätzlichere Antworten. Die politische Selbsteinwirkung gesellschaftlicher Gruppen ist, weil der Ort der Macht leer symbolisch leer bleibt, prinzipiell unbegrenzt. Gleichzeitig generiert die permanente Reflexion über eine gerechte Gesellschaftsordnung aufgrund der ökonomischen, sozialen und kulturellen Spaltungen höchst unterschiedliche Antworten. Je größer die politischen Partizipationschancen der Zivilgesellschaft, um so breiter wird das Spektrum der Meinungen und Zielvorstellungen. Es kommt zu einem ständig wachsenden Dissens, statt zu einem an traditionellen Wertvorstellungen orientierten Konsens de Tocqueville’scher Prägung. Es sind also nicht mehr „Ähnlichkeiten des religiösen Bekenntnisses, ethnischer Merkmale oder nationaler Tradition, die moderne Gesellschaften integrieren, sondern einzig ihr historisches Kapital ertragener Divergenz.“ (Dubiel 134)

Die Identifikation des Einzelnen mit der Gesellschaft als Ganzem erfolgt, wenn überhaupt, über den politischen Konflikt. Der Konflikt ist das Medium, in dem sich ein gemeinsam geteilter gesellschaftlicher Raum herausbildet. Nämlich indem sich die politischen Akteure über die Ziele ihrer Gesellschaft streiten, agieren sie als Mitglieder ein und derselben Gemeinschaft. Ohne ihre Antagonismen zugunsten eines imaginären Konsenses aufgeben zu müssen, integrieren sie sich in einen gemeinsamen symbolischen Raum. In einer „Kette [..] okkasionell erzielter Kompromisse bildet sich ein moralisches Kapital“ (Dubiel 135-136), das ein schwaches normatives Band der Gesellschaft abgibt. Der Konflikt wird nach gewissen Spielregeln ausgetragen, in einer wechselseitigen Respekthaltung zum Gegner.

Die Akteure sind sich in der Regel gar nicht bewußt, daß es dieses gemeinsame moralische Kapital überhaupt gibt. Sie haben kein Bewußtsein, daß ihre Gegnerschaft zur Schaffung eines gemeinsamen symbolischen Raumes beiträgt. Auch erfolgt der Prozeß, in dem sich das Gemeinsame im Anderssein herausbildet ohne das Bewußtsein der Beteiligten. Dieser Prozeß basiert weder auf traditionell vermittelten Werten, noch auf einem von der politischen Elite bestimmten Wertekodex, sondern auf eben jenem Interessenkonflikte „hegenden“ moralischen Kapital, das sich im Laufe des Prozesses selbst erst herausgebildet hat. (Dubiel 135-136) Die oben angesprochenen Spielregeln der Konfliktaustragung sollen verhindern, daß die strategische Gegnerschaft in Gewalt ausartet und nur noch desintegrativ wirkt.

Wie schon bei Lefort und Gauchet wird der Konflikt in demokratischen Institutionen zivilisiert.

Die gesellschaftlichen Konflikte werden in „einem offenen Wettkampf um die Macht“ umgewandelt und die gesellschaftlichen Spaltungen werden in der Demokratie faktisch anerkannt. Die Gefahr, daß die Gesellschaft auseinanderbricht wird durch die Repräsentation der verschiedenen Interessengruppen im politischen System gebannt.

Die marxistische Arbeiterbewegung wollte die Klassengegensätze aufheben und die Gesellschaft auf ewig befrieden, doch hat sich unbeabsichtigt dazu beigetragen, daß die Demokratie zur „Bühne der Inszenierung gesellschaftlicher Fundamentalkonflikte“(Dubiel 136) wurde. Nachdem der Rechts-Links-Gegensatz zur „Konfliktmatrix“ (Dubiel 136) moderner Demokratien geworden ist, haben die Arbeiterparteien das Prinzip der Unversöhnlichkeit in das politische Spektrum der bürgerlichen Gesellschaft eingeführt. Sie initiierten ein modernes Verständnis demokratischer Politik, in der es keine substanzielle, gesellschaftlich allgemein anerkannte Gemeinwohlvorstellung mehr gibt. Die einzelnen Parteien müssen ihre unversöhnlichen Interessen und Orientierungen nicht einem vordergründigen Konsens opfern. In den letzten Jahrzehnten sind noch die Ökologie- und die Frauenbewegung mit ihren ganz besonderen Interessen und Forderungen dazugestoßen.4

3.2 Ziviler Ungehorsam: Die demokratische Frage neu gestellt

Wie schon weiter oben angedeutet, begreift Dubiel die Demokratie als das Projekt einer Gesellschaft, die sich in ihrer normativen Desintegration integriert. Demokratie ist ein Projekt, d.h. keine fertige Angelegenheit. Der demokratische Entwicklungsprozeß ist nicht abgeschlossen: Von der programmatischen Losung der siebziger „mehr Demokratie zu wagen“, über die Praxis des zivilen Ungehorsams der achtziger Jahre, bis hin zu den jüngsten Forderungen nach direkter Bürgerbeteiligung und plebiszitären Elementen angesichts der Parteienkrise.

Am Beispiel der zivilen Ungehorsam soll nun veranschaulicht werden, wie die Zivilgesellschaft den neben dem leeren Ort der Macht bestehenden symbolischen gesellschaftlichen Raum ausfüllt. Die Praxis der passiven Resistenz, wie der zivile Ungehorsam auch noch genannt wird, zeigt, daß die Teilnahme der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten sich nicht immer problemlos institutionell kanalisieren läßt. Die Bundesrepublik Deutschland unterhält ein gestörtes Verhältnis zu den Rebellen und Widerstandskämpfern auf deutschem Boden. Trotz Vormärz und Weimarer Republik besitzt Deutschland keine feste revolutionäre Tradition. Der loyale, konformistische Staatsbürger paßt besser in die politische Kultur Deutschlands, als der Freiheitskämpfer und radikale Demokrat:

Noch die erstaunlich stabile und erfreulich freiheitliche parlamentarisch-repräsentative Demokratie der Bundesrepublik erweist ihre Streitbarkeit immer wieder in der Abgrenzung gegen Weimar und in der Ausgrenzung von „Staats- und Verfassungsfeinden“, von „Extremisten“ und „Radikalen“ - mit der Tendenz, nicht nur verfassungskonformes Handeln, sondern eine staatstreue Gesinnung einzufordern, und mit der Gefahr, den öffentlichen Streit der Meinungen, das Lebenselixier einer freiheitlichen Demokratie, in die Fesseln von Loyalitäts- und Ausgewogenheitspflichten zu schlagen. (Rödel, Frankenberg, Dubiel 24) In: Kohler-Koch, Beate (Hrsg.): Staat und Demokratie in Europa. Opladen 1992, S.130-137.

Die deutsche Demokratie gibt den Pazifisten, Umweltschützern und AKW-Gegnern auch heutzutage nur wenig Rückendeckung. Noch immer steht der Staat im Mittelpunkt politischen Handelns, die dem Staat gegenübertretende Zivilgesellschaft muß gemäß einer derartigen Politikauffassung als entpolitisierte Sphäre verstanden werden.

Der zivile Ungehorsam kann nicht primär als kriminelle Handlung angesehen werden, als „gezielte, normativ begründete und begrenzte Regelverletzung“ (Rödel, Frankenberg, Dubiel 22) ist er nicht Selbstzweck, sondern „steht er für etwas, das sich nicht aus der Behinderung anderer, nicht aus der übertretenen Rechtsnorm und nicht einmal aus dem konkreten Anlaß vollständig erschließen läßt“. (Rödel, Frankenberg, Dubiel 26) Es geht dabei nicht um die Befriedigung von Eigeninteressen oder um den Selbstvollzug politischer Vorstellungen, sondern vielmehr um einen Appell an die Regierenden und die schweigende Mehrheit. Der zivile Ungehorsam ist auf Interaktion ausgerichtet. Die Protestierenden erwarten ein Feedback auf ihre Aktion, sei es von den anderen Bürgern oder den öffentlichen Institutionen. Sie maßen sich nicht an, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, sondern sie handeln mit der Absicht die Diskussion zu bestimmten Themen in Gang zu bringen. Also ist wer zivilen Ungehorsam übt, kein Revolutionär oder Partisan, sondern „ein Aktivbürger, der in der Begründung und Begrenzung des normverletzenden Protests, im Verzicht auf Gewalt und in der Inkaufnahme angemessener Sanktionen, die politische Gleichheit aller anerkennt“. (Rödel, Frankenberg, Dubiel 26) Er stellt die demokratische Frage neu.

Die passive Resistenz wird nur allzu gerne zur Gewalt verformt, da die Integrität des staatlichen Gewaltmonopols bedroht zu sein scheint. Eine passive Sitzblockade wird juristisch zur Nötigung, und schon wird der friedlichste Akt zur Gewaltanwendung. Weiter hat der Staat den Auftrag die Bürger zu schützen und kann demnach auch Gehorsam verlangen. Dem rechtsstaatlichen Sicherheitsauftrag korrespondiert eine unbedingte Friedenspflicht der Bürger. Diese Pflicht erlaubt keinen „selektiven Rechtsgehorsam“. Zivile Ungehorsam bedeutet demnach „ein Ausstieg aus dem Recht“. (Rödel, Frankenberg, Dubiel 30) Die demokratische Verfassung befiehlt jedoch nicht Gehorsam, damit Ordnung und Ruhe herrscht, sondern sie erwartet, daß der Staatsbürger sich aus freien Stücken loyal und verfassungstreu verhält. Diese Erwartung stützt sich aber auf die Vorstellung von Demokratie als Selbstregierung des Volkes („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Art.20 Abs.2 GG). Doch gerade auf diesen Artikel kann sich derjenige berufen, der zivilen Ungehorsam übt. Insofern kann der zivile Ungehorsam eigentlich nicht rechtswidrig sein, da das Volk als Souverän ja nicht unrecht tun kann. In der bundesdeutschen Staatsauffassung kommt jedoch den Staatsorganen Letztverbindlichkeit zu. Es sind nicht die politischen Institutionen, die sich vor den Bürgern rechtfertigen müssen. Die Bürger müssen ihrer Forderungen, und vor allem die Forderung, Forderungen erheben zu können, vor dem Staat legitimieren. (Marchart 138)

Doch letztlich will und muß der zivile Ungehorsam Rechtsbruch sein. Wer sich unter Berufung auf sein Gewissen oder die „Wahrheit“ im Recht sieht, begeht keinen zivilen Ungehorsam. Der Ungehorsame kennt die Spielregeln der Demokratie. Dadurch daß er Gesetze bricht, setzt er Zeichen und wird zum Aktivbürger. Er nimmt Abstand von „elitären Konzepten und Selbstermächtigungen“, damit „die Symbolisierungslast, die [er] auf sich [nimmt], von denjenigen anerkannt wird, denen die Aktivbürger die Ausübung staatlicher Gewalt auf Zeit anvertraut haben“. (Rödel, Frankenberg, Dubiel 40)

Rödel, Frankenberg und Dubiel halten „die durch die republikanische Verfassungsgebung symbolisierte Selbstbindung und Selbstverpflichtung aller Bürger zur Schaffung eines öffentlichen Raumes der Meinungs- und Willensbildung gegenüber dem Prozeß der demokratischen Gesetzgebung für vorgängig“. (Rödel, Frankenberg, Dubiel 40) Die auf Mehrheitsentscheidungen beruhende Gesetzgebung ist nicht der Revision entzogen. Allerdings können keine Minderheiten sich eigenmächtig über die Gesetze hinwegsetzen. Sie bleiben daran gebunden, Revisionen und Veränderungen in öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen in die Wege zu leiten. Die drei Autoren fordern, daß die Richter Akte zivilen Ungehorsams symbolisch würdigen und der Schuld angemessen bestrafen. Sitzblokaden sollen weder entschuldigt oder rechtfertigt, noch pauschal verurteilt werden. Sie stellen höchstens einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung und das Versammlungsrecht dar, aber keine Nötigung. Zivile Ungehorsam nötigt lediglich zum Nachdenken darüber, daß es letzte Verbindlichkeiten nicht gibt. Das säkularisierte Recht stellt keine letzten Gewißheiten mehr bereit, der Prozeß der Normsetzung und Normauslegung kommt nicht zum Stillstand, selbst die Verfassung kann ständig revidiert werden. Es existiert keine ewig währende letzte Instanz, die der normprüfenden Kritik der Bürger nicht unterworfen ist. Somit läßt sich die Sicht von Republik und Demokratie als unabgeschlossenes Projekt rechtfertigen. Der aktive Bürger kann auf Irrtümer rechtsförmig zustandegekommener Entscheidungen aufmerksam machen, indem er durch zivilen Ungehorsam und andere Protestformen Anstöße zur Rechtsänderung gibt. Die Legitimität zivilen Ungehorsams ist nicht juristisch, sondern sie ist theoretischer Natur.

Ziviler Ungehorsam bezieht sich zunächst auf Prinzipien, die in den Institutionen - entgegen der verbreiteten Meinung, die eingerichtete und funktionierende parlamentarische Demokratie entspräche annähernd dem Ideal - nicht vollständig umgesetzt werden, wie das Prinzip politischer Gleichheit. Das Schicksal von Minderheiten, insbesondere der Frauen, die sich ihre politische und rechtliche Gleichstellung hart erkämpfen mußten, zeigt wie langlebig Vorurteile sein können und gibt Auskunft über „die Begabung von Mehrheiten, sich vorzeitig am Ziel von Freiheit, Gleichheit und rechtsstaatlicher Demokratie zu wähnen“ (Rödel, Frankenberg, Dubiel 42). Die Debatten zum Einbürgerungs- oder Ausländerwahlrecht werfen die gleiche Problematik selbst im 21. Jahrhundert noch einmal auf. Zweitens soll zivile Ungehorsam seine Adressaten, d.h. die anderen Bürger und die politischen Institutionen, erreichen und Interaktion hervorrufen. Dies impliziert, daß derjenige der zivilen Ungehorsam übt, zur öffentlichen Diskussion über den konkreten Anlaß des Protests (Atomausstieg, Abrüstung,usw.) bereit ist.

Minderheiten können den öffentlichen Raum durch Protest in Anspruch nehmen und die jeweiligen Mehrheiten unter Legitimationsdruck setzen. Es geht dabei nicht darum die Regierenden etwa zu stürzen - die Entscheidungen der Mehrheit werden temporär von der protestierenden Minderheit anerkannt - sondern der Protest soll „jene vernünftigen, einsichtigen, allgemein zustimmungsfähigen Prinzipien“ (Rödel, Frankenberg, Dubiel 46) zum Ausdruck bringen, die die Chance haben früher oder später als Mehrheitswille anerkannt zu werden.

Ziviler Ungehorsam ist keine Tyrannei, Unordnung oder Usurpation, sondern eine Form der symbolischen Ausfüllung des gesellschaftlichen Raumes, um den Meinungsstreit und den Wechsel von Mehrheit und Minderheit in der Demokratie in Gang zu halten. (Rödel, Frankenberg, Dubiel 46) Er ist eine mögliche Äußerungsform der konflikthaften Beschaffenheit demokratischer Gesellschaften.

3.3 Politische Institutionen als Integrationsinstanzen

Gerhard Göhler kritisiert in seinem Koreferat zu Helmut Dubiel, daß die Konflikttheorie nicht weit genug greift.5 Seiner Meinung nach, stellen Konflikte allein keine ausreichende Bedingung für Integration dar. Würde man die Überlegungen zur gründenden Funktion des Konflikts ad absurdum führen, wäre der Bürgerkrieg die höchste Form der Integration. Auch Dubiels Ausführungen, daß die Integration der Bürger in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Raum unbewußt erfolge, überzeugen Göhler nur wenig: „Da feiert die invisible hand in ihrer schlichtesten Form fröhliche Urständ - die Bürger streiten sich, und das Ganze hält, ohne daß sie es wollen und wissen, zusammen.“ (Göhler 139-140)

Er fragt vielmehr danach, unter welchen Bedingungen Konflikte nicht desintegrierend wirken, und welche Mechanismen erforderlich sind, damit sie darüber hinaus auch integrierend wirken.

Nur eine nicht vollständig von Konflikten beherrschte Gesellschaft ist zur Konfliktaustragung tauglich. Göhler unterscheidet einen kontroversen Sektor, in denen die politischen Probleme ausgehandelt werden, und einen nicht-kontroversen Sektor, in dem Konsens über die inhaltlichen Zielvorstellungen für das Gemeinwesen und die Spielregeln der Auseinandersetzung herrschen. Beide Komponenten gehören zusammen und ermöglichen erst die Austragung von Konflikten im kontroversen Sektor.

Doch eine verhinderte Desintegration ist nicht gleich Integration. Voraussetzung für eine gesellschaftliche Integration ist die Ausbildung von kollektiver Identität. Diese ist gekennzeichnet „durch eine abgrenzbare Gemeinsamkeit der Sinnwelt und Situationsdeutung und ein von den Beteiligten verantwortetes kollektives Handeln, das auf Repräsentation, also stellvertretender Vergegenwärtigung und identitätsstiftender und -sichernder Gehalte und Ansprüche in politischen Institutionen beruht“. (Göhler 141) Göhler vertritt die Meinung, daß moderne Demokratien sich erfolgreich integriert haben, da zum einen der formale und wertrationale Grundkonsens, trotz einem unaufhaltbaren Wertewandel, dadurch aufrechterhalten wird, daß die Bürger eine affektive Wertbindung an das Gemeinwesen reproduzieren und zum anderen, weil die politischen Institutionen noch immer in der Lage sind, die Kohärenz des Gemeinwesens sinnlich wahrnehmbar zu machen. (Göhler 141)

Affektive Wertbindung und symbolische Repräsentation bedingen sich gegenseitig und sind unabdingbare Integrationsfaktoren. Eine einheitliche Wahrnehmung des Staates durch seine Bürger kann nur über seine Wahrnehmung als Wertgemeinschaft erfolgen. „Der Staat resultiert im Erlebnis der Totalität konkreter, die Rechtsordnung begründender Werte; sie sind für die Bürger, durch die Verfassung formuliert und symbolisiert.“ (Göhler 141) Integration realisieren sich also nicht wie bei Dubiel in der Zerrissenheit, sondern Konflikte können nur eine integrierende Wirkung haben, wenn vor dem Hintergrund eines allgemein anerkannten und gelebten Wertekodex ausgetragen werden. Göhler räumt allerdings ein, daß ein gemeinsames Werteerlebnis nicht der Normalfall ist, man denke da eher an Ereignisse wie die Montagsdemonstrationen in Leipzig, es verliere seine integrative Kraft, durch die Größe moderner Flächenstaaten und die hohen Bevölkerungszahlen, die es nicht erlauben, die Bürger unmittelbar miteinander zu verbinden, doch bleibe ein Mindestmaß an affektiver Wertbindung unverzichtbar. Zu Dubiels Verteidigung soll bemerkt werden, daß ja auch für ihn die Austragung von Konflikten an gewisse Spielregeln gebunden ist und nicht in Chaos und Anarchie ausartet. Nicht zufällig spricht er von „Konflikthegung“ (Dubiel 136), womit er deutlich macht, daß der Konflikt einerseits in der Demokratie ein kostbares Gut ist, das es zu pflegen und zu schützen gilt, anderseits etwas was man im Zaum halten muß. Die auf einem formalen und wertrationalen Grundkonsens basierende Integrationsleistung wird symbolisch durch die politischen Institutionen erbracht. „Institutionen sind vorhanden, ohne daß es einer permanenten aktuellen Erlebnispräsenz bedarf.“ (Göhler 142) Im Idealfall bringen die Institutionen die „Dynamik gemeinsamer Wertvorstellungen“ zum Ausdruck und sie entlasten gleichzeitig die Bürger vom unmittelbaren Erlebnisvollzug. Institutionen bilden eine fixen Rahmen für gesellschaftliches und politisches Handeln. Sie haben außerdem repräsentativen Charakter, sie sind repräsentierende Instanzen der Wertvorstellungen einer Gruppe als soziale Einheit, d.h. „Ausdruck der Ordnungsprinzipien des Gemeinwesens.“ (Göhler 142) Es handelt sich dabei um „die Sichtbarmachung eines Unsichtbaren“ (Göhler 142). Die symbolische Darstellung kann bildhaft, textlich oder handlungsbezogen sein. Sowohl Die Fahne eines Staates, als auch die geschriebene Staatsverfassung oder die Rede eines Bundespräsidenten können gemeinschaftliche Werteerlebnisse verkörpern und somit integrativ wirken. (Göhler 143)

Die gesellschaftliche Integration erfolgt also über die Institutionen. Die Bürger müssen sich in den politischen Institutionen wiedererkennen, sowohl sich, als auch die Einheit ihres Gemeinwesens. Es muß „ihr“ Staat sein und als solcher muß er auch veranschaulicht und faßbar gemacht werden. Dies soll nicht heißen, daß die gemeinsamen Wertvorstellungen Ewigkeitscharakter besitzen, sie können jederzeit innerhalb des institutionellen Rahmens geändert und weiterentwickelt werden. (Göhler 143)

Auch die in den modernen Demokratien fortschreitende Partikularisierung schließt eine auf Grundkonsens beruhende Integration, nach Göhlers Meinung; nicht aus. Die Pluralisierung von Lebensstilen verläuft auf einer gänzlich anderen Ebene. Es handelt sich um viel konkreter Wertvorstellungen, als die allgemeinen demokratischen Wertvorstellungen. Göhler führt hier an, es sei eine Frage der Integration in der Demokratie, Partizipation anzubieten, aber es müsse nicht unbedingt Sorge getragen werden, daß die Partizipationsmöglichkeiten umfassend und möglichst intensiv wahrgenommen werden. (Göhler 144) Demnach hatte die Bewilligung des Frauenwahlrechts seiner Zeit zweifelsohne eine integrative Wirkung, doch ob die Frauen dieses Recht auch in Anspruch nehmen und an den Wahlen teilnahmen ist ihnen selbst überlassen.

Auch wenn er dies nicht immer explizit zum Ausdruck, sieht Göhler den Staat und seine Institutionen auch im 20. Jahrhundert (wahrscheinlich auch im 21.) noch als die primäre Integrationsinstanz an. Die Zivilgesellschaft wie sie Lefort, Gauchet und auf bundesdeutscher Ebene Rödel, Frankenberg und Dubiel sehen, hängt davon ab, daß der Ort der Macht symbolisch und faktisch leer gehalten wird, also auch nicht durch Symbolisierungen wie Volk, Nation oder Staat dauerhaft ausgefüllt wird. Göhler wirft die Frage auf, wie leer ein Ort gehalten werden kann, wenn er nicht ganz aufgegeben werden soll.

Auch supranationale Institutionen wie die EU oder die Vereinten Nationen, sind kaum in der Lage zur integrierenden Instanz zu werden. Sie übernehmen vorwiegend politische Steuerungsfunktionen, da das Institutionsgefüge für die Bürger noch nicht (?) dauernd sichtbar ist und adäquat symbolisch repräsentiert wird. Während der Staat zunehmend an Steuerungskompetenz verliert, behält er jedoch seine integrierende Funktion.

3.4 Konflikte: gesellschaftlicher Kitt oder Lösungsmittel?

Wirken Konflikte nun integrativ oder lösen sie Die Gesellschaft auf? Es scheint, als ob man diese Frage nicht pauschal beantworten könne. Albert O. Hirschman vertritt eine sehr differenzierte Sichtweise.6

Für ihn sind es äußerst typische Konflikte, die in pluralistischen marktwirtschaftlichen Gesellschaften auftreten. Der Wettbewerbsmechanismus schafft soziale Ungleichheiten und regionale Gefälle. Die ungleiche Verteilung von Wohlstand wird sowohl von den Betroffenen, als auch von anderen Mitbürgern, die sich solidarisch zeigen, als Ungerechtigkeit empfunden. Sie fordern Reformen und eine Verbesserung der Verteilungssysteme zugunsten von mehr sozialer Gerechtigkeit. (Hirschman 212) Diese Art von Konflikten subsumiert Hirschman unter der Kategorie der „ Mehr-oder-Weniger-Konflikte“. Diese Konflikte sind äußerst häufig und können sehr unterschiedliche Formen annehmen. Besonders charakteristisch ist, daß es zu keiner definitiven Lösung des jeweiligen gesellschaftlichen Problems kommen kann. Es werden lediglich vorübergehend Kompromisse ausgehandelt. Das Problem kann jederzeit wieder neu aufgerollt werden. Westliche Demokratien „wursteln“ sich, nach Hirschman, von einem Konflikt zum anderen durch. (Hirschman 213) Durch die Vielzahl der Konflikte, die die modernen Demokratien heimsucht, lernen diese ihre Krisen zu managen, indem sie sich ihnen offen stellen, anstatt sie zu ignorieren. Die Kommunisten sahen in der konflikthaften Beschaffenheit kapitalistischer Gesellschaften die Voraussetzung für den Zusammenbruch des Kapitalismus und leugneten die Spaltungen und Krisen in ihrer eigenen Gesellschaft. (Hirschman 212)

Neben den Konflikten bei denen es um ein Mehr oder Weniger geht und die Möglichkeit besteht daß die Konfliktparteien sich auf halbem Wege treffen, unterscheidet Hirschman noch die Kategorie der „Entweder-Oder-Konflikte“. Hierbei handelt es sich zumeist um ethnische, linguistische oder religiöse Spaltungen. Die einzelnen Gruppen vertreten besondere Interessen, die einen Kompromiß nur schwer zulassen. Dubiel hat in seiner Argumentation ebenfalls die Dimension der Unversöhnlichkeit eingeführt, indem er auf die Rolle der Arbeiter-, Frauen- und Ökologiebewegung verwiesen hat.

Angesichts der Verbissenheit und des offenen Hasses mit denen ethnische Konflikte meist ausgetragen werden - die derzeitige Lage auf dem Balkon liefert uns viele schreckliche Beispiel - erscheint das Marx‘sche Konzept vom Klassenkampf als simpler Streit, der auf einer ungleichen Verteilung von Gütern beruht und durch Kompromisse beigelegt werden kann:

[...] it is today difficult to understand how Marxism was so long successful in presenting social conflicts, impressively dressed up as Klassenkampf or „class-struggle“, as the principal, ultimate and most irreconcilable type of conflict of modern society, when it is infact the conflict that lends itself most readily to the arts of compromise. (Hirschman 214)

„Entweder-Oder-Konflikte“ verlangen eine definitive Lösung, sie weisen nicht die selbe positive Dynamik auf wie jene Konflikte, bei denen um ein Mehr oder Weniger gestritten wird. Das problem wird dadurch aus der Welt geschaffen, daß eine der involvierten Parteien eliminiert wird oder man sich auf ein „Leben und leben lassen“ einigt. Beide Lösungen beinhalten jedoch die Illusion einer Illusion der Rückkehr zu einer geordneten, konfliktfreien Gesellschaft. (Hirschman 214) Wirklich geeint und befriedet sind solche Gesellschaften keinesfalls, sondern es sind gefährliche Pulverfässer die jederzeit explodieren können.

Jede Gesellschaft hat ihre eigenen spezifischen Konflikte, die entweder dazu beitragen, daß sie zusammenhält oder sich auflöst. Die für westliche Demokratien typischen Konflikte und der entsprechende Prozeß der Konflikthegung sind in der Lage den zur gesellschaftlichen Integration nötigen „Gemeinsinn“ zu generieren. Allerdings hat Hirschman seine Zweifel, ob Demokratien auch mit den für sie atypischen Konflikten und Problemen zu Rande kommen, indem sich ein schwaches normatives Band der Gesellschaft bildet. Seiner Meinung nach braucht die demokratische Gesellschaft Einfallsreichtum und unternehmerisches Können um auch ihr bislang fremde Probleme zu bewältigen.(Hirschman 216)

Fazit

Zusammenfassend kann man festhalten, daß sich die Frage nach der integrativen Wirkung gesellschaftlicher Konflikte nicht klar beantworten läßt. Demokratie schließt die Anerkennung von Dissens ein, so daß moderne demokratische Gesellschaften von Konsens und Konflikt bestimmt werden.

Obwohl Autoren, die ähnlich wie Helmut Dubiel argumentieren jede Art von Gemeinsinn- Orientierung und die Idee vom „guten Leben“ ablehnen, setzen auch sie ein normatives Minimum voraus auf dem die Gesellschaft gründet. Die verfassungsrechtlichen Normen geben den Rahmen an, in dem die Konflikte ausgetragen werden und die Zivilgesellschaft politisch mitwirken kann. Selbst derjenige der zivilen Ungehorsam übt, beabsichtigt nicht diesen rechtsstaatlichen Rahmen zu verlassen. Die demokratische Verfassung verhindert ein Umschwung des sozialen Konflikts in Gewalt, indem es der Zivilgesellschaft öffentliche Foren bereitstellt und die Konflikte instutionalisiert. Dabei wird die Gleichheit aller wechselseitig anerkannt und so kommt es zu einer symbolischen Einheit der Gesellschaft, die trotz unversöhnlicher Antagonismen reproduziert wird. Der Konflikt fördert die soziale Integration und Kohäsion vor allem dadurch, daß er die Individuen auf die Frage lenkt, wie ihre Gemeinschaft geordnet werden soll. Auf diese Weise werden die einzelnen Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen für ihre Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen Ganzen sensibilisiert. Daß es dabei zum Streit kommt ist unvermeidbar und sogar wünschenswert.

Allerdings ist es schwer nachzuvollziehen wie es zur gesellschaftlichen Integration kommen soll, wenn der symbolische Prozeß über den die Bürger sich integrieren, ohne ihr Bewußtsein stattfindet. Der Mensch kann sich oft nur mit dem identifizieren, das er auch sinnlich, also bewußt, wahrnehmen kann. Ich stimme Göhler also zu, daß die Bürger den Staat mitsamt den von ihm verkörperten (demokratischen) Werte als „ihren“ Staat ansehen müssen und diese affektive Bindung symbolisch zum Ausdruck kommen muß. Nicht zufällig hat das Hissen der Nationalflagge, auch in Zeiten, in denen patriotische Bekenntnisse stark verpönt sind, noch immer eine große symbolische Bedeutung.

Außerdem kann man in einer pluralisierten Gesellschaft nicht erwarten, daß die Menschen sich auf eine allgemein anerkannte Vorstellung von Gemeinwohl einigen. Das Individuen hat nun einmal in der freiheitlichen Demokratie das Recht auf Anderssein und aufs Andersdenken, wovon es auch Gebrauch macht, indem es seine eigenen Wertvorstellungen vertritt und Ziele verfolgt.

Literaturverzeichnis

- Dubiel, Helmut: Konsens oder Konflikt? Die normative Integration des demokratischen

Staates. In: Kohler-Koch Beate (Hrsg.): Staat und Demokratie in Europa. Opladen 1992, S. 130-137.

- Gauchet, Marcel: Tocqueville, Amerika und wir. Über die Entstehung der demokratischen

Gesellschaften. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990, S. 123-206.

- Göhler, Gerhard: Konflikt und Integration. Koreferat zu Helmut Dubiel. In: Kohler-Koch Beate (Hrsg.): Staat und Demokratie in Europa. Opladen 1992, S. 138-146.

- Hirschman, Albert O.: Social conflicts as pillars of democratic market society. In: Political Theory. Volume 22, Number 2, May 1994.

- Lefort, Claude, Gauchet, Marcel: Über die Demokratie. Das politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990, S.89-122. [a]

- Lefort, Claude: die Frage der Demokratie. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990, S. 281-297. [b]

- Lefort, Claude: Vorwort zu Eléments d’une critique de la bureaucratie. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990, S.30- 53. [c]

- Marchart, Oliver: Die politische Theorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus: Claude Lefort und Marcel Gauchet. In: Brodocz, André, Schaal, Gary S. (Hrsg.): Politische Theorien der Gegenwart. Opladen 1999.

- Reese-Schäfer, Walter: Was ist Kommunitarismus? Frankfurt am Main, New York 1994.

- Rödel, Ulrich, Frankenberg, Günter, Dubiel, Helmut: Die demokratische Frage. Frankfurt am Main 1989.

- Rödel, Ulrich: Einleitung. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990, S.7-29.

[...]


1 Vgl. Marchart 120-136

2 Siehe hierzu: Rödel, Ulrich (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990.

3 Siehe hierzu: Dubiel, Helmut: Konsens oder Konflikt? Die normative Integration des demokratischen Staates.

4 Vgl. Rödel, Ulrich, Frankenberg, Günter, Dubiel, Helmut: Die demokratische Frage. Frankfurt am Main 1989, S.22-46.

5 Vgl. Göhler, Gerhard: Konflikt und Integration. Koreferat zu Helmut Dubiel. In: Kohler-Koch, Beate: Staat und Demokratie in Europa. Opladen 1992, S. 138-145.

6 Vgl. Hirschman, Albert O.: Social Conflicts as pillars of democratic market society. In. Political Theory. Volume 22, Number 2, May 1994.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der Konflikt als gesellschaftliches Integrationsmittel
Hochschule
Universität Trier
Veranstaltung
Proseminar: Einführung in die Politische Theorie und Ideengeschichte
Note
1
Autor
Jahr
2000
Seiten
19
Katalognummer
V104284
ISBN (eBook)
9783640026371
Dateigröße
382 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konflikt, Integrationsmittel, Proseminar, Einführung, Politische, Theorie, Ideengeschichte
Arbeit zitieren
Martine Hemmer (Autor:in), 2000, Der Konflikt als gesellschaftliches Integrationsmittel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104284

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