Kindheits- und Jugendentwicklung unter besonderer Berücksichtigung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Stützfaktoren einer gesunden Kindheit- und Jugendentwicklung


Seminararbeit, 2017

13 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Seminar Kindheits- und Jugendentwicklung unter besonderer Berucksichtigung von

Jugendlichen (12-17 Jahre) mit Migrationshintergrund

Modulabschlussprufung zu Kindheit und Jugend im Sommersemester 2017

Durch den bildungspolitischen Paradigmenwechsel des deutschen Bildungssystems vom Input-gesteuerten Unterricht hin zu einer Orientierung am Output der Schulerin­nen und Schuler (vgl. Wildemann/Vach 2015: 13) geriet immer mehr die individuelle Kompetenz und somit das einzelne Individuum selbst in den Blickpunkt. Freinet (1986: 52) erklart, dass „das Kind, so wie es ist, [...] mit seinen besonderen Interessen und Bedurfnissen, mit seinen Gedankengangen und seiner speziellen Logik" (ebd.) zu betrachten sei, sodass ihm bei seiner personlichen Entfaltung geholfen werden konne (vgl. ebd.). Im Mittelpunkt steht dann nicht mehr ausschlieftlich das Lernpro- dukt, sondern auch der Lernprozess und damit die individuelle Entwicklung eines Kin- des (vgl. Necknig 2012: 29).

Theorien und Phasen der kindlichen Entwicklung sind daher nicht nur in der Kind- heits- und Jugendforschung wichtig, sondern auch fur Lehrerinnen und Lehrer. Bis- herige Entwicklungstheorien beziehen sich allerdings nahezu ausschlieftlich auf die stereotypische Entwicklung eines Kindes (vgl. Schwarzer 2015: 57) und sind dem- nach alles andere als individuell fundiert. Allerdings kann mithilfe sogenannter Stutz­faktoren die stereotypische und gesunde, das heiftt ohne psychische Storungen statt- findende Entwicklung (vgl. Petermann/Schmidt2006: 119), begunstigtwerden.

Einige Stutzfaktoren im Sinne von Resilienz, sprich die psychische Robustheit (vgl. Petermann/Schmidt 2006:119) und damit die Fahigkeit, „relativ unbeschadet mit den Folgen besonders herausfordernder Lebensumstande umzugehen und dafur Bewal- tigungskompetenzen zu entwickeln" (ebd.: 121), konnen von Lehrkraften offeriert wer­den.

Beispielsweise kann im Klassenzimmerfur ein emotional offenes und warmes Erzie- hungsklima mit individuell angepassten Leistungsanforderungen gesorgt werden. Hierdurch konnen sich die Schulerinnen und der Schuler sicher in ihrer Umgebung fuhlen, sodass selbst negative Emotionen nicht unterdruckt werden mussen und eine unsicher-vermeidende Bindung verhindert wird. Zugleich gelten die angemessene Grenzsetzung und ein autoritativer Erziehungsstil, welcher von hoher Zuwendung und gleichzeitig hoher Herausforderung gepragt ist (Grob/Jaschinski 2003: 63), als Stutzfaktoren, die durch die Lehrperson realisiert werden konnen und sichere Bin- dungsmuster begunstigen.

Sichere Bindungen gelten als das entwicklungsforderlichste Bindungsmuster, weil sie die Gefuhlswelt des Kindes stabilisieren und eine angstfreie Exploration gewahrleis- ten, welche wiederum Einfluss auf die soziale Identitatsbildung hat. Positiv beeinflus- sen kann die Lehrkraft sichere Bindungen auch, indem sie eine soziale Verantwort- lichkeit fur den Schuler oder die Schulerin zeigt und fur mindestens eine stabile und verlassliche, das heiftt konstante, Bezugsperson sorgt und als ein positives Vorbild fungiert.

Die Lehrkraft als Vertrauens- und Bezugsperson und die sichere Bindung des Kindes zu ihr unterstutzt, wie oben erwahnt, das erfolgreiche Durchlaufen der Entwicklungs- etappen zur Identitatsfindung nach Erik H. Erikson. Nur durch die sichere Bindung an eine zuverlassige und liebevolle Bezugsperson kann ein Urvertrauen entstehen (vgl. Grob/Jaschinski 2003: 43), welches die Basis fur die Entwicklung sozialer Identitat darstellt. Auch zur Bewaltigung der Identitatsdiffusion kann die Lehrperson beitragen, da die direkte Beeinflussung durch eine andere Person wie z.B. der Lehrkraft nicht selten zu einem Ubergang in einen anderen Identitatsstatus fuhrt (vgl. ebd.: 46).

Die oben genannte angepasste Leistungsanforderung der Lehrpersonen an die Schu- lerinnen und Schuler ist ebenfalls hilfreich fur das Auflosen der Identitatsdiffusion. Bei z.B. zu hoher Leistungsanforderung und haufigen Misserfolgen kann schlieftlich keine realistische Einschatzung dereigenen Person erreicht werden, weshalb sich die Kin­der ihrer Selbstwirksamkeit nicht bewusstwerden konnen. Dabei ist die Auseinander- setzung mit den eigenen Fahigkeiten und Starken sowie mit den Erwartungen anderer an die eigene Person bedeutsam, urn eine Antwort auf die Identitatsfrage ,,Wer bin ich?“ zu finden und eine Zukunftsperspektive aufzubauen (vgl. Grob/Jaschinski 2003: 43f). Je ausgewogener das Verhaltnis von Anforderungen und Ressourcen, sprich aktuell verfugbare Potenziale, welche die Entwicklung unterstutzen, ist, desto erfolg- reicher konnen Anforderungen bewaltigt werden (vgl. Petermann/Schmidt2006:121). Das resultierende Erfolgserlebnis wiederum forded die Generierung neuer Ressour­cen (vgl. ebd.). Des Weiteren kann durch die Ubertragung von Verantwortung an die Kinder und Jugendlichen und die Ermoglichung der Selbstbestimmung (vgl. Grob/Ja­schinski 2003: 49) in der Schule dazu beigetragen werden, dass eine eigenstandige Exploration der Umwelt erfolgt, welche zu einer erarbeiteten Identitat fuhrt (vgl. ebd.: 45). Auch die Forderung von Rollenspielen und sozialer Interaktion zwischen mehre- ren Generationen kann einem stagnierenden Verlauf der Identitatsetappen entgegen- wirken (vgl. ebd.: 49).

Jedoch ist, wie oben bereits erwahnt, bei den geschilderten Stutzfaktoren nur die ste- reotypische Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen herangezogen worden. Da- bei bekennen einflussreiche Erkenntnistheorien selbst an, dass durchaus kulturell be- dingte Unterschiede in der Entwicklung zu vermerken sind.

Der Interaktionist Lew Wygotzky (1962, 1978) bezeichnet das Kind als ein ,,soziales Wesen, welches sein Denken im Kontext des Denkens anderer Personen entwickelt" (Schwarzer 2015: 39). Mit anderen Worten schildert Wygotzky also, dass sich das kindliche Denken durch die soziale Interaktion des Kindes mit beispielsweise den El- tern entwickelt und verandert. Hierbei spielt vor allem der soziokulturelle Kontext eine bedeutungstragende Rolle, da dieser gravierende Unterschiede des kindlichen Den­kens hervorbringt (vgl. ebd.). So erlernen Kinder westlicher Kulturen und hoch struk- turierter Schulen das schlussfolgernde Denken und Erinnern eher kontextfrei, wel­ches australische Aborigines hingegen im Kontext des Jagens und damit als uberle- bensnotwendige Denkfunktion erlangen (vgl. ebd. 40).

Einen weiteren, soziokulturell bedingten Unterschied in der Entwicklungspsychologie der Kindheit sieht Wygotzky bei den psychologischen Werkzeugen, mit deren Hilfe sich der Mensch formen wurde (vgl. Schwarzer 2015: 41). Da jede kulturelle Umge- bung spezielle Anforderungen stellt, kreiert auch jede einzelne Kultur ihre eigenen psychologischen Werkzeuge wie z.B. die Sprache, das Zahlen- und Schriftsystem oder technische Gerate (vgl. ebd.). Durch die Anpassung an die jeweilige Umwelt konnen dieAnforderungen besserund leichtergemeistertwerden (vgl. ebd.).

Die gelenkte Partizipation Wygotzkys zeigt ebenfalls einen kulturell bedingten Unter­schied. Normalerweise erfolgt die gelenkte Partizipation dadurch, dass eine infor- mierte Person wie z.B. ein Elternteil eine Situation so gestaltet, dass eine weniger informierte Person wie z.B. ein Kind etwas lernt (vgl. Schwarzer2015: 41). Eltern mit Migrationshintergrund sind allerdings vor allem hinsichtlich des Ansiedlungslandes und der erforderten Sprache oftmals weniger informiert als ihre Kinder. Aus diesem Grund findet keine oder eine abgeschwachte Form der gelenkten Partizipation statt. Als Konsequenz konnen Lehrerinnen und Lehrer die gelenkte Partizipation uberneh- men und nehmen somit eine zusatzliche und besondere Rolle fur die Kinder und Ju­gendlichen ein.

Keller und Kartner betrachten die kindliche Entwicklung als eine kulturspezifische Lo- sung universeller Entwicklungsaufgaben, die je nach Kultur auf andere Weise gelost wird (vgl. Schwarzer 2015: 48). In z.B. Mittelschichtkulturen haben Kinder nurwenige oder eine Bezugsperson wie die Mutter, denn das Baby bildet den Lebensmittelpunkt der Eltern, sodass ihm voile Aufmerksamkeit zukommt. Zugleich erstreben die Eltern die psychologische Autonomie und unabhangige Identitat des Kindes, welche als eine Anpassung an die westliche Lebenssituation und somit ebenfalls als psychologisches Werkzeug im Sinne Wysgotskys gesehen werden kann. Im Gegensatz dazu findet in afrikanischen, landlichen Regionen keine fruhzeitige Fokussierung der Eltern auf das Kind, sondern eine beilaufige Integration des Kindes in den Alltag statt, wobei es nie alleine ist. Dadurch bauen die Kinder Beziehungen zu drei bis vier standigen Bezugs- personen auf, wodurch auf das spatere Miteinander vorbereitet und eine schnelle Platzeinnahme der Kinder in dem sozialen System gewahrleistet werden soil. Die die- sem System zu Grunde liegende Hierarchie sichert die Kooperation der Familienmit- glieder und die okonomische Lebenssituation in afrikanisch, landlichen Regionen.

Auch der Psychologe Urie Bronfenbrenner (1979) beschreibt in seinem okologischen Modell den Einfluss des kulturellen Umfeldes auf die Entwicklung des Kindes. Nach Bronfenbrenner befinden sich Kinder in verschiedenen Mikrosystemen (vgl. Schwar- zer2015: 48), das heiftt Beziehungen zu z.B. Mutter, Vater, Erzieherund Erzieherin- nen oder Gleichaltrigen. Das sogenannte Mesosystem umfasst die Gesamtheit der Mikrosysteme wie die Schule, Familie, Kinder- und Jugendhilfe und ihr Verhaltnis zu- einander. Dem Exosystem gehort das Kind selbst nicht direkt an, es wird aber erheb- lich von ihm beeinflusst, da die Bezugspersonen des Kindes dem Exosystem ange- horen wie beispielsweise die Arbeitsstelle der Mutter, welche durch Arbeitszeiten und Stressfaktoren auch das Kind betrifft. Das Makrosystem als kulturelles Umfeld des Kindes umfasst u.a. die Normen und Werte der jeweiligen Kultur, welche alle Bezie­hungen des Kindes, d.h. das Mikro-, Meso- und Exosystem, formen (vgl. Schwarzer 2015:48).

Helmke (2003: 41) verweist im Kontext der Mikrosysteme, genauer gesagt der Schule, auf die Mediationsprozesse seitens der Schulerinnen und Schuler, welche die Wirksamkeit des Unterrichts bestimmen wurden. Der Unterricht als Angebot wird von jedem Kind aufgrund von individuellen Lernpotentialen und familiarer Umstande auf verschiedene Weise genutzt und so erzielt auch jedes einzelne Kind einen ande- ren Ertrag aus diesem Angebot (vgl. Helmke 2009: 73). Dieser unterschiedliche Er- trag kann vor dem Hintergrund, dass ca. ein Viertel der Jugendlichen, welche die Pflichtschulzeit beendet haben, aus zugewanderten Familien stammen (Hanno- ver/Zander2013: 142), durch den Migrationshintergrund der Schulerinnen und Schu­ler begrundet werden. Zu den Menschen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinn gehoren nach der Definition im Mikrozensus ,,alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland gebore- nen Auslander und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Auslander in Deutschland geborenen Elternteil" (Statisti- sches Bundesamt 2013).

Helmke deutet also auf Risiko- und Stutzfaktoren hin, welche das Kind und den Ju­gendlichen umgeben. Risikofaktoren erhohen im Gegensatz zu Stutzfaktoren die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von psychischen Storungen in der kindlichen Ent­wicklung (Petermann/Schmidt 2006: 119). Der Migrationshintergrund von Schulerin­nen und Schulern kann einer dieser Risikofaktoren darstellen und der Ausloser fur weitere Risikofaktoren sein, die sich von denen der Schulerinnen und Schuler ohne Migrationshintergrund unterscheiden. Zum einen kann das geringe Einkommen sowie die schlechten Sprachkenntnisse des Ansiedlungsortes der Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund eine benachteiligende Rolle bezuglich der Schulempfehlung, Versetzung in die nachste Klasse oder eine andere Schulform spielen. Oftmals wird davon ausgegangen, dass diese Eltern den Kindern nur wenig Unterstutzung bieten konnen, sodass tendenziell eher dazu geraten wird, eine niedrigere Schulform zu be- suchen oder eine Klasse zu wiederholen (vgl. Gresch 2012). Demnach erhalten Kin­der mit Migrationshintergrund seltener eine Gymnasialempfehlung als Kinder ohne Einwanderungsgeschichte (vgl. ebd.). Aufterdem spielen bei schulischen Bewertun- gen auch leistungsfremde Kriterien eine Rolle, welche auf die niedrige soziale Schichtzugehorigkeit und die daraus resultierende geringere schulische Kompetenz zuruckgefuhrtwerden konnen (vgl. ebd.).

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Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Kindheits- und Jugendentwicklung unter besonderer Berücksichtigung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Stützfaktoren einer gesunden Kindheit- und Jugendentwicklung
Hochschule
Universität Paderborn
Note
1,0
Jahr
2017
Seiten
13
Katalognummer
V1043522
ISBN (eBook)
9783346470454
ISBN (Buch)
9783346470461
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stützfaktoren, Kindheit, Entwicklung, Jugendliche, Migration
Arbeit zitieren
Anonym, 2017, Kindheits- und Jugendentwicklung unter besonderer Berücksichtigung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Stützfaktoren einer gesunden Kindheit- und Jugendentwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1043522

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