Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Fragestellung
2. Theorie des Schreibens
2.1. Forschungsstand
2.1.1. Epistemisches Schreiben
2.1.2. Forschungsgeschichte
2.1.3. Modelle des Schreibens
2.2. Zusammenfassung: Schreiben aus der Sicht der Forschung
3. Schreiben im Unterricht
3.1. Schreiben lernen im herkömmlichen Unterricht
3.2. Isolierung von Teilmomenten des Schreibens
3.3. Textsorten im Aufsatzunterricht
3.4. Bewertung von Textprodukten
4. Schreibunterricht und Schriftlichkeit
5. Schlusswort
Literaturverzeichnis
Abstract:
In dieser Arbeit wird versucht, die Bedeutung der Textproduktionsforschung für den Unterricht herauszuarbeiten. Wie können Erkenntnisse der Forschung für die di- daktische Reflexion zum Schreibunterricht fruchtbar gemacht werden? Einerseits soll die Forschung, in dieser Arbeit speziell die Schreibprozessforschung, kurz charakterisiert werden, andererseits soll aus der Beschäftigung mit der Theorie eine Perspektive entwickelt werden, die im praktischen Unterricht sinnvoll eingesetzt werden kann. Diese Perspektive, so die These, entsteht durch die Konzentration auf den Schreibprozess und durch die Abkehr von der traditionellen Bevorzugung des Schreibproduktes im Unterricht. Vor allem am Beispiel des Aufsatzunterrichtes zeigt sich, dass eine prozessuale Perspektive in der didaktischen Reflexion die herkömmlichen Methoden des Unterrichts nicht absolut verwirft, sondern vielmehr einen Rahmen herstellt, der es erlaubt, die eigentlichen Lernziele im Auge zu behalten. Da Textproduktionsprozesse aber niemals nur in einem subjektiven, autonomen Rahmen stattfinden, sondern sich immer auch nach überindividuellen gesellschaftlichen Normen und Werten zu richten haben, soll am Ende dieser Arbeit die Perspektive um den Aspekt der Schriftlichkeit (literacy) erweitert werden. Welche Bedeutung hat die Schrift und unsere Fähigkeit zur Schriftlichkeit in der heutigen Gesellschaft? Für den Unterricht ist es auch hier wichtig, um die Veränderlichkeit und Historizität unseres Umgangs mit Schrift zu wissen, da der Unterricht in vielen Bereichen eine Tendenz zur Tradierung von Methoden und Grundsätzen zeigt, die gerade die oben erwähnten Veränderungen unseres Umgangs mit der Schriftlichkeit negiert.
1. Einleitung
Wer als Student eine Seminararbeit über das schulische Schreiben in Angriff nimmt, ist auf eine verzwickte Weise immer direkt mit seinem Untersuchungsgegenstand konfron- tiert. Die Fragen und Themen, welche er aus einer wissenschaftlichen Perspektive er- hellen soll, beschäftigen ihn mindestens ebenso stark als ganz praktische Probleme, wenn er vor seinem Computer sitzt und - naheliegendes Beispiel - eine Einleitung schreiben will. Der Student hat eine Vorstellung davon, was er in seiner Arbeit schreiben will, er kennt auch die formalen Merkmale, die eine Seminararbeit aufweisen muss und weiss, wer sie korrigieren wird. Natürlich kennt er auch den wissenschaftlichen Jargon und all die Floskeln, Redewendungen und sonstigen Kniffe, die das strenge Korsett der Wissenschaftlichkeit etwas zu lockern vermögen. Denn schliesslich muss er zugeben, dass die Motivation für seine Arbeit nicht ausschliesslich intrinsisch ist, sondern dass er ganz einfach auch eine Unterschrift von seinem Professor braucht, um in seinem Stu- dium voranzukommen. Wenn der Student nun also vor dem Bildschirm sitzt oder an sei- nem Bleistift kaut, wird sein Schreiben, das er allermeistens nur als Mittel zum Zweck erlebt, eben auch zum Inhalt, zum Zweck selber, an dem er seinen Erkenntnisfortschritt überprüfen und die neu erlernte Begrifflichkeit anwenden kann.
Dieses Beispiel zeigt, wie differenziert eine Schreibaufgabe sein kann, wie vielfältig die Ansprüche und Konventionen sind, denen ein Schreiber oder eine Schreiberin genügen muss. Das Schreiben wird aus dieser Perspektive zum komplexen Prozess, der „die Integration und Koordination von Teilfähigkeiten verlangt“ (Baurmann, 1992, S. 116). Dieser Prozess lässt sich nun im Unterricht fördern, in der Schule sollen diese Teilfähigkeiten erlernt oder zumindest geübt werden.
1.1. Fragestellung
Es gibt verschiedene Möglichkeiten über das Schreiben zu sprechen, man kann z. B. vom Schreiben als Prozess reden, von schriftlicher Textproduktion oder vom Schreiben als kognitives Problemlöseverfahren. In dieser Sichtweise geht es vor allem darum, un- seren individuellen Umgang mit dem Schreiben näher zu beschreiben. In einer anderen Argumentation kann man aber, wie Feilke und Portmann im nachfolgenden Zitat anfü- gen, auch das Werkzeug, das Medium selber in den Mittelpunkt stellen, nämlich die Schrift als Kulturgut mit ihrer historischen Entwicklung und ihren gesellschaftlichen Im- plikationen: „Wir sind herausgefordert, die Variabilität historischer und gesellschaftlicher Schrift- und Schreibpraxen in unserem Begriff des Schreibens ebenso mit zu bedenken wie die Variationen und Abweichungen individueller Lernwege zu Schrift und Text.“(Feilke & Portmann, 1996, S. 8)
In dieser Arbeit sollen also neben der individuellen Prägung des Schreibenlernens auch die gesellschaftlichen Anforderungen an Schriftlichkeit und vor allem die Vermittlung dieser beiden unterschiedlichen Aspekte untersucht werden. Aus wissenschaftstheoreti- scher Perspektive gesehen, bedeutet dies, dass das Bild des „einsamen Schreibers“, der gemäss rein kognitiven Modellen einen kohärenten Text aus sich heraus konstruiert, erweitert wird um einen sozialen Rahmen, in dem die Normen und Konventionen von Diskursgemeinschaften die Textproduktion des Individuums ebenso steuern (Antos & Pogner, 1995).
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautet:
Was ist schriftliche Textproduktion und wie soll sie gelehrt und gelernt werden?
Wenn das Schreiben eine Kulturtechnik, eine eigene kulturelle Aktivität ist und damit auch geschichtlich und gesellschaftlich bedingte Veränderungen erfährt, müssen wir uns jederzeit auch über die Normen, oder eben Anforderungen, die mit dieser Tätigkeit ver- bunden sind, im Klaren sein. Was macht einen guten Schreiber, eine gute Schreiberin aus? Wie kommt eine erfolgreiche Textproduktion zustande? Oder: Welche Textarten muss der Mensch heute beherrschen, um erfolgreich zu sein. Interessanterweise sind es genau diese Fragen, die in der öffentlichen Diskussion um die Sprachfähigkeiten von Schülern und Schülerinnen beinahe systematisch ausgeblendet werden. Wenn sich die ältere gegenüber der jeweils nachfolgenden Generation über deren nachlassenden schriftlichen Sprachfähigkeiten beklagt, übersieht sie oft die veränderten und wohl auch vervielfältigten Anforderungen und Bedingungen, mit denen heute Schreiber und Schreiberinnen im Beruf, in der Ausbildung und in der Freizeit zu Rande kommen müs- sen. Auch wenn diese Diskussion über die aktuelle Qualität der Sprachfähigkeiten von Schülern und Schülerinnen im Rahmen dieser Arbeit nicht geführt werden soll, so wer- den die oben erwähnten Anforderungen an Schreibfähigkeiten auf gesellschaftlicher und vor allem auch auf schulischer Ebene ein Thema sein. Der Hauptaspekt der zugrunde liegenden Fragestellung bezieht sich aber im Speziellen auf die neueren Erkenntnisse der Schreibforschung und ihre Bedeutung für die Didaktik, eben immer unter der Be- rücksichtigung der Anforderungen an die Schreibfähigkeiten.
In einem ersten Teil der Arbeit soll es vor allem um die Klärung verschiedener Begriffe und um eine Darstellung des Forschungsstandes und der Forschungsgeschichte gehen: Was ist Textproduktion? Was sind schriftsprachliche Fähigkeiten? Wie entwickelt sich die Schreibfähigkeit?
Im zweiten Teil der Arbeit wird es dann darum gehen, spezifischer auf den Unterricht, auf die Schulsituation einzugehen. Es geht hier darum, die Bedeutung der neueren Textproduktionsforschung für den Unterricht und die didaktische Reflexion herauszuarbeiten. Wo und wie erhalten Erkenntnisse der Forschung eine Bedeutung für den Unterricht? Wo und wie werden Textproduktion und schriftsprachliche Fähigkeiten in der Schule überhaupt thematisiert? Vor allem am Beispiel des Aufsatzunterrichtes soll in diesem Teil der Arbeit gezeigt werden, welche Anforderungen im Unterricht an die Schreibfähigkeiten der Schüler und Schülerinnen gestellt werden.
Im letzten Teil der Arbeit soll dann die Frage nach den unterschiedlichen gesellschaftlichen und historischen Bedeutungen der Textproduktion gestellt und deren Auswirkungen auf den Unterricht beobachtet werden.
2. Theorie des Schreibens
2.1. Forschungstand
2.1.1.Epistemisches Schreiben
Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, dass die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist. (Heinrich von Kleist, 1805)
In seinem Essay „Über die allmähliche Verfassung der Gedanken beim Reden“ be- schreibt Kleist eine Eigenschaft der Rede, die, übertragen auf den Vorgang des Schrei- bens, in letzter Zeit „zu einem der Dreh- und Angelpunkte der Forschung“ (Baurmann & Weingarten, 1995, S. 9) geworden ist, nämlich die epistemische Funktion des Schrei- bens. Schriftliche Textproduktion ist nicht nur Reproduktion von Wissen. Integraler Be- standteil, bzw. Resultat vieler Schreibprozesse ist vielmehr auch die Wissenserweite- rung oder Wissensaneignung. In diesem Aspekt des Schreibens treffen sich dann auch die Interessen verschiedener Forschungsrichtungen: Während die Schriftspracher- werbsforschung in ihre Erwerbsstufenmodelle das epistemische Schreiben als qualita- tive Endstufe der Entwicklung einbaut (Bereiter, 1980), konzentriert sich die Schreibpro- zessforschung auf die mentalen Vorgänge, auf die kognitiven Aktivitäten, die während des Schreibprozesses eine Wissenserweiterung hervorrufen, welche letztere aber wie- derum selbst auch Bestandteil des Schreibprozesses sein kann. Dass sich als dritter Anwendungsbereich die Schuldidaktik für das erwähnte epistemische Schreiben inter- essiert, interessieren muss, ist in diesem Zusammenhang offensichtlich. Das epistemische Schreiben ist aber nur ein wichtiger Aspekt des Schreibprozesses und der Schreibentwicklung. Um einen Überblick über die Forschung und ihre Terminologie zu erlangen, sollen hier die wichtigsten Modelle und aktuellen Forschungsansätze kurz dargestellt werden.
2.1.2.Forschungsgeschichte
Als Ausgangspunkt der modernen kognitiven Schreibforschung wird in verschiedenen Arbeiten eine in den USA seit den 70er Jahren in den Medien und in der Bildungspolitik diskutierte Schreibkrise genannt (Antos, 1996; Antos & Pogner, 1995; Baurmann & Weingarten, 1995; Wrobel, 1995). Die Diagnose mangelnder Schreibfertigkeiten bei vielen Schülern und Schülerinnen führte dann in den achtziger Jahren auch zu einem sprunghaften Anstieg der Forschungsbemühungen auf dem Gebiet der Schreibfor- schung und -didaktik. Bezeichnend ist dabei von Anfang an die interdisziplinäre Orien- tierung der Anstrengungen in diesem Forschungsbereich. So verband sich die Sprach- wissenschaft, die sich immer mehr von ihrer strikt strukturalistisch und objektbezogenen Ausrichtung löste, zusammen mit der kognitiven Psychologie, auch unter Berücksichti- gung von entwicklungs- und sozialpsychologischen Aspekten zu einer angewandten ko- gnitiven Wissenschaft.
Erweitert man die Perspektive der wissenschaftshistorischen Betrachtung der Schreib- forschung kann und muss man jedoch auch andere Entwicklungslinien der wissen- schaftlichen Beschäftigung mit dem Schreiben aufzeigen: Die Schreibforschung steht ebenso in der langen und einflussreichen Tradition der klassischen Rhetorik, die schon seit der Antike ein Lehrsystem der „wirksamen öffentlichen Rede“ (Bussmann,19902, S. 648) zur Verfügung stellt, sich also in normativer Absicht mit der Textproduktion be- schäftigt. Damit beinhaltete die Rhetorik sowohl die wissenschaftliche Beschäftigung mit sprachlicher Kommunikation als auch die Frage, wie die individuelle und gesellschaftli- che sprachliche Praxis verbessert werden könne (Antons & Krings, 1992). Um diese Ziele zu erreichen, beschäftigte sie sich - hier ist die Verwandtschaft mit der heutigen Schreibforschung offensichtlich - nicht nur mit dem fertigen Text sondern auch einge- hend mit dem eigentlichen Textproduktionsprozess („Schema der rednerischen Arbeits- phasen“ (Bussman, ebd.)).
Neben der klassischen Rhetorik hatte aber immer auch die Unterrichtsforschung ein grosses Interesse, den Schreibprozess genau kennenzulernen - anders als die klassi- sche Sprachwissenschaft, die sich lange Zeit nur für die Schreibprodukte interessiert hatte und diese Fixierung, wie Krings schreibt, erst durch Anstösse von praktizierenden Lehrern und Lehrerinnen überwinden konnte: „Schreiben lehren heisst letzten Endes ja nicht anderes als in Schreibprozesse steuernd eingreifen. Und wer anders als durch blossen Versuch und Irrtum in Sprachprozesse eingreifen will, braucht ein Minimum an Einsicht in die Struktur dieser Prozesse.“ (Krings, 1992, S. 47)
In den oben stehenden Abschnitten wurde, ausgehend von der Absicht, die Geschichte der Schreibforschung zu beschreiben, immer mehr von der Schreibprozessforschung gesprochen. Auch wenn die Schreibprozessforschung verschiedentlich als prototypische Richtung (Antos & Pogner, 1995) der Schreibforschung angesehen wird, soll hier doch betont werden, dass letztere aufgrund ihrer Interdisziplinarität an sehr vielfältigen und unterschiedlichen Forschungsfragen interessiert ist. Neben dem Prozess des Schrei- bens interessiert sich die Forschung für den Schriftsprachenerwerb, für Fragen der Or- thografie und Graphemik, für Praxisfelder des Schreibens (z. B. technisches, akademi- sches oder kreatives Schreiben) und, wie oben schon erwähnt, für fremd- und mutter- sprachliche Schreibdidaktik (Antos & Krings, 1992). Als angrenzenden Themenbereich gilt es in diesem Zusammenhang auch noch die soziologischen, kulturwissenschaftli- chen und philosophischen Diskussionen zur Erforschung der Schriftlichkeit und zum Verhältnis von Literalität und Oralität zu erwähnen.
Diese Heterogenität von Interessen und Fragen ruft natürlich auch viele terminologische Überschneidungen und Unklarheiten hervor, so dass die Schreibforschung nicht über ein klares und einheitliches Vokabular verfügen kann, in vielen Arbeiten werden die verwendeten Begriffe zudem auch kaum explizit definiert und erklärt.
In der deutschen Literatur zur Produktion schriftlicher Texte scheint sich der auch für diese Arbeit produktive Begriff der Textproduktion durchzusetzen. In Abgrenzung zu dem in der Sprachpsychologie verwendeten Begriff der Sprachproduktion, unter dem, wie Wrobel schreibt, „weitgehend die Produktion einzelner Wörter, Sätze oder (maximal) Äusserungen“ (Wrobel, 1995, S.11) verstanden wird, „rückt [die Textproduktion] darüber hinaus ökologische (d.h. kommunikative, textuelle, situative, soziale und kulturelle Randbedingungen in den Vordergrund des Interesses“ (Antos, 1996, S. 1529). Der Schreibprozess, von dem oben die Rede war, kann also in diesem Zusammenhang auch als Textproduktionsprozess verstanden werden.
Um nun die Terminologie und das Wissen zum Textproduktionsprozess noch zu vertiefen und um den aktuellen Forschungsstand zusammenzufassen, sollen nun im Folgenden die wichtigsten Modelle der Schreibprozessforschung dargestellt werden.
2.1.3.Modelle des Schreibens
In der Textproduktionsforschung haben sich Schreibmodelle als fast elementare Ar- beitsinstrumente erwiesen. Empirische Untersuchungen konzentrieren sich in den meis- ten Fällen nur auf verschiedene spezifische Aspekte des Schreibprozesses, welche durch die Modelle zu einer gesamthaften Sicht des Schreibprozesses verbunden wer- den sollen. Dabei ist die „Faktorisierung des Schreibprozesses“ (Krings, 1992, S. 48) die wichtigste Aufgabe dieser Modelle, die von Natur aus uneinsehbaren Prozesse werden also aufgeschlüsselt und strukturiert durch die beteiligten Subprozesse. Je nach Aus- gangspunkt oder je nach forschungsleitenden Fragen kommen die Modelle dabei zu recht unterschiedlichen Ergebnissen, sowohl in der Art als auch in der Anzahl und Diffe- renziertheit der beschriebenen Subprozesse. Die Diskussion um den wissenschaftstheo- retischen Status dieser Modelle soll in dieser Arbeit nicht geführt werden (vgl. dazu Krings, 1992), gerade die Art und die Vielzahl der am Schreibprozess beteiligten Fakto- ren aufzuzeigen, kann aber für die Betrachtung des Schreibprozesses aus einer didakti- schen Sicht möglicherweise sinnvoll sein.
Sehr bekannt ist in den achziger Jahren das Schreibmodel von Hayes und Flower (1980) geworden, welches in vieler Hinsicht als Standardmodell und Ausgangspunkt für weiterführende Forschung gelten kann. Hayes und Flower beschreiben das Schreiben als einen grundsätzlich sequenziellen Prozess, d.h. verschiedene einzelne Sequenzen laufen ab und bedingen sich zum Teil gegenseitig. Im Unterschied zu früheren Model- len, die lineare Abläufe beschreiben, betonen Hayes und Flower aber als wesentliche Erneuerung und als zentrales Merkmal des Schreibprozesses die Interaktivität, Reflexi- vität und Rekursivität. Das Modell beinhaltet zudem nicht nur den eigentlichen Textpro- duktionsprozess, konstitutiver Faktor ist auch eine „externe Komponente“ (Wrobel, 1995, S. 11), nämlich die Aufgabenumgebung (task environment) und als „interne Grundlage“ (Wrobel ebd.) das Langzeitgedächtnis (writer’s longterm memory). Textproduktion ist also immer eingebettet in situative und kommunikative Rahmenbe- dingungen. Dazu gehört natürlich der Schreibanlass (und die sich daraus ergebenden kommunikativen Implikationen, z. B. die direkte Aufforderung beim Schulaufsatz) und das oftmals aus dem Schreibanlass hergeleitete Thema. Als weitere Faktoren der Auf- gabenumgebung nennen Hayes und Flower auch motivationale Aspekte, situative Be- dingungen und als ein zentrales Merkmal den Leser. Ein wichtiger Faktor der Aufga- benumgebung ist gemäss Hayes und Flower aber immer auch - hier zeigt sich auch die interaktive, rekursive Ausrichtung ihres Models - der jeweils schon verfasste Text, der eine Grundlage für Überarbeitungen und Kohärenzbildung darstellt. In einer konkreten Schreibsituation treffen die erwähnten externen Schreibbedingungen auf die Wissensbestände des Schreibenden, der in seinem Langzeitgedächtnis Informa- tionen zum Thema des Textes (knowledge of topic), aber auch Wissen über die (vorge- stellte) Leserschaft (knowledge of audience) und verschiedene, oftmals automatisierte Schreibpläne (stored writing plans) speichert.
Der eigentliche, dynamische Textproduktionsprozess, der durch die beschriebenen Faktoren bedingt wird, besteht aus verschiedenen kognitiven Aktivitäten, die Subpro- zesse darstellen: Die Planungskomponente bezieht sich auf die Erzeugung und Organi- sation von schreibrelevantem Wissen und definiert und plant auch differenzierte inhalt- liche und arbeitstechnische Ziele. Diese Ziele und das generierte relevante Wissen wer- den darauf in der Übersetzungskomponente in eine sprachliche Gestalt transformiert. Die letzte Komponente des eigentlichen Textproduktionsprozesses nimmt wieder die von Hayes und Flower stark propagierte Rekursivität des Schreibvorganges auf, der Überprüfungsprozess besteht nämlich einerseits aus dem Lesen des bisher produzier- ten Textes andererseits aus seiner Korrektur. Dieser Vorgang stellt jedoch nicht einfach nur den Schlusspunkt des Prozesses dar, er erlaubt Rückgriffe und Wiederaufnahmen von allen möglichen vorgelagerten Stadien, er kann aber auch laufende Subprozesse einfach unterbrechen. Eine Kontrollinstanz (monitor) überprüft und koordiniert diese in- teraktiven und rekursiven Prozesse.
Das Textproduktionsmodell von Hayes und Flower ist „ein Modell des kompetenten Schreibers und des expositorischen Schreibens“ (Wrobel, 1995, S. 13). Trotz dieser Ein- schränkung muss sein Geltungsbereich und seine Wirkung auf die weiterführende For- schung als gross angesehen werden. Die Kritik am Modell bezog sich denn auch vor allem auf noch zu ergänzende oder genauer auszuarbeitende Aspekte, zum Beispiel auf die stärkere Berücksichtigung motivationaler Grundlagen oder auf die stärkere Gewich- tung von kommunikativen, interaktiven Grundlagen des Schreibprozesses (Jechle, 1992). Das Verdienst des Modells ist es jedoch, auf den rekursiven und interaktiven Charakter des Schreibprozesses aufmerksam gemacht zu haben und ausserdem die vielen verschiedenen internen und externen Faktoren und kognitiven Prozesse, die den Schreibprozess ausmachen, aufgelistet zu haben. Diese Differenzierung hat es aber auch mit sich gebracht, den Textproduktionsprozess als eine Form von Problemlösen zu betrachten.
Die Rekursivität und Interaktivität sind auch die wichtigsten Elemente des Textprodukti- onsmodells von de Beaugrande (1984), der aber einen anderen Erklärungsansatz wählt. Er versucht in seinem Modell nicht alle am Schreibprozess beteiligten kognitiven Pro- zesse und alle internen und externen Bedingungen eines Textproduktionsprozesses darzustellen, ihm geht es in seinem Modell vielmehr darum, „die pragmatischen, kogniti- ven und sprachlichen Anforderungen des Schreibens funktional zu integrieren“ (Wrobel, 1995, S. 14). De Beaugrandes Modell ist ein Modell der Hierarchieebenen. Schreiben ist für ihn paralleles Verarbeiten von verschiedenen Anforderungen auf verschiedenen funktionalen Ebenen. Von „tieferen“ Ebenen wird dabei tendenziell zu „höheren“ Ebenen gewechselt, wobei oft auch umgekehrte Vorgänge und paralleles Arbeiten auf mehreren Ebenen vorkommen kann.
Auf der ersten, „untersten“ Ebene werden zuerst die praktischen Ziele des Textes fest- gesetzt, aus denen Ideen generiert werden. Diese beiden Ebenen steuern und kontrol- lieren dann die folgenden Stufen der sprachlichen Konkretisierung: Es werden nun kon- zeptuelle Einheiten gebildet, diese mit abstrakten sprachlichen Formulierungen ver- knüpft, zu Sätzen verbunden (syntaktisch linearisiert) und schliesslich phonologisch oder graphemisch realisiert. De Beaugrande interessiert sich mit seinem Modell also mehr für die eigentlichen sprachlichen Prozesse, die während der Textproduktion ablaufen, die Komponenten der Umgebung und die inneren Voraussetzungen des Schreibenden er- wähnt er, anders als Hayes und Flower, nicht explizit. Die Parallelität und Rekursivität des Textproduktionsprozesses betont er aber eher stärker und während Hayes und Flower die rein sprachliche Seite der eigentlichen Textproduktion (translation) nicht gross ausdifferenzieren, konzentriert sich de Beaugrande gerade darauf. Psychologisch interessant ist natürlich auch die Hierarchisierung der Ebenen, die de Beaugrande an- spricht. Es scheinen sich also während des Schreibprozesses Aktivitäten einerseits eher auf der „Oberfläche“ andererseits aber auch auf „tieferen“ Ebenen der Psyche abzu- spielen, ein Erklärungsmuster, auf das wir auch beim Orchester-Modell von Baer, Fuchs, Reber-Wyss, Jurt und Nussbaum (1995). wieder zu sprechen kommen werden. Einen anderen Ansatz und auch ein anderes Forschungsinteresse verfolgt Bereiter (1980) mit seinem entwicklungspsychologischen Modell. Sein Interesse gilt vor allem den kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten, die einen kompetenten Schreiber aus- zeichnen. „Kompetentes Schreiben ist - mit anderen Worten - nicht eine einzelne, in sich homogene Fähigkeit, sondern setzt ein komplexes Ensemble unterschiedlicher Fä- higkeiten und Kenntnisse voraus, die im Laufe der individuellen Entwicklung erworben werden müssen.“ (Wrobel, 1995, S. 16) Im Grunde beschreibt das Modell von Bereiter also - genauso wie die andern Modelle - wie auf die unterschiedlichen und komplexen Anforderungen einer Schreibaufgabe eingegangen werden kann. Bereiter unterscheidet in seinem Modell qualitative Stufen des Schreibens. Um diese Stufen zu erreichen, muss der Schreiber immer wieder neue Fähigkeiten integrieren und automatisieren, so dass er - durchaus gemäss der Hegelschen Dialektik - durch die Synthese dieser Fä- higkeiten eine nächste, komplexere Stufe erklimmen kann. Die Entwicklung führt dabei vom einfachen assoziativen Schreiben zum normorientierten, performativen Schreiben, von diesem wiederum zum hörerzugewandten, kommunikativen Schreiben. Als nächste Stufe wird dann das selbstkritische, authentische Schreiben erreicht, während die Ent- wicklung auf der qualitativ höchsten Stufe des epistemischen Schreiben endet. Diese Schreibstufen ordnet Bereiter drei verschiedenen Anforderungskomplexen zu, nämlich den prozessbezogenen (z. B. die Möglichkeit zur flüssigen Produktion geschriebener Sprache, Bereitstellung von Ideen und reflexives Denken), den produktbezogen-sprach- lichen (i. e. Beherrschung der Schreibkonventionen und Selbstbewertung) und den so- zial-interaktiven Fähigkeiten (z. B. Einstellung auf potentielle Leserschaft). Einerseits sind diese verschiedenen Stufen des Schreibens in einer bestimmtem Ent- wicklung zeitlich angeordnet, andererseits, und hier wird Bereiters Modell auch aus einer nicht entwicklungspsychologischen Perspektive interessant, andererseits handelt es sich bei den verschiedenen Schreibstufen auch ganz einfach um verschiedene Schreibfor- men oder Schreibstrategien, die dem kompetenten Schreiber immer gleichzeitig zur Verfügung stehen.
Die bis hierhin beschriebenen Textproduktionsmodelle zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie uns erst einmal ein Bild, eine Vorstellung des Schreibprozesses vermitteln wollen. Dabei wird je nach Forschungsinteresse ein bestimmter Aspekt des Modells ak- zentuiert. Hayes und Flower betonen die kognitive Verarbeitung und ihre Rekursivität, de Beaugrande hebt die Parallelität konzeptueller und sprachlicher Funktionsebenen hervor, während Bereiter die entwicklungspsychologische Integration von Fähigkeiten herausstreicht. Dagegen sind diese Modelle in vielen Bereichen relativ offen gehalten, nicht bis in jedes Detail ausgearbeitet. Das im Folgenden vorgestellte Modell von Baer et al. (1995) als Beispiel für ein jüngeres Textproduktionsmodell zeichnet sich nun da- durch aus, dass es sehr differenziert und umfassend ausgearbeitet und empirisch über- prüft ist. Textproduktion verstehen die Autoren als Resultat kognitiver Konstruktionspro- zesse und als Problemlöseprozess. Initiator des Prozesses ist dabei ein „Suchmodell“ (Baer et al., 1995, S. 174), das aufgrund der Analyse der Schreibaufgabe den zukünfti- gen Text antizipiert und während des Prozesses immer weiter differenziert wird. Der Konstruktionsprozess ist dann beendet, wenn das Suchmodell perfektioniert ist, wenn also die Antizipation im Text vollumfänglich realisiert ist.
Analog zu de Beaugrande wird auch hier zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur un- terschieden, die Konstruktion und Sequenzierung von semantischen Tiefenstrukturen und die Konstruktion und Realisierung von Oberflächenstrukturen wechseln sich ab und unterbrechen sich in unregelmässiger Reihenfolge je nach Problemlöseprozess. Unter anderem um diesem Umstand der Interaktion Rechnung zu tragen, haben die Autoren ihr Modell „Orchester-Modell“ genannt. Es besteht aus einer Exekutive, sieben Haupt- komponenten und einer Prüfungskomponente. Gleich einem Dirigenten lenkt und über- wacht die Exekutive also die Einsätze der relativ autonomen, spezialisierten Hauptkom- ponenten, die Durchführung von Teilprozessen garantieren. Die Hauptkomponenten sind spezialisiert auf die Aufgabenanalyse, auf die Konstruktion der semantischen Tie- fenstruktur, auf deren sprachliche Kodierung, auf die externale und internale Repräsen- tation von Textprodukten, auf die Steuerung der Befindlichkeit und auf Aufgaben der Sachklärung. Die Prüfkomponente liefert der Exekutive dabei Informationen über die Qualität von Zwischenergebnissen und über ihre Übereinstimmung mit dem Suchmodell. Die Hauptkomponenten des Orchester-Modells sind wiederum in Subkomponenten un- terteilt, welche die ablaufenden Teilprozesse noch weiter differenzieren und ihr „Wissen“ über den Stand des Textproduktionsprozesses auch über die Vermittlung der Metakom- ponente, also der Exekutive beziehen.
Das Orchester-Modell nimmt Elemente von de Beaugrande (Tiefenstruktur und Oberflä- chenstruktur) aber auch von Hayes und Flower (modularer Aufbau, „externe“ Elemente wie Befindlichkeit und Vorwissen, Überprüfungsprozess) wieder auf. Durch seine Diffe- renziertheit wird es damit zu einem gut funktionierenden diagnostischen Instrument.
2.2. Zusammenfassung: Schreiben aus der Sicht der Forschung
Bevor im nächsten Teil der Arbeit die Fragestellung bearbeitet wird, wie die Erkennt- nisse der Textproduktionsforschung didaktisch umgesetzt werden sollten oder tatsäch- lich umgesetzt werden, macht es Sinn, diese noch einmal kurz zu sichten, die wichtig- sten Faktoren zu benennen, um zu einer vereinfachten Sicht des Textproduktionsmo- dells zu kommen, denn letztlich interessiert ganz einfach die Frage: Was passiert ei- gentlich beim Schreiben? Wie kann dieser uneinsehbare Vorgang adäquat beschrieben werden?
Als erstes gilt es noch einmal darauf hinzuweisen, dass das Modell von Bereiter (1980) im Prinzip aus der hier besprochenen Reihe tanzt, da es den Prozess der Schreibentwicklung und nicht den Schreibprozess beschreibt. Trotzdem lohnt es sich, seine Er- kenntnisse genauer zu betrachten, da er eine neue Perspektive aufzeigt: Ein Kind lernt zum grossen Teil eigenaktiv und selbstgesteuert Schreiben. Es erwirbt nach und nach verschiedene aufeinander aufbauende Kompetenzen, es lernt seine Assoziationen linear und kontrolliert niederzuschreiben, es lernt orthografische und grammatikalische Normen zu befolgen, es beginnt sich einen potenziellen Leser vorzustellen und diesen in seinen Schreibvorgang sowie in seine Selbstkritik einzubeziehen und es lernt, durch das Schreiben neue Gedanken und Ideen zu entwickeln.
Der von Bereiter beschriebene Lernprozess spielt sich, während eines längeren Zeit- raumes, über Jahre hinweg ab. Wenn nun aber der konkrete, individuelle Schreibpro- zess beschrieben werden soll, muss man auf die Textproduktionsprozessmodelle zu- rückgreifen. Sowohl Hayes und Flower (1980) als auch Baer et al. (1995)(und in einem gewissen Sinne auch de Beaugrande (1984)) unterscheiden in ihren Modellen Teilpro- zesse der Produktion/Konstruktion von Teilprozessen der Überprüfung/Evaluation. Als zusätzliche Elemente fügen sie noch Zielbildungsprozesse („Suchmodell“), Motivations- findung und Sachklärung bei. Ein Kind, das einen Text schreiben will oder soll steht also im Mittelpunkt eines Geflechtes von unterschiedlichsten Teilaufgaben und Prozessen. Es ist - um das Bild von Baer et al. zu verwenden, welches die Schwierigkeit der Auf- gabe gut darstellt - der Dirigent eines Orchesters. Es muss die Schreibaufgabe analy- sieren und verstehen, um sich für die Weiterarbeit förderliche Ziele zu setzen, es muss sich motivieren und diese Motivation während der ganzen Arbeit aufrechterhalten, es muss sein spezifisches Wissen überprüfen, gegebenenfalls externe Wissenbestände suchen und einsetzen. Während des eigentlichen Konstruktionsprozesses muss das Kind auf verschiedenen Ebenen sprachliche Einheiten miteinander in Beziehung setzen und gemäss den Normen der Rechtschreibung und der Textgestaltung realisieren. Da- bei beinhalten diese Ebenen von globalen semantisch-logischen bis zu syntaktisch-li- nearen Prozessen ganz unterschiedliche Aufgaben. Diese hier beschriebenen Teilpro- zesse kann der oder die Schreibende aber nicht in einer linearen Abfolge abarbeiten, vielmehr müssen während der gesamten Arbeit die entstandenen Teilresultate immer wieder mit den Zielvorstellungen abgeglichen und auf ihre Qualität hin überprüft werden. Oft werden zurückliegende Prozesse - und zwar nicht nur die eigentlichen Produktions- prozesse, sondern zum Beispiel auch die Sachklärung oder die Aufgabenanalyse - wie- der von neuem aufgenommen, Teilresultate verworfen und Zielvorstellungen abgeändert und angepasst.
Die bis jetzt dargestellten Resultate der Forschung stellen natürlich noch keine Hand- lungsanweisungen in einem didaktischen Zusammenhang dar, dafür können sie uns die Augen öffnen für die vielfältigen Eigenschaften und Teilaspekte der Textproduktion. Es entsteht gleichsam eine Topographie des Textproduktionsprozesses, der in didaktischen Überlegungen eine Rolle spielen könnte. Im nächsten Kapitel dieser Arbeit wird nun versucht, die Bedeutung dieser Erkenntnisse für den Schreibunterricht herauszuarbei- ten.
3. Schreiben im Unterricht
Um die oben erwähnte Bedeutung der Schreibforschung für den Schreibunterricht her- auszuarbeiten, muss man als erstes versuchen, die Schnittstellen zwischen Forschung und Unterricht zu suchen. Ein offensichtlicher Zusammenhang bestünde sicher dort, wo die Schreibforschung auf dem Hintergrund ihrer Resultate selber Forderungen formu- liert. Dies ist jedoch eher selten der Fall, sie überlässt die Umsetzung ihrer Erkenntnisse lieber der Didaktik. Die Aufgabe der Didaktik ist es jedoch nicht „aus der gegenwärtigen Schreibforschung didaktisch Interessantes abzuziehen. Vielmehr sollte es darum gehen, die Schreibforschung didaktisch zu interpretieren.“ (Ossner, 1995, S. 29)
Mit der Analyse des herkömmlichen Unterrichtes und der Interpretation hinsichtlich des Einbezugs der Prozessperspektive wird die Grundlage geschaffen, um in einer realisti- schen Art und Weise Erkenntnisse über den Schreibprozess in den Unterricht einmün- den zu lassen.
3.1. Schreiben lernen im herkömmlichen Unterricht
Schreiben lernen ist und war bis anhin kein eigenes Schulfach, obwohl es natürlich auf allen Schulstufen, bis hin zur universitären Ausbildung, ein sehr wichtiges Lernziel ist. In vielen didaktischen Ansätzen wurde nur der Aufsatz als prototypische Form des Schreibunterrichts in die Überlegungen mit einbezogen, betrachtet man aber alle existie- renden Schreibsituationen im Unterricht, vom Antworttext in der Geschichtsprüfung bis zur schriftlichen Notiz während eines Schülervortrags, so ergeben sich weitere Textpro- duktionsprozesse, die in einem didaktischen Zusammenhang von Bedeutung sein könnten. Auf die Gründe für diese einseitige Konzentration auf den Aufsatz, die in der historischen Entwicklung des Schulunterichts zu suchen sind, wird später eingegangen werden. Fürs erste soll hier die Unterscheidung von Ossner übernommen werden, der zwei funktional verschiedene Zusammenhänge des Schreibens im Unterricht anführt, Schreiben einerseits als „Unterrichtsmedium“ andererseits als „Unterrichtsgegenstand“ (Ossner, 1995, S. 30). Schreiben übernimmt als Unterrichtsmedium dabei vor allem im Zusammenhang mit dem in der neueren Lehrplandiskussion zentralen Erwerb von Schlüsselqualifikationen eine wichtige Rolle (Ossner, ebd.). Gerade die epistemische Funktion der schriftlichen Textproduktion begünstigt eine selbstständige Aneignung von Wissensinhalten. Ob und wie gut Textproduktion aber gelernt wird, hängt zu einem gro-ßen Teil davon ab, „wie Schreiben als Unterrichtsgegenstand modelliert wird“ (Ossner, 1995 S. 31).
Im Folgenden soll hier auf drei verschiedene didaktische Themenkomplexe eingegan- gen werden, an denen aufgezeigt werden kann, wie die Erkenntnisse im Zusammen- hang mit der Prozesshaftigkeit der Textproduktion in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren den Unterricht und die Lehrpläne verändert haben und wo noch Defizite beste- hen. Es sind dies
- die Frage der Isolierung von Teilaspekten des Schreibens im Unterricht,
- die Verwendung von Textsorten im Aufsatzunterricht und
- das Problem der Bewertung von Textprodukten.
3.2. Isolierung von Teilmomenten des Schreibens
Traditionellerweise werden im Schreibunterricht verschiedene Aspekte des Textproduk- tionsprozesses isoliert vermittelt und didaktisch aufbereitet. Es gibt den Anfängerunter- richt, den Rechtschreibeunterricht und den Aufsatzunterricht. Während es im Anfä- gerunterricht vor allem darum geht, die grundlegenden, auch motorischen Fähigkeiten zu erlangen, die es für das Schreiben braucht, wird im Rechtschreibeunterricht die nor- mative, konventionelle Seite des Schreiben vermittelt und im Aufsatzunterricht lernen die Schüler und Schüllerinnen vor allem die inhaltlichen Aspekte der Textproduktion. Diese Aufteilung hat vor allem den Zweck, die Komplexität des Schreibprozesses auf ein handhabbares Mass zu reduzieren und damit die Schüler und Schülerinnen zu entla- sten. Damit haben sich auch autonome Unterrichtsgegenstände herausgebildet, die zum Teil auch einzeln bewertet werden, als Beispiel Schönschreiben oder Diktate. Oft ist dementsprechend in Lehrplänen für das Schreiben in der Grundstufe fast ausschliess- lich von schreibtechnischen und orthografischen Aspekten die Rede („Mit der planmä-ßigen Einführung in den schriftlichen Sprachgebrauch kann erst begonnen werden, wenn ausreichende schreibtechnische Fertigkeiten und grundlegende Rechtschreib- kenntnisse vorhanden sind.“ (Lehrplan für die bayerischen Grundschulen, 1996, S. 28)) Das Auseinanderdriften von eigentlich zusammengehörigen Elementen zeigt sich auch daran, dass die Rechtschreibung oft innerhalb eines Unterrichtsthemas wie „Sprachbe- trachtung“ oder „sprachliches Erfassen“ gelehrt wird, in dem (streng genommen) münd- liche und schriftliche Sprachformen, und produzierende und interpretierende Sprach- handlungen vermischt werden. Zusätzlich zu den hier angedeuteten Problemen ist es erfahrungsgemäss auch schwieriger, Lernende für Teilprozesse zu motivieren, wenn der Zusammenhang nicht klar ersichtlich ist. (Ossner, 1995) Gerade aus diesem Grund könnte aber eine prozessuale Sicht der Textproduktion, oder ganz praktisch auch die Anlehnung an Textproduktionsmodelle Klarheit schaffen und einen Hintergrund für die didaktische Aufbereitung des Themas bilden.
Es geht nicht darum, einfach neue Elemente, neue Lernformen zu entwickeln, es ist aber wichtig, dass die Lernenden selber erkennen, dass sie zum Beispiel im Recht- schreiben einen Teilaspekt eines Textproduktionsprozesses erarbeiten, dass auch das Gestalten, das Schönschreiben am Ende dazu dient, das antizipierte kommunikative Ziel eines Textes zu erreichen. Als weiteres Beispiel lässt sich damit auch begründen, warum die Notizen in der Geschichtsstunde oder ein Tagebucheintrag nicht den selben ästhetischen und logischen Ansprüchen genügen müssen wie eine handgeschriebene Bewerbung oder eine Geschichte für die Schülerzeitung.
Natürlich ist dieses kommunikative Ziel in vielen Fällen nur eine fiktive Grösse und na- türlich verändert die Bezugnahme auf einen Textproduktionsprozess die bestehenden Methoden des Schreibenlehrens nicht grundsätzlich, trotzdem wird die prozessuale Per- spektive das Verständnis der Lernenden für die Teilaspekte des Schreibens sicher ver- bessern und damit den eigenaktiven Lernprozess noch unterstützen. In verschiedenen Lehrplänen hat diese Funktionalisierung des Textproduktionsprozesses zumindest durch die Forderung nach „konkreten Schreibanlässen“ und „realen Kommunikationssitua- tionen im Schreibunterricht“ (Lehrplan für die bayerische Grundschule, 2001; Lehrplan für die Realschule, 1990) schon ihre Auswirkungen gezeitigt.
Auch als Analyseinstrument kann das Textproduktionsmodell den Lehrpersonen zur Unterstützung dienen, wenn es darum geht, mit den Schülern und Schülerinnen Teilfä- higkeiten des Schreibens zu erlernen und einzuüben. So wird zum Beispiel bei einem Aufsatz deutlich, welche Komponenten wirklich geübt werden und welche Komponenten durch die Aufgabenstellung und durch weiter Hilfestellungen der Lehrperson entlastet werden können. Die Aufgabenstellung gibt meistens das Thema vor, macht vielleicht noch Angaben zu möglichen Textsorten (referiert also auf die stored writing plans von Hayes und Flower), je nach Unterrichtsorganisation ist der anzunehmende Rezipient des Aufsatzes entweder die Lehrperson oder die Mitschüler und Mitschülerinnen oder beide, die Motivation ist zum Teil intrinsisch und zum Teil durch die zu erwartende Note beeinflusst, externe Wissensquellen dürfen möglicherweise benutzt werden, in gewissen Fällen muss eine Art „Suchmodell“ in Form eines Konzeptes zuerst erstellt werden, Re- formulierungsprozesse werden dafür von der ersten Endfassung des Textes getrennt und in Form von einer Verbesserung erst nachträglich angewendet oder eventuell durch die Unterrichtsform schon während der Niederschrift des Aufsatzes angeregt usw. Der Textproduktionsprozess wird also - dies sollen die erwähnten Beispiele belegen - durch die Anwendung der Begrifflichkeit aus den vorhandenen Modellen besser be- schreibbar, die einzelnen Teilaufgaben können differenziert und in diesem Sinne auch isoliert bearbeitet und eingeübt werden. Es entstehen so Bausteine der Textproduktion, die sinnvoll und bewusst im Unterricht eingesetzt werden können. Da Schreiben auf diese Weise in der ganzen Komplexität gesehen werden kann, ist es auch wichtig, dass der Textbegriff, mit dem die Lehrpersonen arbeiten, sich nicht auf die Textsorte des Aufsatzes beschränkt. Texte sind in diesem Sinne sowohl einzelne Sätze im Schönschreibunterricht als auch schriftliche grammatische Übungen, jede schriftliche Äusserung eines Schülers, einer Schülerin besteht aus den oben erwähnten Bausteinen der Textproduktion, die Elemente des Textprozesses bleiben immer bestehen, unge- achtet der Qualität und Ausführlichkeit des Endproduktes.
3.3. Textsorten im Aufsatzunterricht
Wurde im voranstehenden Kapitel ein erweiterter Textbegriff im schulischen Zusam- menhang propagiert, so soll es im Folgenden darum gehen, die prototypische Verwen- dung von Schreibvorgängen in der Schule genauer zu betrachten. Im Mittelpunkt steht dabei ganz klar der Schulaufsatz, wie das folgende Zitat von Kaiser Wilhelm II aus einer Rede auf einer Schulkonferenz im Jahre 1890 zeigt: „Wir müssen das Deutsche zur Ba- sis machen. Der deutsche Aufsatz muss der Mittelpunkt sein, um den sich Alles dreht.“ (zitiert nach Frank 1973, S. 84) Zwei Aspekte fallen bei diesem Zitat vor allem auf: Was ist der Grund für die Wichtigkeit, die hier von oberster Stelle dem (Schul-)aufsatz beige- messen wird? Und: Was ist denn eigentlich dieser Aufsatz? Wie selbstverständlich wird vom „Aufsatz“ gesprochen, wie wenn es sich dabei um eine eigene, allen bekannte Textsorte handelte, die keiner näheren Erklärung mehr bedarf.
Tatsächlich ist der Schulaufsatz mit allen seinen Unterarten eine altbekannte Textform, es gibt eine eigentliche Geschichte und Tradition des Aufsatzes, die bis in die Anfänge des Schreibens und damit auch des Schreibenlernens zurückgeht. Natürlich stammen auch viele didaktische Regeln und viele Methoden des Umgangs mit dem Aufsatz aus dieser Tradition, sodass der heutige, herkömmliche Aufsatzunterricht zum Teil nur aus dieser Tradition heraus verstanden werden kann.
Schon in der griechischen und römischen Antike galt das Aufsatzschreiben als „der be- ste und vorzüglichste Urheber und Lehrmeister für die Rede“ (Cicero zitiert nach As- muth, 1996, S. 1279), diente also dem obersten Bildungsziel, der Erziehung zur Rede- kunst. Dazu wurden verschiedene Teilinhalte der Rede isoliert eingeübt (Asmuth, ebd.), also erste Textsorten institutionalisiert. Auch wenn diese rhetorischen Vorübungen im Laufe der Zeit ihre Bedeutung zum Teil verloren, zum Teil wieder an Bedeutung gewan- nen, so war doch einmal ein Inventar von Aufsatzarten geschaffen, das als Instrument des Unterrichts seine Bedeutung bis heute behielt. Diese aus der Rhetorik stammenden, vor allem auf die Denk- und Argumentationsschulung ausgerichteten Aufsatzarten wur- den in ihrer Wichtigkeit eigentlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den von der Erlebnispädagogik (Dilthey) propagierten freien Aufsatz abgelöst (Asmuth, 1996), repräsentiert durch die Aufsatzform der Schilderung. Weiter ergänzt wurde diese durch die auch narrativen Aufsatzsorten wie Erzählung, Beschreibung und Bericht (Asmuth, ebd.).
Bei allen dieses Aufsatzarten handelt es sich um normativ festgelegte, nach dem End- produkt eines Schreibprozesses definierte Textsorten. Dazu gehört auch die Annahme, dass jede dieser Textsorten am Ende durch sprachliche Merkmale der Textprodukte identifiziert werden kann. Asmuth schreibt dazu: „Diese Annahmen beruhen weniger auf Einsichten in die sprachliche Beschaffenheit von beschreibenden, erzählenden oder be- richtenden Texten, die ausserhalb der Schule verfasst und gelesen werden, als auf ei- ner Festsetzung von Normen für den Schulgebrauch.“ (Asmuth, 1996, S. 1262) Auch Schneuwli spricht in diesem Zusammenhang von einer „starken Dominanz schulischer Textformen“, nämlich vor allem von Ich-Erzählung, Objekt-, Personenbeschreibung und Erörterung, deren Modell, wie er schreibt „im allgemeinen aus dem Kontext und dem Ko- Text herausgenommene literarische Exzerpte sind“ (Schneuwli, 1996, S. 31).
Die Gefahr besteht somit, dass im Aufsatzunterricht diese Normen zum „Stoff“ werden, der im Aufsatz „abgefragt“ wird und so die Textsorten ihre Funktion verlieren, die eigent- lich darin bestehen würde, die Schüler und Schülerinnen in ihrem Textproduktionspro- zess zu entlasten (Baurmann, 1993, S. 308). Oft werden die Aufsatzsorten deduktiv vermittelt, was für Baurmann zu einem eklatanten Trugschluss führt: „Es wird so getan, als ob man Schreiben anhand von Merkmalen in Gang setzen kann: und es wird erwar- tet, dass Heranwachsende nach vorgegebenen Merkmalen ein Text zu verfassen mö- gen oder dass ihnen zumindest solche Kategorien beim Schreiben helfen.“ (Baurmann, 1995, S. 55) Nicht nur im Aufsatzunterricht werden Schüler und Schülerinnen übrigens oft dazu angehalten, sich an den oben erwähnten Normen, Mustern und Konventionen zu orientieren, auch die Öffentlichkeit orientiert sich an ihnen, so dass ein guter Teil der Diskussion über die schwindenden schriftlichen Fähigkeiten der Jugend auch unter die- sem Aspekt verstanden werden muss.
Textsorten, die anhand von Merkmalen der Endprodukte bestimmt werden, wie das in der linguistischen Textsortenforschung oft üblich ist, bringen also für den konkreten Schreibunterricht nicht unbedingt viel. Von den Textprodukten lassen sich nämlich nicht unbedingt stichhaltige Rückschlüsse auf die Prozesse ziehen, was aber wichtig ist, will man in didaktischer Absicht in Textproduktionsprozesse eingreifen („Prozess-Produkt- Ambiguität“ (Antos, 1996, S. 1530)). Genauso wenig wie man von den Textprodukten auf die zugrunde liegenden Produktionsprozesse schliessen kann, genauso wenig ist schliesslich auch die Schreibprozessforschung eine Umkehrung der Textrezeptionsfor- schung. So erklärt auch Portmann in diesem Zusammenhang die Prozessorientierung: „Die traditionell starke Produktfixierung des schulischen Schreibunterrichts wird gelo- ckert, oder vielleicht besser: Das intendierte Produkt, seine Merkmale und die Auseinan- dersetzung mit diesen werden auf neue Weise thematisiert und in einen bewusst ge- stalteten Vorgang der Texterarbeitung einbezogen.“ (Portmann, 1996, S. 159) Vielleicht gibt es aber eine Textsortenbestimmung, die ihm Rahmen einer prozessualen Sicht auf die Textproduktion im Unterricht Sinn macht? Denn: Aus den oben stehenden Erwägungen abzuleiten, Textsorten würden in der Textproduktionsprozessforschung keine Rolle spielen wäre eine zu kurzsichtige Interpretation. So beschreiben etwa Baer et al. in ihrem Orchestermodell, wie die Exekutive, also die Steuerungs- und Überwa- chungsinstanz, im Textprozess „auf ihr vielfältiges Wissen über den idealen Textproduk- tionsprozess, über die Merkmale von Textadressaten, die Eigenschaften von Textarten sowie die sprachlich-stilistischen Gütemerkmale und formalsprachliche Standards etc.“ zurückgreift (Baer et al., 1995, S. 158). Die Exekutive setze dieses Wissen über die Textsorten „als wegleitende Soll-Zustandsvorstellungen für die Koordination der Kom- ponenten ein“ (Baer et al, ebd.).
Bei Hayes und Flower werden Textsorten wohl am ehesten als Wissen über Textsorten im Rahmen des writer’s long distance memory, des Langzeitgedächtnisses lokalisiert. In den stored writing plans, den gespeicherten Schreibplänen speichert der Schreiber prototypische Formen und Schemen für die Erfüllung einer bestimmten konkreten Schreibabsicht. Diese Schreibpläne, als basales Beispiel, das Wissen, dass sich eine Erzählung aus Einführung, Hauptteil und Schluss zusammensetzt, stellen jedoch nur ei- nen kleinen Teil des für die Textproduktion benötigten Wissens dar. Es handelt sich hierbei um „sprachliches Realisierungswissen, das sich auf die Makrostruktur von (...) Texten bezieht“ (Jechle, 1992, S. 17). Ähnlich wie zum Beispiel die Orthographie wird das Wissen über Textsorten mit fortschreitender Schreiberfahrung zu einem automati- sierten Wissen, das die Informationsverarbeitungskapazität während des Textprodukti- onsprozesses, d.h. den ganzen Problemlöseprozess entlasten kann (Jechle, 1992). Textsorten haben also durchaus ihren systematischen Ort innerhalb von prozessbezo- genen Textproduktionsmodellen, für ihre didaktische Bedeutung ist es jedoch wichtig zu beachten, dass solche Textsorten nur „zur Bewältigung der Schreibaufgabe herangezo- gen werden und nicht selbst schon die Schreibaufgabe ausmachen. Diese besteht darin, ein thema- und leserorientiertes Schreibziel zu entwickeln, das dauernd auf den Schreibprozess in einem Ist-Soll-Vergleich bezogen wird.“ (Ossner, 1995, S. 36) Ossner konstatiert, dass genau diese Funktion der Textsorten den Schülern im traditionellen Aufsatzunterricht vorenthalten werde. Textsorten werden im traditionellen Aufsatzunter- richt, und damit soll auch an die oben stehenden Ausführungen zur Tradierung und Normierung von schulischen Textsorten angeknüpft werden, also zu eigentlichen Schreibzielen umfunktioniert. Sie unterstützen nicht mehr, wie in den Textproduktions- modellen von Baer et al. und Hayes und Flower angelegt, die eigentliche kommunikative Zielvorstellung, die während der Textproduktion eine wichtige koordinative Rolle spielt. Ossner fordert in seinem Ansatz für eine prozessorientierte Schreibdidaktik denn auch eine konsequente Funktionalisierung der Schreibziele (Ossner, 1995). Jemanden unter- halten, einen Plan ausarbeiten, sich entlasten, das Gedächtnis unterstützen; alle diese Schreibziele seien für Schüler viel sinnvoller und besser verständlich als die abstrakt definierten Schreibziele Erzählung, Bericht, Erörterung, usw. Es ist gemäss Ossner also äusserst wichtig, mögliche konkrete Schreib- und Unterrichtsziele von curricularen Zie- len zu unterscheiden, wie sie zum Beispiel in Lehrplänen genannt werden. So macht es zum Beispiel durchaus Sinn, als übergelagertes Ziel den Erwerb der Textsorte Erzäh- lung festzusetzen, als konkretes Unterrichts- oder konkretes Schreibziel aber braucht es in einer prozessualen Perspektive funktionale, kommunikative Ziele, wie zum Beispiel eine lustige Geschichte schreiben oder jemanden unterhalten. In der linguistischer Ter- minologie der Sprechakttheorie ausgedrückt wäre das Kennenlernen der Textsorte so- zusagen ein sekundärer perlokutiver Effekt, während jemanden unterhalten die ange- strebte primäre perlokutive Wirkung ist (Ossner erwähnt als Beispiel für einen sinnvollen Umgang mit Textsorten im Unterricht die von Ludwig entwic??kelten „Funktionen der ge- schriebenen Sprache“ (Ludwig, 1980)). Das Wissen über Textsorten wird so nicht an- hand von vorgegebenen Merkmalen, sondern über den Umweg einer Funktionalisierung des Schreibzieles gelernt.
3.4. Bewertung von Textprodukten
Eine konsequente Befolgung der oben stehenden Ideen bringt für ein weiteres Element des herkömmlichen Unterrichts erhebliche Probleme mit sich. Wenn sich der Unterricht an funktionalen, kommunikativen Schreibzielen orientiert, bringt das eine Individualisie- rung des Unterrichts mit sich, die es der Institution Schule schwer macht, Schülertexte wie bis anhin zu bewerten. „Statt absoluten müssen nun nämlich relative Kriterienkata- loge angewandt werden, was die scheinbar geforderte Aufgabe, eine ‚gerechte‘, i.S. von vergleichbare Aufsatzbewertung zu liefern, enorm erschwert.“ (Ossner, 1995, S. 37) Für eine Lehrperson ist es natürlich einfacher, in ein paar Lektionen die Textsorte Erörte- rung zu besprechen, dabei Textmerkmale vorzugeben und zu definieren und diese dann in einem Aufsatz „abzufragen“ und zu bewerten, einfacher zumindest als sich bei jedem einzelnen Aufsatz zu fragen, ob der Schüler sein individuelles Schreibziel erreicht hat und in welchem Masse er es erreicht hat. „Es kann kaum überschätzt werden, in wel- chem Masse die enge Verknüpfung des Schreibens mit dem Benoten die Aufmerksam- keit aller Beteiligten aber sogleich vom Prozess weg zum Ergebnis des Schreibens lenkt - trotz aller prozessorientierten Ansätze.“ (Baurmann, 1995, S. 53)
Eine Ausrichtung des Schreibenlernens auf die Textproduktionsprozesse hat also auch auf ganz konkrete Funktionen der Institution Schule, auf die Bewertung der Schüler, ihre Auswirkungen. Der benotete Aufsatz soll, um ein Grundlage für eine gerechte Benotung zu bieten, möglichst von aussen unbeeinflusst zustande kommen. Jeder Schüler, jede Schülerin soll alleine das Gelernte im Schulaufsatz zeigen können. Damit wird aber rein methodisch diametral die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, als dies die Er- kenntnisse der Textprozessforschung erfordern würden. Schreibkonferenzen, Schreib- arbeit in Gruppen, kommunikatives Schreiben, ständige Überarbeitung des Textes schon während des Schreibens, Entwicklung einer Schreibkultur - alle diese Methoden der neueren, prozessbezogenen Schreibdidaktik lassen sich nur schlecht mit der Me- thode des traditionellen, benoteten Schulaufsatzes in Einklang bringen. Aus prozessua- ler Sicht ergibt sich durch die Benotung des Schulaufsatzes zudem noch ein weiteres Problem, das hier im Vorwort schon angedeutet wurde, und zwar wie Spitta schreibt, eine „‘heimliche Zielbildung‘, nämlich die, wegen der Note oder aber verbalen Bewer- tung genau das zu schreiben, was die Lehrperson erwartet“ (Spitta, 1998, S. 31). Die für die Textproduktion so wichtigen Prozesse der Bildung eines Schreibzieles als Kontrol- linstanz und der Motivationsbildung werden so nachhaltig verhindert oder zumindest ge- stört.
Es scheint sich beim Problem der Bewertung in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur um ein spezifisches Problem des Schreibunterrichtes zu handeln, sondern um eine grundsätzliche Schwierigkeit der Ausrichtung des Unterrichts auf prozessuale Aspekte.
Wenn nicht die fertigen Produkte, sondern die Wege des Erwerbs im Vordergrund ste- hen sollen, so bedeutet dies laut Ossner nicht den „Verzicht auf Leistung und Lei- stungsbeurteilung“ (Ossner, 1995, S. 49). Schülerorientierte Bewertung oder Bespre- chung von Texten, sei es nun durch Lehrkräfte oder durch Mitschüler und Mitschülerin- nen, habe aber „die Professionalisierung im Schreiben zum Ziel, die Bewertung von Produkten innerhalb oder am Ende des Prozesses ist demgegenüber untergeordnet“ (Ossner, ebd.). Dass das traditionelle Notengebungssystem auch aus motivationspsy- chologischer Sicht Probleme aufwirft, und zwar sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Schüler, ist offensichtlich. Csikszentmihalyi schreibt dazu im Zusammenhang mit den Problemen der intrinsischen und extrinsischen Motivation: „Entdeckt der Lehrer, dass Kinder der Noten wegen lernen, wird er sich möglicherweise weniger darum be- kümmern, ob die Arbeit für den Schüler selber sinnvoll oder befriedigend ist.“ (Csiks- zentmihalyi, 19935, S. 21)
Abschliessend zeigt sich nun also, dass schreibdidaktische oder schreibmethodische Veränderungen des Unterrichts nicht ausreichen, um diesen konsequent auf eine pro- zessuale Perspektive auszurichten. Veränderungen zugunsten einer Prozessperspek- tive im Unterricht müssen auf Grund der vielfältigen Vernetzung des Sachbereiches auf einer didaktischen, einer methodischen und auch auf einer institutionellen Ebene vorge- nommen werden.
4. Schreibunterricht und Schriftlichkeit
Ganz zu Beginn dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen: Textproduktion ist nicht nur eine psychologische Fähigkeit eines einsamen Schreibers, der aus sich selber heraus schriftliche Bedeutungen produziert. Wer sich mit Textproduktion auseinandersetzt, wird in einem erweiterten Rahmen immer auch auf die interindividuellen, soziokulturell be- dingten Aspekte des Umgangs mit Texten Bezug nehmen müssen. Oder anders erklärt: Neben den Regeln und Fähigkeiten, die es braucht um einen Text zu produzieren, braucht es auch Regeln und Fähigkeiten, die den Umgang mit Texten definieren.
Aber auch wenn Schriftlichkeit vor allem als eine „soziokulturelle Aktivität“ (Schmidlin, 1999, S. 23) oder aus kommunikationstheoretischer Perspektive beschrieben wird, so hat sie trotzdem auch einen individuelle, psychologische Dimension. Die verschiedenen Ebenen - speziell die Ebene der Textproduktion und der Textrezeption - sind ver- schachtelter als bisher angenommen, deshalb können immer auch in den hier beschrie- benen Textproduktionsmodellen Elemente von Textrezeption gefunden werden. Der Umgang mit Schrift ist also nicht einfach natürlich, „sondern er bedarf der Einbindung in sozial regulierte und orientierende Bildungsprozesse“ (Sting, 1998, S. 343). Soziale und kommunikative Elemente finden sich zum Beispiel im Entwicklungsmodell von Bereiter, wenn der Schüler lernt, die Perspektive des Lesers in seinen Schreibpro- zess einzubeziehen, oder bei Hayes und Flower einerseits in der Aufgabenumgebung (reader) und in den Wissensbeständen des Schreibenden (knowledge of audience). In den erwähnten Modellen des Schreibens gehören aber die kommunikativen und sozio- kulturellen Aspekte allesamt zu den Randbedingungen des Schreibens, das als Bezie- hung zwischen Autor und Text beschrieben wird.
In der Beziehung zwischen dem Autor und dem Leser spielen dagegen die soziokultu- rellen, historischen und kommunikativen Verwendungsregeln der Schrift eine Hauptrolle. Der Schriftlichkeit wird aus dieser Perspektive, wie Sting schreibt, eine entscheidende Vermittlungsrolle zugeschrieben: „Seit dem Aufkommen von Schrift und neuzeitlicher Pädagogik stiften Schrift und Bildung Interfaces - Zwischenebenen oder Schnittstellen die zwischen dem einzelnen Subjekt und der Gesamtheit der Gesellschaft und Kultur vermitteln“. (Sting, 1998, S. 350) Im Textproduktionsprozess ist ein Schreibender anders als in einer direkten, von Kooperation geprägten Gesprächssituation (Grice, 1968, 1975) isoliert von seinem sozialen Kontext, der aber über den Umweg der Schrift und deren immanenter gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung wieder eingepflanzt wird. Auf eine individuelle, psychologische Ebene bezogen braucht es also eine weitere Schreibfähigkeit, die soziale Kognition, wie Jechle sie beschreibt: „Von zentraler Bedeutung ist dabei die Fähigkeit zu sozialer Wahrnehmung, die es dem Textproduzenten ermöglicht, Wissen um konventionalisierte Handlungsmuster bei schriftsprachlicher Kommunikation situations- und leserspezifisch einzusetzen und den eigenen Text aus der Perspektive des Lesers zu bewerten.“ (Jechle, 1992, S. 49)
Dass die soziale Kognition historisch und damit auch soziokulturell bedingt ist, dass also anders ausgedrückt die erwähnten Normen und Konventionen des Umgangs mit Schrift- lichkeit einem stetigen Wandel unterworfen sind, wird in der Literatur zum Schreiben im Unterricht (natürlich nicht nur dort) relativ selten erwähnt und in die didaktischen Überle- gungen miteinbezogen. Wer sich jedoch näher mit dem Phänomen des Sprachwandels in einem soziokulturellen Zusammenhang beschäftigt, stellt fest, dass vor allem der Blick auf die enorme Verbreiterung und Ausweitung der Schrift im Zusammenhang mit Wissen und Bildung verstellt ist: „Noch nie zuvor in unserer Kulturgeschichte waren so viele Menschen sprachlich in so vielfältiger Weise gefordert wie heute - bei allen Unter- schieden der beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen der einzelnen.“ (Sieber, 1998, S. 43) Der Grund für diese Ausweitung wird in der rasanten Zunahme der schriftli- chen Texte insgesamt zur Aneignung, Auffindung, Darstellung und Speicherung von Wissen, der Veränderung hin zur Medien- und Informationsgesellschaft und der techni- schen Vielfalt der Darstellungs-, Speicher-, und Vervielfältigungsmöglichkeiten von Schrift gesehen (Antos, 1996; Schmidlin, 1999). Auch die im heutigen Unterricht zen- trale Funktion des epistemischen Schreibens ist keineswegs eine unveränderliche Ei- genart der Textproduktion an sich, sondern konnte, wie Ludwig zeigt, auch erst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und der entsprechenden Veränderung im Umgang mit der Schriftsprache entwickelt werden (Ludwig, 1996). Als nämlich in vorscholasti- scher Zeit in der Vorstellung der Menschen das gesamte existierende Wissen von Be- deutung (zumindest des Abendlandes) noch in den kanonischen Schriften (Bibel, Cor- pus Juris, griechische und römische Klassiker) gespeichert war, gab es keinen Bedarf nach Wissenserweiterung. Man begnügte sich damit, das vorhandene Wissen anzueig- nen und zu verstehen. In schreibtechnischer Hinsicht bedeutete das, dass es vor allem darum ging, vorhandene Texte zu kopieren, Reden mitzuschreiben, allenfalls Briefe zu verfassen. Der Textproduktionsprozess war in den meisten Fällen sogar zwischen einer diktierenden und einer (auf-)schreibenden Person aufgeteilt. Erst mit der einsetzenden Neuzeit, mit der Bewegung des Humanismus und der Aufklärung entstand der Bedarf nach Techniken der Wissensvermehrung und erst in diesem Zusammenhang wurde die technische Operation des Schreibens in den Prozess der Textherstellung eingegliedert, der diktierende Autor wurde zu einem schreibenden Autor. Der Textproduktionsprozess, wie er heute beschrieben wird mit Zielvorstellung, Wissensorganisation, Planungspro- zessen, sprachlicher und graphischer Realisierung und vor allem den zugehörigen re- kursiven, reflexiven Prozessen, alle von der selben Person in Eigenverantwortung durchgeführt, ist also in keiner Weise „naturgegeben“, sondern Resultat einer jahrhun- dertelangen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung. Nur durch diese Entwicklung ist es erklärbar, dass die Technik der Textproduktion zu dem oben erwähnten Interface zwischen Wissen und Subjekt, zu einem eigentlichen Orientierungsrahmen des Menschen in der modernen Welt wurde.
Die historische Sicht auf die Entwicklung des Schreibens und der Textproduktion bringt auch für die didaktische Analyse in verschiedener Hinsicht wertvolle Erkenntnisse. Sie erlaubt es zum einen eine terminologische Schwierigkeit besser zu fokussieren, nämlich die Begriffe Schreiben und Textproduktion auseinanderzuhalten. Schreiben wird so zu einem Terminus der vor allem die technischen, realisatorischen uns physischen Aspekte des ganzen Prozesses betont, hergeleitet aus der Erkenntnis, dass während vielen Jahrhunderten der Geschichte ein Schreiber noch lange kein Textautor war, jedoch durchaus die Technik des Schreibens beherrschte. Demgegenüber betont der Begriff der Textproduktion stärker die kommunikativen, textuellen, sozialen und kulturellen Aspekte der Schriftlichkeit. Als Beispiel für diese Trennung sei hier die Tatsache angeführt, dass viele der Texte aus dem Mittelalter, die wir heute noch lesen, von Menschen geschrieben wurden, die der Technik des Schreibens nicht mächtig waren, aber sehr wohl schriftliche Texte diktieren konnten.
Ludwig fordert denn auch im Anschluss an seine historischen Erkenntnisse, dass man sich in der didaktischen Reflexion über diese Differenzen Gedanken macht, einerseits im Zusammenhang mit der kooperierenden Textproduktion im Unterricht, mit dem Verhältnis von Oralität im Unterricht und andererseits aber auch über die technischen Aspekte des Schreibens, über Schriftbild, Gestaltung, technische Hilfsmittel usw. (Ludwig, 1996) Zudem ermöglichen die Erkenntnisse der Forschung - ähnlich wie bei den Textproduktionsmodellen - eine differenziertere Analyse des Gegenstandes, welche sich die didaktische Reflexion zu Nutze machen sollte.
Lang brauchte die Schule im Unterricht also gar nicht so viel zu leisten, weil die Schrift- lichkeit ein professionalisiertes Arbeitsfeld und nicht eine alltägliche Handlung war. In der Arbeitswelt wurde die Beherrschung einiger wenigen schriftlichen Handlungen ver- langt, die in der Schule in standardisierten Verfahren vermittelt werden konnten, wie Briefe schreiben, Bewerbungen und Gesuche. Heute aber - die Veränderung ist offen- sichtlich - wird die Beherrschung von verschiedensten schriftlichen Handlungen in allen gesellschaftlichen Bereichen verlangt, zudem noch erschwert durch die zunehmende Technologisierung und Popularisierung des Umgangs mit schriftlichen Texten (als Bei- spiele: E-Mail, elektronische Textverarbeitung und Drucktechnik, Umgang mit Hyper- texten).
In verschiedenen Kontexten wurde im Zusammenhang mit der Veränderung des sozio- kulturellen Umgangs mit Schrift auch schon vom Niedergang der Schriftkultur und deren Ablösung durch bildbasierte neue Medien und Informationstechnologien gesprochen (vgl. Postman, Flusser, Luhmann). Im Grunde aber lässt sich aber weder ein nachlas- sendes Interesse am Buch (Saxer 1989), noch eine merkliche Verschlechterung der schriftsprachlichen Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen feststellen (Sieber, 1998) feststellen. Beobachtungen von neuen Medien, wie Internet aber auch Beobachtungen aus der Werbung, Produktegestaltung und Fernsehen lassen eher die Schlussfolgerung zu, dass sich die Schriftkultur abermals in einem Transformationsprozess befindet: „Schrift wird von neuen Medien und Informationstechnologien nicht abgelöst; stattdes- sen verschmilzt sie mit ihnen, geht neue Verbindungen ein und verstärkt ihre Poten- tiale.“ (Sting, 1998, S. 14)
Für den Unterricht ist es wichtig festzuhalten, dass die schriftliche Sprache nicht einfach eine Transkription der gesprochenen Sprache ist (Schmidlin 1999) und das Kinder - schon bevor sie Lesen und Schreiben können - durchaus vertraut sind zumindest mit der konzeptionellen Seite der Schriftlichkeit (zum Beispiel durch das allabendliche „Ge- schichten vorlesen“ der Eltern oder durch Kritzelbriefe, die schon vor dem ersten Schreibunterricht „geschrieben“ werden). Dieses Wissen um die Potenzialität der Schriftlichkeit muss den Schülern und Schülerinnen im Unterricht vermittelt werden, sie müssen „fähig sein, Schreiben als ein kognitives Instrument zu benutzen“ (Ossner, 1995, S. 46). Auch hier ist es jedoch wichtig, dass man wie bei den Textsorten im Unter- richt das Instrument nicht schon für das Ziel hält: „Schriftlichkeit ist das oberste curricu- lare Ziel. Genaugenommen sollte jeder Lehrplaninhalt, jede didaktische Massnahme, je- des methodisches Arrangement auf dieses Ziel bezogen werden können, ohne aus dem Ziel geradlinige Ableitungen vorzunehmen.“ (Ossner, 1995, S. 48)
5. Schlusswort
Ein Kernproblem der Didaktik des Schreibens, so hat sich gezeigt, liegt vor allem in Lehrplänen, in didaktischen und methodischen Traditionen, aber auch in gesellschaftlichen Erwartungen, die sich an überholten konventionalen Ordnungen und Mustern orientieren. Wir sprechen und schreiben nicht mehr Urindogermanisch, Althochdeutsch oder Mittelhochdeutsch, die Sprache insgesamt und auch die Schriftsprache im Speziellen hat sich verändert und verändert sich immer noch. Eines gilt es in einem didaktische Zusammenhang aber immer zu beachten: Nicht nur die Sprache hat sich verändert sondern auch unser Umgang mit ihr und die Anforderungen, denen wir im alltäglichen Umgang mit der Sprache genügen müssen.
Als Resultat dieser Arbeit lassen sich vor allem zwei Ergebnisse zusammenfassen:
„Schreiben lehren - i. S. einer didaktisch reflektierten Tätigkeit - kann nur, wer vor allem das Schreibenlernen im Blick hat.“ (Feilke & Portmann, 1996, S. 12) Nicht von ungefähr kamen viele Initiativen zur Erforschung des Schreibens, im Besonderen des Schreibpro- zesses aus den Reihen praktizierender Lehrer und Lehrerinnen. Wer Schreiben lehren will muss Einfluss nehmen können auf Schreibprozesse, wer Einfluss nehmen will auf Schreibprozesse muss diese auch kennen und erforschen. Die Resultate der Textpro- duktionsprozessforschung ermöglichen es der didaktischen Reflexion eine Topographie des Schreibprozesses zu Grunde zu legen. Es wird aufgezeigt, welche Faktoren alle an einem Schreibprozess teilhaben und welche Fähigkeiten aktiviert werden müssen.
Gleichzeitig bieten zum Beispiel Modelle des Textproduktionsprozesses aber auch einen Rahmen, die vielen verschiedenen Faktoren werden zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei geht es nicht, wie Ossner schreibt um einen Paradigmenwechsel in der Schreibdidaktik: „Vielmehr hilft die Schreibprozessforschung zu einer gedanklichen, vor allem kategorialen Klärung dessen, was Schreiben ausmacht.“ (Ossner, 1995, S. 50) Durch die Technologisierung und Tradierung von Methoden im Unterricht sind viele Sinnbezüge gerade in der Schreibdidaktik zugedeckt worden oder verloren gegangen, die durch die Erkenntnisse der Schreibprozessforschung wieder hervorgeholt werden können.
Der Vorgang der Wiederherstellung der Sinnbezüge liess sich in dieser Arbeit bezüglich der Isolation von Teilmomenten des Schreibens darstellen und auch die Textsorten im Aufsatzunterricht konnten auf Grund der prozessualen Perspektive auf den Schreibun- terricht wieder sinnvoll verortet werden. Eine einigermassen radikale Schlussfolgerung verlangt die konsequente Berücksichtigung der prozessualen Perspektive auf den Schreibunterricht aber bezüglich der Bewertung und Prüfung von Schülern im Bereich des Schreibens. Die Konzentration auf das Schreibprodukt als einziges Bewertungskri- terium wird als frustrierend und entmutigend erlebt, akzeptiert wird, wie Baurmann schreibt, nur eine fördernde Beurteilung ohne klassifizierende Benotung: „Nur so wird bei der Textproduktion Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht, nur so wird der Weg von einer sachgemässen Fremdbeurteilung zur notwendigen Selbstbeurteilung angebahnt.“ (Baurmann, 1993, S. 314)
Das zweite Ergebnis dieser Arbeit betrifft die Zielsetzung der Schreibdidaktik: Ausge- hend von der Tatsache, dass ein Textproduktionsprozess nicht nur ein subjektiver Pro- blemlöseprozess, sondern immer auch ein Teil eines Kommunikationsprozesses ist, muss das Ziel, das die Schreibdidaktik verfolgt, Schriftlichkeit sein. Dabei genügt es nicht mehr, einfach die Technik des Schreibens zu vermitteln, wie es der didaktischen Tradition entspricht. Es braucht vielmehr ein genaues Bewusstsein für die Möglichkei- ten, welche die schriftliche Kommunikation bietet und die vielfältigen Erscheinungsfor- men, die sie annimmt. Dieses Bewusstsein muss den Schülern und Schülerinnen ver- mittelt werden. Sie müssen fähig sein, „Sachverhalte sprachlich geplant auszudrücken“ (Ossner, 1995, S. 48). Zu den Mitteln diese schriftliche Kommunikationsabsicht zu ver- wirklichen gehören damit in der heutigen Zeit auch die Verwendung von neuen Tech- nologien, Gestaltungsmittel und Medien.
Neben diesen eher praktischeren Gründen für einen „roten Faden“ namens Schriftlich- keit gibt es aber noch grundlegendere Argumente, die uns dazu bringen sollten den Aspekt der Literalität, der Schriftlichkeit im Auge zu behalten. Schriftgebrauch - und hier soll kein Unterschied zwischen Rezeption und Produktion von Schrift mehr gemacht werden - ist heute die eigentliche Schnittstelle zwischen dem Subjekt, dem Wissen, der Tradition und der Bildung, Sting spricht sogar von einer eigentlichen Freisetzung des Subjekts, welche die Etablierung der Schriftkultur mit sich gebracht habe: „Der einzelne wird im Rahmen von Schriftlichkeit durch die Vorgaben der Gesellschaft und der kultu- rellen Tradition nicht vollständig geprägt oder sozialisiert, sondern er bewahrt eine kriti- sche Distanz und eine partielle Autonomie, die seine soziale und kulturelle Integration von eigenständigen Verarbeitungs- und Vermittlungsleistungen abhängig macht.“ (Sting, 1998, S. 9)
So gesehen beinhaltet der Schreibunterricht eben mehr also nur das Lehren und Erlernen des Schreibens, es geht immer auch um eine Erziehung der Schüler und Schülerinnen zu mehr Autonomie, zu Eigenaktivität und Selbstbeurteilung.
Literaturverzeichnis
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Häufig gestellte Fragen
Was ist das Hauptziel dieser Arbeit?
Diese Arbeit zielt darauf ab, die Bedeutung der Textproduktionsforschung für den Unterricht herauszuarbeiten und Erkenntnisse der Forschung für die didaktische Reflexion zum Schreibunterricht nutzbar zu machen.
Welche Perspektiven werden in der Arbeit beleuchtet?
Die Arbeit charakterisiert die Schreibprozessforschung, entwickelt eine Perspektive für den praktischen Unterricht durch Konzentration auf den Schreibprozess und die Abkehr von der traditionellen Bevorzugung des Schreibproduktes. Abschließend wird die Perspektive um den Aspekt der Schriftlichkeit (literacy) erweitert.
Welche Fragestellung steht im Zentrum der Arbeit?
Die zentrale Fragestellung lautet: "Was ist schriftliche Textproduktion und wie soll sie gelehrt und gelernt werden?"
Welche Bereiche der Schreibforschung werden in der Arbeit behandelt?
Neben dem Prozess des Schreibens werden der Schriftsprachenerwerb, Fragen der Orthografie und Graphemik, Praxisfelder des Schreibens (z. B. technisches, akademisches oder kreatives Schreiben) und die fremd- und muttersprachliche Schreibdidaktik behandelt. Auch die soziologischen, kulturwissenschaftlichen und philosophischen Diskussionen zur Erforschung der Schriftlichkeit und zum Verhältnis von Literalität und Oralität werden erwähnt.
Was ist epistemisches Schreiben und welche Rolle spielt es?
Epistemisches Schreiben bezieht sich auf die Wissenserweiterung oder Wissensaneignung als integralen Bestandteil oder Resultat vieler Schreibprozesse. Es ist ein wichtiger Aspekt des Schreibprozesses und der Schreibentwicklung.
Welche Schreibmodelle werden in der Arbeit vorgestellt?
Die Arbeit stellt Schreibmodelle von Hayes und Flower (1980), de Beaugrande (1984), Bereiter (1980) und Baer et al. (1995) vor und beschreibt deren unterschiedliche Ansätze zur Erklärung des Schreibprozesses.
Was ist die Bedeutung von Textsorten im Aufsatzunterricht?
Die Arbeit untersucht die Verwendung von Textsorten im Aufsatzunterricht und zeigt, dass diese nicht als starre Normen, sondern als Hilfsmittel zur Entlastung des Textproduktionsprozesses dienen sollten.
Welche Probleme ergeben sich bei der Bewertung von Textprodukten?
Die Ausrichtung des Schreibunterrichts auf prozessuale Aspekte bringt Probleme bei der Bewertung von Schülertexten mit sich, da absolute Kriterienkataloge durch relative ersetzt werden müssen und der Fokus vom Prozess weg zum Ergebnis gelenkt wird.
Welche Bedeutung hat Schriftlichkeit in der heutigen Gesellschaft?
Schriftlichkeit wird als eine soziokulturelle Aktivität beschrieben, die eine entscheidende Vermittlungsrolle zwischen dem einzelnen Subjekt und der Gesamtheit der Gesellschaft und Kultur einnimmt. Die Normen des Umgangs mit Schriftlichkeit sind einem stetigen Wandel unterworfen.
Welche Schlussfolgerungen werden in der Arbeit gezogen?
Die Arbeit kommt zu dem Schluss, dass eine didaktisch reflektierte Tätigkeit das Schreibenlernen in den Blick nehmen muss. Die Resultate der Textproduktionsprozessforschung ermöglichen eine Topographie des Schreibprozesses. Der Schreibunterricht muss Schriftlichkeit als Ziel verfolgen und den Schülern die Möglichkeiten der schriftlichen Kommunikation vermitteln.
- Arbeit zitieren
- Christian Bischoff (Autor:in), 2001, Schreibprozess und Unterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105091