Lenz, Siegfried - Der Große Wildenberg


Referat / Aufsatz (Schule), 2002

10 Seiten, Note: 14 Punkte


Leseprobe


,,Der große Wildenberg"

Siegfried Lenz

Begegnungen mit autoritären Personen sind oft mit Schwierigkeiten verbunden.

Ein Problem beschreibt Siegfried Lenz in seiner Kurzgeschichte ,,Der große Wildenberg". Es ist die Vermittlung einer völlig falschen Erwartungshaltung. Thematisch kreist der Text um das Problem der Autorität. Dabei werden einige Fragen aufgeworfen: Wo beginnt Autorität?, Ab wann akzeptiert man Autorität? und Welches Verhältnis zu mächtigen Personen zeigt sich beim Leser?

Die Erwartungshaltungen beim Lesen der Überschrift können unterschiedlich sein, doch der Titel lässt darauf schließen, dass im Mittelpunkt des Geschehens ein Mann namens Wildenberg steht. Offensichtlich nimmt er eine besonders wichtige Position ein, die durch den Zusatz ,,groß" deutlich gemacht wird.

Methodologisch erschein es günstig, den vorliegenden Text in 4 Teile zu gliedern. Der 1. Abschnitt (Z.1-56) beschreibt, wie ein Mann einen Brief erhält, der ihn anweist, zum Vorstellungsgespräch in einer Fabrik zu erscheinen. Dort angekommen wird er vom Pförtner abgewiesen und nach Hause geschickt. Im darauf folgenden Teil (Z.57-98) wird der 2. Versuch des Bewerbers in die Fabrik zu kommen, geschildert. Erfolgreich meistert er die 1. Etappe und trifft Dr. Setzki, der ihm den weiteren Weg ,,ebnet". Der 3. Teil (Z.98-130a) beinhaltet die Zusammenkunft mit Dr. Petersen. Er führt den Bewerber bis hin zu seinem eigentlichen Ziel. Abschließend beschreibt der 4. Abschnitt (Z.130b-160) die Begegnung mit Wildenberg dessen Gestalt und Charakter allen bisherigen Vorstellungen des Bewerbers widerspricht.

In der nun folgenden fortlaufenden Interpretation soll versucht werden, die Kurzgeschichte als Einheit von Inhalt und Form zu interpretieren sowie wertend zu betrachten.

,,Mit dem Brief kam neue Hoffnung. Er war kurz, enthielt keine Anrede, er war mit gleichgültiger Höflichkeit diktiert worden, ohne Anteilnahme, ohne Absicht, mir durch eine versteckte, vielleicht unfreiwillige Wendung zu verstehen zu geben, dass meine Sache gut stand." (Z.1-5). Dieses Zitat schildert am besten den offenen Anfang der Geschichte. Ohne jeglichen Bezug wird der Leser in ein scheinbar unbekanntes Geschehen versetzt. Unverständlich ist die Aussageabsicht des Autors in den ersten Zeilen. Einen möglichen Sinn kann der Leser jedoch schon ab Zeile 10 erahnen.

Das Geheimnis um den aufregenden und furchteinflößenden Brief wird hier durch den auktorialen Ich-Erzähler gelüftet. Es handelt sich um die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Schon an dieser Stelle zeigt die Figur des Bewerbers eine gestaltete Individualität auf. Ein Vorstellungsgespräch ist eine Situation, die nahezu jeder Mensch in seinem Leben erfahren wird bzw. schon erfahren hat. Der Empfänger des Briefes sucht vergeblich nach ,,versteckten, vielleicht unfreiwilligen Wendungen" (Z.4), die ihm über seine Chancen Auskunft geben. Doch die knappe nichtssagende Form des Briefes lässt keine Deutungen zu. Kurzerhand macht sich der Betroffene zur Vorstellung in der Drahtfabrik auf.

Da der Text durchgehend im Präteritum geschrieben ist, wird deutlich, dass das Geschehen bereits vergangen und dem Erzähler bekannt ist. Wer kennt nicht solche Situationen, in denen man völlig auf sich gestellt einen schwierigen, aber dennoch bedeutenden Weg zurückzulegen hat? Die klimatischen Umstände und die Wiederholung des Wortes ,,es" (Z.14ff.) verstärken die Einsamkeit noch mehr. Immer wieder schildert der Erzähler seine gesammelten Eindrücke.

Vor allem aber bringt er diese durch die hypotaktisch aneinandergereihten Sätzen zum Ausdruck. Allein im Dunkeln, bei Schnee bewegt sich der Bewerber auf die Fabrik zu, welche mit Hilfe einer Attributdopplung als ,,langgestrecktes flaches Gebäude" umschrieben wird. Dieses große anscheinend menschenleere Bauwerk (,,niemand kam mir entgegen") wirkt nicht gerade einladend auf den dorthin Beorderten.

In einer chronologisch logischen Reihenfolge setzt der Autor fortwährend Ereignis um Ereignis aneinander. Symbole wie die ,,hohe Backsteinmauer" und die scheinbar endlosen Schienenstränge (Z.16ff.) veranschaulichen die zunehmende Hoffnungslosigkeit der Situation sowie die dichte, vielschichtige und mehrdeutige Erzählweise.

Personifizierte Schienen (Z.20) machen den Wunsch des Erzählers zur Fabrik begleitet bzw. ,,(ge)führ(t)" zu werden auch für den Leser nachvollziehbar. ,,Bogenlampen" beleuchten den ganzen Weg. Sie sind als Lichtsymbol zu verstehen, das den Bewerber zu seinem Ziel begleitet. Im Haus des Pförtners erscheint dieses Symbol zum 2. Mal. Die Lampe leuchtet jedoch nur schwach. Wie schon vorher erwähnt, wird damit auch hier die Gemütsstimmung des Erzählers zum Ausdruck gebracht. Ist nun das Ende des Weges erreicht, könnte sich der Leser an dieser Stelle fragen.

Zu Beginn ihrer Unterhaltung steht der Grund aus dem der Bewerber erschienen ist, im Mittelpunkt. In Form von direkter Charakterisierung stellt der Ich-Erzähler den Pförtner als ,,alten, mürrischen Mann" dar. Beschrieben werden in dieser Textstelle sowohl das äußere Erscheinungsbild, als auch das Auftreten des Mannes. Als dominierende Darstellungsform benutzte der Autor den Erzählerbericht, in den jedoch an einigen Stellen Personenrede eingefügt wurde (,,Zu wem wollen sie? Sind sie angemeldet?"). Spürbar ist die Unsicherheit des Bewerbers in dieser Situation sogar für den Leser.

Um vor dem Mann in dem Holzhäuschen nicht unglaubwürdig zu erscheinen hat der Erzähler seine Einladung schwarz auf weiß mitgebracht (,,Ich sagte,... (ich)... könne ihm den Brief zeigen."). Nachdem jedoch der Namen ,,Wildenberg" erwähnt wurde, empfindet der Wachmann nur noch ein mit ,,sanftem Spott" verbundenes ,,berufsmäßiges Mitleid" (Z.41ff.) für den Bewerber.

,,Warum?", sollte sich der Leser an dieser Stelle fragen. Weil der Ich-Erzähler zum Vorstellungsgespräch bei Wildenberg eingeladen ist? Eine exakte Deutung der hier zum Ausdruck gebrachten Gestik des Pförtners ist jedoch nicht möglich. Nach einer Weile wird dem Leser ein erster Eindruck des ,,großen Wildenberg" vermittelt. Er sei ein vielbeschäftigter, schwer belasteter, fast unerreichbarer, Entschlüsse fassender Mann, beschreibt der Pförtner. Diese Schilderung steigert das schon anfangs durch ihn in Zeile 34f. hervorgehobene Gefühl der Abweisung nicht nur beim Erzähler, sondern auch beim Leser. So befolgt schließlich der Abgewiesene den Rat des Abweisenden und geht, mit dem winzigen Hoffnungsschimmer, am nächsten Morgen wieder kommen zu dürfen. Stichwortverzahnungen wie in Zeile 56f. (,,befolgen") unterstützen den Zusammenhang der Sätze und machen die Wichtigkeit der ausgeführten Handlungen deutlich.

Die komprimierte Erzählweise der Kurzgeschichte sowie die Auswahl treffender Details wird besonders in Zeile 57f. hervorgehoben. Die Geschehnisse der Nacht werden als unbedeutendes Detail vom Autor weggelassen. Sie spielen für den weiteren Verlauf keine Rolle, da die Haupthandlung lückenlos fortgesetzt wird.

Auch am nächsten Morgen nehmen die Bogenlampen eine wichtige Position als Lichtsymbol ein. Sie brennen immer noch. Die inhaltliche Konzentration der Kurzgeschichte wird besonders durch die verschiedenen Sinneswahrnehmungen betont. (,,...es war kalt...von der Kantine roch es nach Kohl...", Z.60). Für den Bewerber scheint sich eine freundlichere Umgebung zu erschließen. Menschen müssten sich in der Fabrik befinden, für die gekocht wird. Dieser Eindruck steht in starkem Kontrast zum menschenleeren Gelände am Vorabend.

Aufmerksame Leser bemerken sofort, dass sich die Stimmung des Pförtners verändert hat. ,,(er) empfing mich freundlich, er schien auf mich gewartet zu haben." (Z..61f.). Anaphorisch wird das Wort ,,er" wiederholt und unterstreicht somit seine Bedeutung. Außerdem hatte es der Wachmann fertiggebracht mit ,,Eifer" und längeren Telefonaten dem zum Vorstellungsgespräch Eingeladenen einen Termin bei der nächst höheren Instanz zu machen. Der an dieser Stelle fast unerwartete Erfolg lässt sicher nicht nur bei Lesern, die schon eine ähnliche Situation durchlebt haben, ein Gefühl der Freude aufkommen. Mit Einverständnis des Pförtners meistert der Bewerber damit bereits die erste Etappe der schrittweisen Steigerung der Geschichte. Wird er aber letztendlich wirklich dem ,,großen Wildenberg" gegenüberstehen?

Zunächst erfolgt in Zeile 68 die Einführung einer 3. Figur in das Geschehen. Dargestellt durch die Sekretärin des Dr. Setzki. Sie ist sehr beschäftigt, bietet dem Erzähler aber trotzdem einen Tee an.

Diese Geste bestätigt den zunehmend selbstbewusster werdenden Interessenten in seinem Handeln. Plötzlich scheinen alle Ängste des Bewerbers zu verschwinden. Er fühlt sich ,,zuversichtlich". Durch die Correctio ,,Knistern und Murmeln" hinter der Tür kehrte jedoch ein Teil der Anspannung zurück. Um diese wieder etwas zu lockern und sich Ablenkung zu verschaffen, versucht der Bewerber vergeblich die Sekretärin in ein Gespräch zu verwickeln. Doch sie ,,...verbarg sich sofort wieder hinter ihrer Schreibmaschine, wo sie sicher war." Diese als nachgestellte Ergänzung hinzugefügte Bemerkung des Erzählers zeigt, dass er sich offensichtlich unwohl, unsicher und zugleich ausgeliefert fühlt. Im Gegensatz zu ihm wirkt die Sekretärin hinter ihrem Schreibgerät unantastbar. Die Figurenzeichnung der Stenotypistin ist statisch. Ihr Handeln macht keine erkennbare Veränderung deutlich. Außerdem wirkt sie sehr abstrakt. Es ist für den Leser unmöglich, sich in sie hineinzuversetzen.

Das Warten hat ein Ende, als schließlich der ,,unerwartet junge" Dr. Setzki kommt. Das Einfügen dieser subjektiven Empfindung in Form des inneren Monologs macht es den Lesern erheblich leichter, sich diese Person vorzustellen. Er bringt den Bewerber über einen Gang durch ein Büro in ein weiteres Zimmer. Unterwegs wird dem Ich-Erzähler ein zweiter Eindruck über Wildenberg vermittelt. Er sei ein ,,...große(r) einsame(r) Arbeiter, (der) keinen zur Ruhe kommen lasse...". Resultierend aus dieser Beschreibung entsteht beim Erzähler ein erneutes Gefühl der Angst, welches sogar so stark ist, dass seine Hände zu schwitzen beginnen. Der sich aufbauende Spannungsbogen ist an dieser Stelle gut nachvollziehbar.

Eine nächste Steigerungsstufe wird erreicht, als der Erzähler in einem Raum mit zwei Stühlen und einem Schreibtisch auf Dr. Petersen warten muss. Seine kaum zu bremsende Nervosität wird dem Leser durch die Sehnsucht nach dem Zimmer der Sekretärin veranschaulicht (Z.94f.), welches ihm ein gewisses Gefühl der Geborgenheit vermittelt hat. Die nun betretene Räumlichkeit ist ein weiteres Beispiel für die Art der Handlungsorte.

Bis auf den Anfang und das später beschriebene Pförtnerhäuschen beschränkt sich die Geschichte ausschließlich auf Büroräume einer Fabrik. Zugleich stellen die eben beschriebenen Handlungsorte auch Kontrasträume dar. Sie charakterisieren Geborgenheit auf der einen und Unsicherheit auf der anderen Seite. Dr. Setzki begleitet den Bewerber ein Stück. Er erwähnt, dass er den Grund kenne, aus dem der Bewerber gekommen sei und verabschiedet sich schließlich mit einer mutmachenden Geste. Er legt seine Hand auf die Schulter des Ich-Erzählers. Wieder alleingelassen reflektiert dieser noch einmal über die Worte und den Tonfall des Doktors. Dabei fällt ihm eine gewisse Ironie hinter dem Gesagten auf. Weder Leser noch Erzähler können sich an dieser Stelle vorstellen, was das zu bedeuten hat.

Langsam bauen sich Zweifel an der wahren Autorität Wildenbergs auf. Ist er wirklich dieser ständig arbeitende Mann oder verbergen sich ganz andere Eigenschaften hinter dem großen Namen ,,Wildenberg"? Im nächsten Moment tritt jedoch die Sekretärin ins Zimmer und unterbricht seine Gedanken. Sie erklärt, dass das Treffen mit Wildenberg noch weiter verzögert wird, da Dr. Petersen noch auf einer Sitzung sei.

Der Moduswechsel zum Konjunktiv tritt außerdem noch in Zeile 91 (,,könne" etc.) auf. Die Sekretärin konnte noch nicht einmal sagen, ,,wann er (Dr. Petersen) wieder zurück wäre". Doch welche Absicht wird damit verfolgt? Soll die Ankunft des Bewerbers bei Wildenberg absichtlich verzögert werden? Die Wartezeit geht schnell vorbei. Es dauert nicht lange, bis der von Dr. Setzki als ,,rechte Hand Wildenbergs" beschriebene Mann eintrifft.

An dieser Stelle wird ebenso die überwiegend zeitraffende Erzählweise deutlich, die der Autor verwendet, um diesen kurzen, aber dennoch wichtigen Ausschnitt aus dem Leben der Menschen in Form einer Kurzgeschichte darstellen zu können. Durch Kumulation äußerer Eindrücke und Sinneswahrnehmungen werden die Eigenschaften der Personen anschaulich beschrieben, so auch die des Dr. Petersen. Er wird als ,,Hüne mit wässrigen Augen" vorgestellt. Die Figurenskala wurde damit auf 5 Personen erweitert. In Abschnitten der Figurenrede, (,,Ich bin sicher", sagte Dr. Petersen, ,,Herrn Wildenbergs Laune wird um so besser sein, je kürzer sie sich fassen."), wird die zeitraffende Erzählweise durch zeitdeckende Elemente unterbrochen. Außerdem unterstützt dieses Zitat die schon vorher angedeuteten Zweifel an den Absichten des Fabrikpersonals. Sie wollen anscheinend den Interessenten davon abhalten mit ihrem Chef eine intensive Unterhaltung zu führen. Auch Petersen vermittelt dem Bewerber einen weiterer Eindruck über den Betriebsleiter der Fabrik. Wenige Augenblicke trennen ihn nur noch von dem Mann, der alles ,,kurz und konzentriert" mache.

Das Ziel erscheint nun schon in greifbarer Nähe. Dr. Petersen klopft an die Bürotür seines Arbeitgebers. Sicher schlägt das Herz des Bewerbers nun schon bis zu seinem Hals. Eine Stimme ruft ihn herein und nachdem er eingetreten ist, wird die Tür hinter ihm geschlossen. Ist der Interessent jetzt etwa in die Höhle des Löwen geraten? Der Begegnung mit dem ,,großen Wildenberg" steht nun nichts mehr im Weg, kein Pförtner, keine Sekretärin und keine weiteren Angestellten. Hiermit ist der absolute Höhepunkt der Geschichte erreicht.

Eine freundliche Stimme bittet durch Wiederholung des Wortes ,,kommen" den Eingetretenen näher zu sich. In den Zeilen 133ff. werden die ersten eigenen Eindrücke des Bewerbers kumuliert. Durch das Gestaltungsmittel der Zeitdehnung wird diesen Momenten eine besonders wichtige Bedeutung beigemessen (,,...ich erkannte einen kleinen leidvoll lächelnden Mann hinter einem riesigen Schreibtisch. Er... reichte mir die Hand, eine kleine, gichtige Hand...", Z.134ff.). Gerade der ,,riesige Schreibtisch" bewirkt, dass die Person nicht mächtig, sondern vielmehr verloren wirkt.

Im Bezug zur Überschrift wird dadurch zum ersten Mal einen gravierender Widerspruch erzeugt. Hinter dem Schreibtisch sitzt nicht der ,,große", sondern eher der kleine, schüchterne Wildenberg. Er scheint längere Zeit mit niemandem geredet zu haben, denn dieser Betriebsleiter erzählt dem Bewerber die gesamte Firmengeschichte. Trotz mehrerer Versuche zu gehen überredet der Chef den Erzähler immer wieder doch noch zu bleiben.

Wildenberg ist nicht der vielbeschäftigte Mann, der keinen zur Ruhe kommen lässt. Vielmehr stellt er einen in Einsamkeit verlorenen, von der Außenwert abgeschirmten Mann dar, der das Bedürfnis hat sich mitzuteilen. Sich der Ratschläge des Dr. Petersen erinnernd wird der Bewerber unruhig, doch er bleibt einige Stunden. Außer der Zeit rückt auch der eigentliche Grund des Kommens, das Vorstellungsgespräch, in den Hintergrund.

Somit ist ein Wendepunkt erreicht, der alles was vorher so wichtig war vergessen lässt. Beim Bewerber wird besonders gegen Ende der Geschichte die dynamische Entwicklung seines Charakters deutlich. Er wandelt sich vom ängstlichen Bewerber zu einem erstaunlich aufmerksamen Zuhörer. Die Figur Wildenbergs ist eher statisch gestaltet. Von seinen Mitarbeitern wird er zwar als groß und einflussreich beschrieben, der Leser kommt jedoch bald zu dem Schluss, dass es sich während der gesamten Kurzgeschichte nur um einen ,,kleinen, leidvoll lächelnden", einsamen Menschen handelt.

Als der Ich-Erzähler sich verabschiedet, rückt das Vorstellungsgespräch noch einmal in den Mittelpunkt. Fast verwirrend für den Leser erscheint die Aussage Wildenbergs, die Bewerbung ,,nie gesehen (zu) habe(n)". Er ist der Chef der Firma und doch weiß er nicht, was in ihr geschieht. Seine Angestellten erledigen alles und er scheint nur da zu sein, um Verträge, Anträge und Bewerbungen zu unterzeichnen. Da ihm alles sofort wieder entrissen wird, hat Wildenberg nicht einmal Zeit sich durchzulesen, was er unterschreibt (Z.151ff.).

Einige Fragen werden durch diese Aussage offengelassen. Entspricht das der Wirklichkeit? Kann es sein, dass der Chef einer Fabrik nur anwesend ist um Dokumente rechtsgültig zu machen? Doch damit nicht genug. Um Auskunft über seine Bewerbung zu erhalten, wird der Ich-Erzähler wieder zum Anfang, also zum Pförtner zurück geschickt. Es ist nahezu unvorstellbar, dass so etwas tatsächlich in einer Firma zur Realität werden kann. Wildenberg ist sich zudem noch sicher, dass sogar der Angestellte Setzki ,,mehr Möglichkeiten" (Z.154f.) hat als er. Dadurch ergibt sich ein Widerspruch in der Struktur der Fabrik. Der Chef einer Firma sollte doch eigentlich über alle Aktionen informiert sein.

Die Bezeichnung ,,großer Wildenberg" zieht sich durch die gesamte Geschichte bis hin zum Ende, obwohl Handlungen wie er kam ,,mir nachgetrippelt (und) zupfte mich am Ärmel" ausdrücken, das Wildenberg sogar im Verglich zum Bewerber eher klein und unbedeutend erscheint. Zusätzlich unterstützt die Verkleinerungsform ,,Ärmchen" (Z.144) diesen Eindruck maßgeblich. Die Geschichte schließt mit dem Versprechen des Ich-Erzählers Wildenberg bald wieder zu besuchen. Als Ergebnis davon wird der Einsamkeit, unter der der Chef leidet, noch mehr Ausdruck verliehen. Im Gegensatz zum Anfang ist das Ende der Geschichte geschlossen, jedoch unerwartet. Letztendlich geht es nicht um die anfangs erwähnte Bewerbung, sondern um das Gespräch zwischen dem ,,großen Wildenberg" und einem namentlich nicht erwähnten Mann. Durch diese Diskretion wird es dem Leser erleichtert, sich in die Person hineinzuversetzen und mit ihr mitzufühlen.

Am Schluss erhält der Rezipient jedoch den Eindruck, dass Wildenberg einen lang ersehnten Gesprächspartner und vielleicht auch einen Freund gefunden hat.

Die Aussageabsicht des Autors ist es, den Leser daraufhin zu weisen, dass übertrieben viel Respekt vor höhergestellten Personen oft zu falschen Vorstellungen und somit zu Problemen führt. Es ist klüger, sich nicht von Eindrücken anderer beeinflussen zulassen, sondern sich selbst ein Urteil zu bilden. Die Frage, wo beginnt Autorität, bleibt letztendlich ungeklärt. Jeder Mensch wird dies wohl für sich selbst beantworten müssen. Die Angestellten spiegeln die ganze Zeit ein völlig falsches Bild von ihrem Chef wider. In dieser Kurzgeschichte wird somit veranschaulicht, dass selbst Personen, die in der Chefetage einer Fabrik arbeiten, nur Menschen sind, Menschen mit Fehlern und Schwächen, die versuchen aus jeder Situation das Beste für sich selbst zu erreichen.

Ende der Leseprobe aus 10 Seiten

Details

Titel
Lenz, Siegfried - Der Große Wildenberg
Note
14 Punkte
Autor
Jahr
2002
Seiten
10
Katalognummer
V106001
ISBN (eBook)
9783640042807
Dateigröße
388 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lenz, Siegfried, Große, Wildenberg
Arbeit zitieren
Sabine Leibeling (Autor:in), 2002, Lenz, Siegfried - Der Große Wildenberg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106001

Kommentare

  • Gast am 31.1.2004

    Der große Wildenberg.

    SUPER interpretation!!!
    einfach geil dass mann sie lesen kann OHNE dafür mit teuren dailern zu bezahlen oder sonstiges.
    DICKES LOB AN DIE VERFASSERIN

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Titel: Lenz, Siegfried - Der Große Wildenberg



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