Inwieweit kann man die Figur Ferdinand aus "Kabale und Liebe" als einen Vertreter der Epoche des Sturm und Drang interpretieren?


Akademische Arbeit, 2019

25 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

Die Gesellschaft im 18. Jahrhundert

Kriterien eines typischen Stürmer und Dränger

Analyse von Ferdinand von Walter

Fazit

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis:

Einführung

In meinem Herzen liegen alle Wünsche begraben 1

Dieses Zitat stammt von der Figur Ferdinand von Walter, dem Major aus dem Werk „Kabale und Liebe“. Mit diesem Ausspruch spricht er das aus, was zur Zeit des Sturm und Drangs, als wichtige Tugend betrachtet wurde. Nun gehört der fiktive Ferdinand aber zum Adel, dem eigentlichen Gegner des Sturm und Drangs. Hiermit stellt sich die Frage inwieweit sich eine neue Generation gebildet hat und wie man den Major in diese Generation einordnen kann.

Das Trauerspiel „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller wurde 1784 veröffentlicht2. Das Werk steht unter dem Zeichen des Sturm und Drangs und symbolisiert noch in der heutigen Zeit diese Epoche. Der Grund, warum das Trauerspiel so bezeichnend für diese Epoche ist, ist der Fokus auf die Gefühlswelt der Charaktere und die Betonung des menschlichen Individualismus3. Im Sturm und Drang lagen genau diese Themen im Mittelpunkt. Der Protest gegen die Obrigkeiten und gegen die Moralvorstellungen des bürgerlichen Standes waren ebenfalls Kernpunkte dieser Epoche. Diese Punkte sind in Schillers Werk zu erkennen. H.A Korff nannte das Stück „einen Dolchstoß in das Herz des Absolutismus“4. Dieses Zitat macht deutlich, welche Aussagekraft das Werk auch auf die zeitgenössische Gesellschaft hatte.

Doch wird nicht nur innerhalb des Werkes der Adel kritisiert, es wird auch ein neuer Blickwinkel gezeigt. Dieser richtet sich auf die Figur „Ferdinand“, den Sohn des Präsidenten, der wegen seinen Gefühlen für die bürgerliche Luise die Grenzen des Ständedaseins verwischen möchte. Ferdinand ist somit ein „spezieller Fall“, da er dem Bild des Adeligen im 18. Jahrhundert nicht gänzlich entspricht.

Ist er also ein Bürgerlicher mit „adeligen Wurzeln“? Stellt er vielleicht sogar eine neue Art des Adeligen dar? Um diese Fragen beantworten zu können, werden sowohl die historischen als auch die im Werk vertretenden Werte des Bürgertums analysiert. Hierbei wird sich auf die Epoche des Sturm und Drangs fokussiert, da diese für „Kabale und Liebe“ spezifisch ist.

Aus dieser Analyse werden verschiedene Kriterien der Bürgerlichkeit und der Stürmer und Dränger ermittelt, die dann jeweils mit dem Charakter „Ferdinand“ verglichen werden. So kann ermittelt werden, inwieweit Ferdinand sich in das Bild des bürgerlichen Daseins integriert hat und inwieweit er die Ziele des Sturm und Drangs verinnerlicht hat.

Innerhalb dieser Abhandlung werden die Charaktere „Luise Miller“ und „Lady Milford“ mit dem Charakter „Ferdinand“ verglichen, um analysieren zu können, inwiefern man Ferdinand als Bürgerlichen betiteln kann. Luise Miller fungiert hier als Beispiel einer Bürgerlichen im 18. Jahrhundert, Lady Milford wurde gewählt, da sie durch ihre zum Teil bürgerlichen Werte ebenfalls nicht so einfach einzuordnen ist. Im Werk „Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert5 “ gibt es zahlreiche Artikel, die bei der Festlegung der Kriterien für die eines Bürgers im 18. Jahrhundert, und insbesondere im Sturm und Drang, relevant sind.

Die Gesellschaft im 18. Jahrhundert

Das 18. Jahrhundert war von einer Vielzahl an Zwischenströmungen geprägt. In dieser Abhandlung wird sich jedoch hauptsächlich mit dem Begriff der Bürgerlichkeit im Hinblick auf die Epoche des Sturm und Drang befasst, da das behandelte Stück dieser Epoche vermehrt zugeordnet wird.

Zunächst gilt es den Bürger als Begriff zu definieren. Dies erweist sich als ein schwierigeres Unterfangen, da Experten sich nicht sicher sind, was genau diesen Begriff umfasst. Manfred Riedel stellte verschiedene Kategorien des Bürgers auf: Den Stadtbewohner, der Untertan, der Weltbürger und der Bürger als „Mitglied des bürgerlichen Standes“.6 Der Fokus, der in dieser Arbeit gelegt wird, ist der Bürger als Teil des bürgerlichen Standes.

Die Menschen, die zu dieser Zeit lebten, wurden durch moralische Wochenzeitschriften gelehrt, wie sie sich zu verhalten hatten. Ein Beispiel hierfür ist „ Der Patriot “, eine moralische Zeitschrift, die das Bild eines Bürgers erstellte, das den Menschen als Vorbild dienen sollte. Die Zeitschriften hatten somit erzieherischen Charakter. Die Angst vor einem möglichen Aufstand des Bürgertums war präsent und deswegen versuchte man durch solche Zeitschriften das Bild eines perfekten Bürgers zu zeichnen, um die Stürmer und Dränger in ihre Schranken zu weisen.7

Nitschke beschrieb den „internalisierenden Herrschaftsmodus“8, durch den die Bürger ihre Moralvorstellungen erworben haben sollen. Durch diesen sollten die Bürger in ihre Schranken gewiesen werden.9

Dieser „perfekte“ Bürger konnte die Grenzen zwischen dem bürgerlichen Wohlstand und der adeligen Lebensart klar erkennen. So wusste er, dass er sich ein schönes Grundstück mit einem großen Haus leisten konnte, jedoch niemals die Paläste der Adeligen übertrumpfen durfte. Der perfekte Bürger war sich seinen Grenzen bewusst und erzog auch seine Kinder so, dass sie diese Grenzen nicht überwinden wollten.10

Durch diese moralischen Zeitschriften versuchte man den Menschen das Standesbewusstsein zu „lehren“. Aus Sicht dieser Zeitschriften sollte die Menschen nicht nur durch das Gesetz „moralisch handeln“, sondern auch durch ihre „ethisch legitimierte Klugheit“11. Wenn diese Regeln befolgt wurden, diese „ästhetische Erziehung“12 abgeschlossen war, hatte man, laut diesen Zeitschriften, die Glückseligkeit erreicht.

Das Idealbild der Kinder unterschied sich geschlechtsspezifisch voneinander, so sollte zum Beispiel der Sohn allzeit bereit für den Kampf für sein Vaterland sein. Die Töchter sollten geschult, aber zur Anpassung erzogen sein.13 Sogar das Wissen der Frauen wurde in Form einer empfohlenen Frauenliteraturliste herausgegeben14. Hieraus kann man interpretieren, dass die Töchter vor allem nicht den Männern ihr Wissen zeigen sollten, da dies unbescheiden wirken könnte. Sowohl Sohn, als auch Tochter sollten so erzogen werden, dass sie sich stets den Gepflogenheiten des bürgerlichen Standes unterwerfen.

Kriterien eines typischen Stürmer und Dränger - in Anlehnung an Schillers Werk „Kabale und Liebe“ - Die Bürger im 18. Jahrhundert wurden vermehrt von der Bewegung des Sturm und Drangs beeinflusst. Diese Bewegung versuchte sich gegen die Regeln und Unterdrückungen der Obrigkeit zu wehren. So begannen die Menschen ihre Meinung in einem kleinen privaten Bereich kund zu tun. Diese zunehmende „bürgerliche Öffentlichkeit“ spiegelte sich im Theater wider, indem sich nun das „Trauerspiel“ als eine führende „Stückart“ etablierte.15 Diese neue Schicht der Bürgerlichkeit distanzierte sich von der Arbeiterschicht. Somit bestand die „neue Schicht“ aus Studenten, also den Bürgern, die mit der Universität zu tun hatten, den Menschen innerhalb des Kirchenwesens und der Stadtverwaltung16.

Die Themenschwerpunkte der Trauerspiele waren die des Sturm und Drangs, der Epoche, die als Emanzipation der Bürgerlichkeit gesehen wird. Die Gefühlswelt der Charaktere und die Abgrenzung aus der Masse waren wichtige Faktoren, die auch im behandelten Stück eine enorm große Rolle spielen. Luise ist zeitweise dabei sich von ihrem Stand abzugrenzen. Diese Abgrenzung war bei Luise jedoch nicht beständig.

Während der adelige Ferdinand, der sich von seinem Vater und dem Adel abgrenzt, nach Selbstbestimmtheit lechzt, sieht Luise sich selbst als Schuldige. Als Schuldige, die die altbewährte Ordnung mit ihrer Liebe zu Ferdinand durcheinander bringt.17 Hier kann man den Versuch der „emanzipatorischen“ Bürgerlichkeit sehen. Die Menschen fühlten mehr, versuchen sich aus den Zwängen der alten Ordnung zu befreien, scheitern dann jedoch an den Tugenden des bürgerlichen Standes: „Der Sittsamkeit und den Moralvorstellungen“.

Ein weiteres neues Kriterium des Bürgerseins im Sturm und Drang war die „Menschlichkeit“. Die Umsetzung dieser neuen Freiheit und dem Bedürfnis seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, waren jedoch durch die vorgelegten Strukturen des Verhaltens und des Aufrechterhaltens der Ehre problematisch.18 Eine intakte bürgerliche Standesehre setzte sich aus einem gesitteten Elternhaus, Fleiß, Arbeit und moralischem Verhalten zusammen. Ein Verlust der Ehre konnte den Verlust aller Rechte bedeuten.19 Die Ehre war immer noch ein wichtiger Faktor für die Familie. So sah Luise sich selbst als Beschmutzer dieser Ehre.20 Damit kann vielleicht auch teilweise begründet werden, warum es für sie schwieriger war, sich gegen ihren Vater aufzulehnen.

Es bestand noch ein erheblicher Unterschied zwischen der Selbstbestimmung der Frau und der Selbstbestimmung des Mannes. Obwohl der Ausdruck eines empfindsamen und gefühlvollen Menschen in dieser Zeit als besonders wichtig empfunden wurde, war die Auslebung dieser Gefühle durch die Striktheit der Ordnung unterbunden.21 Die neuen Familienideale, wie die der Freundschaft und der Liebe waren für Frauen nicht greifend, sie musste laut zeitgenössischer Denkweise noch von männlichen Vorbilder gelenkt werden.

Durch Luise wird gezeigt, dass die Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert den Individualitätsbegriff nicht auf Frauen bezog. Die patriarchalische Ordnung, die von den Stürmern und Drängern so kritisiert wurde, hatte sich in ihrer Struktur auf die Beziehung zwischen Vater und Tochter im Bürgertum übertragen.22 Luise wird als Eigentum ihres Vaters betrachtet und kann auch nicht reflektieren, dass dieser Besitzanspruch anmaßend sein könnte. Dies wird deutlich, als sie Selbstmord begehen möchte, um sich von dem Eid zu befreien.

Hier sagt Miller: „Die Zeit meldet sich allgemach bei mir, wo uns Vätern die Kapitale zustatten kommen, die wir in den Herzen unsrer Kinder angelegten – Wirst du mich darum betrügen, Luise? Wirst du dich mit dem Hab und Gut deines Vaters auf und davon machen?“ 23

Doch nicht nur der Vater ist Luises Gegenspieler, sondern auch mit Ferdinand trägt sie einen Konflikt aus24. Ihr Vater und Ferdinand vermitteln ihr unterschiedliche Werte und zeigen somit gut den Zwiespalt in den Köpfen vieler Menschen des Sturm und Drangs. Miller kann in dieser Situation als Basis der Werte des bürgerlichen Standes gesehen werden, der Welt, wie sie vor den Stürmern und Drängern war. Ferdinand fungiert in diesem Bezug als Zusammensetzung der wichtigsten Ziele des Sturm und Drangs. Er stellt einen absoluten Anspruch an Liebe und Freiheit.25 Im Stück wird gezeigt, dass der bürgerliche Stand durch die „Schwäche“ der Frauen gefährdet war, die sich den patriarchalischen Ordnungen innerhalb ihrer Familie nicht beugen wollten. Es genügte schon, wenn eine Frau sich nach einem selbstbestimmten Leben sehnt. Wie im Fall der Luise, die jemand aus einem anderen Stand liebte und sich sogar damit zufrieden gegeben hatte nur in der Erinnerung an ihn zu leben26. Jedoch wird dieser Gedankengang von dem absoluten Liebesanspruch von Ferdinand unterbrochen. Durch diesen werden verändern sich die Wünsche der Luise und sie ist nicht mehr nur mit der Erinnerung an Ferdinand glücklich. Sie kann, ohne ihren neu gefundenen Liebesanspruch einzufordern, nicht mehr glücklich sein: „Ich hatte diese Träume vergessen und war glücklich - Jetzt! Jetzt! Vonheutan - der Friede meines Lebens ist aus - Wilde Wünsche - ich weiß es - werden in meinem Busen rasen.“ 27 Diese Verführung zum Adel gefährdete die Bürgerlichkeit in der Stabilität ihrer „moralischen“ Werte.28

Ein weiteres Kriterium für die „neue Bürgerlichkeit“ im 18. Jahrhundert ist die Flexibilität der Sprache. Die vorherige Höflichkeit des Barocks hatte sich einem „legeren“ Sprachstil gebeugt.29

Ein Kritikpunkt der Bürger im 18. Jahrhundert war auch die Art und Weise, wie man Anerkennung erlangte. Die Anerkennung durch Macht, immer mit dem Hintergrund einer Strafe zu erhalten, wurde als unzureichend eingestuft.

So ist beispielsweise Miller dem Präsidenten gegenüber nicht „respektvoller“, als er mit der Strafe des Zuchthauses gedroht bekommt30. Stattdessen sollte die Anerkennung durch Liebe aufgebaut werden.31 Ein Beispiel hierfür kann man in Schillers „Kabale und Liebe“ finden. Hier kann der Präsident teilweise gar keine Gefühle zeigen, da er stets mächtig wirken muss und die Kontrolle niemals aus der Hand geben darf.

Der Adel wurde für seine Leichtlebigkeit und seiner amoralischen Lebensweise kritisiert.32 Ein historisches Beispiel für die Prunksucht der Feudalisten war Herzog Carl Eugen von Württemberg, der durch seine vielen Neubauten von Schlössern und ausschweifendem Lebensstil bekannt war.33

Der Sturm und Drang wurde lange Zeit „nur“ als Radikalisierung der Epoche der Empfindsamkeit gesehen. Die Empfindsamkeit fokussierte die Gefühlswelt der Menschen, sei es Leid oder Freud, alle Gefühlsebenen waren wichtig.34 Somit hatte die Strömung der Empfindsamkeit auf etwas wert gelegt, das nicht so ausgelebt werden konnte.

Durch den Sturm und Drang kam es dann zu dem Bedürfnis eben diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Der Wunsch im bürgerlichen Dasein Freiheit und Liebe auszuleben war stark. Zuvor mussten jedoch, die von der Obrigkeit festgelegten Grenzen verwischt werden. Die Individualität und die Abgrenzung zum Adel war ebenfalls ein wichtiges Kriterium für die wachsende Bürgerlichkeit. Der Kampf gegen die adlige Obrigkeit hatte begonnen!35

Der Sturm und Drang setzte sich zwar Ziele der Empfindsamkeit und versuchten ihnen Raum zur Entfaltung zu geben, jedoch brachte diese Epoche auch eigene Werte und Begrifflichkeiten ins Spiel. Der Geniebegriff war ein essentieller Themenschwerpunkt der Stürmer und Dränger36. Hierdurch wurde auch der Individualitätsbegriff geprägt, der den Einzelnen den Weg zum subjektiven Ich verhalf. Dieses Mal auch mit dem Wunsch der bürgerlichen Seite für eine klare Trennung. Das Bedürfnis, in der eigenen Gemeinschaft zu sein, breitete sich aus.37 Der „Geniebegriff“, der Einzug in die Gedanken der Menschen hielt war ebenfalls problematisch mit der Realität der Menschen zu vereinbaren.

Der Ursprung des Geniebegriffs sah die Besonderheit in der Individualität. Das Genie ging seinen eigenen Weg, so wie z.B Shakespeares Texte, die durch Unregelmäßigkeiten auffielen. Sie annektierten den Begriff der Originalästhetik.38 Die Menschen wurden ebenfalls von anderen beeinflussenden Texten geprägt. Beispielweise, Jean-Jacques Rousseau Texte waren für viele Menschen ein wichtiger Denkanstoß zum selbstständigen Denken. Natürlich kann nicht abgeschätzt werden, inwieweit die Gedanken und Ideen des Dichters für die Menschen im 18. Jahrhundert wichtig war.

Jedoch finden sich vermehrt die Themenschwerpunkte und Denkansätze Rousseaus bei den Stürmern und Drängern. Man kann die Worte Rousseaus in seinem Gesellschaftsvertrag, den er 1762 veröffentlichte: „Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem noch mehr Sklave als sie.“39 als Kritik gegenüber dem Absolutismus interpretieren. Rousseau erörtert, warum die Verträge, die die Ordnung festlegen, keine Rechtfertigung für ihr bestehen haben. Hierbei argumentiert er, dass „kein Mensch eine natürliche Gewalt über seinesgleichen hat“40 und die „Stärke eines Menschen kein Recht gewährt“41.

Eine weitere Problematik war, dass das Bürgertum keine homogene Einheit war. So fokussierte sich das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen im letzten Drittel des 18. Jahrhundert auf die Gemeinschaften in den Berufen.42 Die Dynamik der Familie hatte sich grundsätzlich verändert, da sich die Großfamilien zu bürgerlichen Kleinfamilien wandelten. Dies hatte zur Folge, dass die Menschen versuchten sich in ihre neu gefundene Privatsphäre zu flüchten. So stellten sie auch Grenzen zum höfischen Leben auf. Das höfische Leben wurde vermehrt als „Versuchung“ gesehen, wie auch in „Kabale und Liebe“ deutlich wird. Luise wird als Beschmutzer der Familie gesehen, weil sie sich zu dem adeligen Ferdinand hingezogen fühlt43.

Schon in der ersten Szene des ersten Aktes wird deutlich, was dieses Verhalten für ein Licht auf die Familie wirft. Luises Vater ist außer sich und sieht sein Haus in Verruf geraten44. Auch sieht er sich selbst als Schuldiger für die Taten seiner Tochter und macht sich Vorwürfe, er hätte sie mehr „koram nehmen sollen“ 45. Anhand dieser zwei Zitate wird wieder die Rolle der Tochter in der bürgerlichen Familie sichtbar.

Sie dient als eine Art Garant für die Ehre der gesamten Familie und kann diese auch durch den Schritt über die Grenze zwischen Adel und Bürgertum beschmutzen. Sogar Luise selbst sieht sich in dieser Position. Dies ist durch ihren Ausspruch: „O, ich bin eine schwere Sünderin, Vater (…) 46 “ und weiter „Ich verstehe Ihn, Vater- fühle das Messer, das Er in mein Gewissen stößt; aber es kommt zu spät“ 47 . Sie ist sich ihrer Missetat bewusst, versucht sich auch nicht mehr zu verteidigen, hat auch in keinster Weise den Anspruch geformt ihre Liebe zu Ferdinand ausleben zu können48. Dies zeigt deutlich wie scharf, laut Schiller, die Grenze zwischen Adel und Bürgertum im 18. Jahrhundert gezogen wurde.

Jedoch standen diese Grenzen im Kontrast zu dem Individualitäts- und Fühlverlangen der Menschen. Luise sieht den Ausweg hierbei im Leben nach dem Tod, in dem „die Herzen im Preise steigen“49 und sie selbst dadurch reich sein wird. Sie greift somit die Begebenheiten der Stände nicht an, möchte nicht aus ihrem bürgerlichen Dasein entschwinden. Als Bürgerliche ist ihr Herz und ihre Treue zu ihrer Familie und ihrem Stand mehr wert, als all die Titel und Errungenschaften des Adels. Dies passt gut in das Bild der Kritik des Adels im 18.Jahrhundert, das den Adel als übermäßig feiernden, lüsterhaften Stand sah, von dem es sich zu entfernen galt.

Gerade hier könnte man mit der Schuldfrage der Luise Miller ansetzen, die sich eben nicht dem höfischen Leben entzieht. Zwar verurteilt sie es und möchte nicht aus ihrem eigenen Stand heraus, kann jedoch auch nicht von ihrem geliebten Ferdinand lassen. Durch diesen Schachzug hat Schiller die Zuschauer aus dem bürgerlichen Stand abgefangen, da diese sich sowohl mit dem Bedürfnis zu Fühlen, als auch den Rückzug ins Private und der Zugehörigkeit des Standes identifizieren können. Das Faktum, das Luise Miller eine Frau ist, kompliziert die Angelegenheit wiederum, da die Rollenverteilung strikt war. Außerdem handelt es sich bei der Figur des Ferdinands nicht um einen typischen Adeligen, dies bemerkt Luise und fühlt sich deswegen zu ihm hingezogen.

Durch den Widerstand Millers werden die Grenzen deutlich, die das Bürgertum um sich gezogen hat. Trotz der Unterlegenheit bezüglich des Adels hat das Bürgertum seinen eigenen Raum, in dem es sich seiner hingeben kann. Eine Veränderung im 18. Jahrhundert war die Erschaffung eines privaten Raums für die Bürgerlichkeit. In diesem Rahmen durften die Menschen sich auch politisch äußern, obwohl dies eigentlich nur für den Adel standesgemäß war.

[...]


1 Schiller, Friedrich, Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel, hg. von Max Kämper, 2014 Ditzingen, S.24, 1 Akt, 7.Szene, Z.26-27.

2 Kämper, Max, Anhang.Leben und Zeit, in: Schiller, Friedrich, Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel, hg. von Max Kämper, 2014 Ditzingen, S.134.

3 Sturm und Drang.Encyclopædia Britannica Online: https://academic-eb-com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/levels/collegiate/article/Sturm-und-Drang/70053, 2018,aufgerufen am 2.03.19.

4 Korff, Hermann, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte Teil 1: Sturm und Drang. Leipzig 1923. S. 209-2011.

5 Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems (105),Tübingen 2006.

6 Friedrich, Hans-Edwin: Bürgerlichkeit im 18.Jahrhundert, in: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems (105),Tübingen 2006, S.X-XI.

7 Vollhardt, Friedrich: Die Bildung des Bürgers. Wissensvermittlung im Medium der Moralischen Wochenzeitschrift, in: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems (105),Tübingen 2006, S. 142.

8 Nitschke, Claudia: Der öffentliche Vater.Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1755-1921), in: Hermaea Germanistische Forschungen (130), Berlin/Boston 2012, S.112.

9 Nitschke, 2012, S.112.

10 Friedrich: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, S.XII, Vgl. Der Patriot, Nach der Originalausgabe Hamburg 1724-26 in drei Textbänden und einem Kommentarband, hg. von Wolfgang Martens (2), Berlin 1970,413ff.

11 Vollhardt: Die Bildung des Bürgers, S. 146.

12 Vollhardt: Die Bildung des Bürgers, S. 147.

13 Friedrich: Die Bürgerlichkeit im 18.Jahrhundert, S.XII, Vgl. Der Patriot, Nach der Originalausgabe Hamburg 1724-26 in drei Textbänden und einem Kommentarband, hg. von Wolfgang Martens (2), Berlin 1970,413ff.

14 Vollhardt: Die Bildung des Bürgers, S.143.

15 Hilliger, Dorothea:Wünsche und Wirklichkeiten im bürgerlichen Trauerspiel. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte und Problematik neuzeitlicher Liebesbeziehungen (Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 660), Frankfurt am Main 1984, S. 31-32.

16 Vollhardt: Die Bildung des Bürgers, S.135.

17 Koopmann, Helmut: Schiller-Handbuch, Stuttgart 2011, S.394.

18 Hilliger: Wünsche und Wirklichkeiten im bürgerlichen Trauerspiel, S.164.

19 Zunkel, Friedrich: Ehre, Reputation, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland (Band 2), hg. von Otto Brunner,Werner Conze, Reinhardt Koselleck, Stuttgart 1975, S.1-63.

20 Schiller, 2014, S.64, 3.Akt, 4.Szene,Z. 22-24:„ Ich habe einen Vater, der kein Vermögen hat, als diese einzige Tochter hat (...)“.

21 Hilliger: Wünsche und Wirklichkeiten im bürgerlichen Trauerspiel, S.164.

22 Kämper: Anhang, S.145-145

23 Schiller, 2014, S.98, 5.Akt, 1.Szene, Z.36 und S.99, Z.1-4.

24 Hilliger: Wünsche und Wirklichkeiten im bürgerlichen Trauerspiel, S.164.

25 Hilliger: Wünsche und Wirklichkeiten im bürgerlichen Trauerspiel, S.165.

26 Schiller, 2014, S.13, 1. Akt, 3.Szene, Z.14-15: „Ich will ja nur wenig – an ihn denken-- das kostet ja nichts.“

27 Schiller, 2014, S.17, 1.Akt, 4.Szene, Z. 9-12.

28 Hilliger: Wünsche und Wirklichkeiten im bürgerlichen Trauerspiel, S.180.

29 Linke, Angelika, „Ich“: Zur kommunikativen Konstruktion von Individualität. Auch ein Beitrag zur kulturellen Selbsterfindung des „neuen“ Bürgertums im 18. Jahrhundert, in: Die Bürgerlichkeit im 18.Jahrhundert, hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems (105),Tübingen 2006, S.49-51.

30 Schiller, 2014, S.51, 2.Akt, 7.Szene.

31 Ebd., S.163-164.

32 Kämper: Anhang, S.144.

33 Kämper: Anhang, S.138.

34 Zelle,Carsten, Mündigkeit und Selbstgefühl. Versuch über das aufgeklärte Subjekt am Ende des 18. Jahrhundert, in: Die Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems (105),Tübingen 2006, S. 121.

35 Hilliger: Wünsche und Wirklichkeiten im bürgerlichen Trauerspiel, S.105.

36 Willems, Marianne, Individualität – ein bürgerliches Orientierungsmuster. Zur Epochencharakteristik von Empfindsamkeit und Sturm und Drang, in: Die Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems (105),Tübingen 2006, S.177.

37 Willems: Individualität – ein bürgerliches Orientierungsmuster, S.178.

38 Lauer, Gerhard: Grundkurs Literaturgeschichte, 2013, S.98.

39 Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag, übersetzt von Heinrich Denhardt, Norderstedt 2017, S. 2.

40 Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag, S.5, 4 Kapitel.

41 Ebd.

42 Willems: Individualität – ein bürgerliches Orientierungsmuster, S.173.

43 Kämper: Anhang, S.146.

44 Schiller, 2014, S.5, 1. Akt, 1.Szene, Z.9: „ Mein Haus wird verrufen.“

45 Ebd., S.5, Z.16-17.

46 Schiller, 20014, S.12,1.Akt, 3.Szene, Z.24.

47 Ebd., S.12, Z.31-33.

48 Schiller, 2014, S.13, 1.Akt, 3.Szene, Z.14-20: „ Ich will ja nur ein wenig—an ihn denken—das kostet ja nichts. (…).“

49 Schiller, 2014, S.14, 1.Akt, 3.Szene, Z.19.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Inwieweit kann man die Figur Ferdinand aus "Kabale und Liebe" als einen Vertreter der Epoche des Sturm und Drang interpretieren?
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
25
Katalognummer
V1060821
ISBN (eBook)
9783346473196
ISBN (Buch)
9783346473202
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schiller, Kabale und Liebe, Sturm und Drang, Bürgertum, Adel, Ferdinand
Arbeit zitieren
Vanessa Hosseini (Autor:in), 2019, Inwieweit kann man die Figur Ferdinand aus "Kabale und Liebe" als einen Vertreter der Epoche des Sturm und Drang interpretieren?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1060821

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