Der Umgang mit Geistigbehinderten im Raum Oberschwaben


Facharbeit (Schule), 2002

58 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis:

1. Problemstellung

2. Unterschiede zwischen Allgemeinpädagogik und Geistigbehinderten-pädagogik
2.1. Allgemeinpädagogische Erziehungsziele (Schwerpunkte) und geistigbehindertenpädagogische Erziehungsziele (Schwerpunkte)
2.1.1. Definition des Begriffes „Erziehungsziele“ und ihre Festlegung im pädagogischen Alltag
2.1.2. Allgemeinpädagogische Erziehungsziele (Schwerpunkte)
2.1.3. Geistigbehindertenpädagogische Erziehungsziele (Schwerpunkte)
2.1.4. Rahmenbedingungen
2.2. Auseinandersetzung

3. Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in Oberschwaben
3.1. Das Verständnis und der Umgang mit geistigbehinderten Menschen im Mittelalter
3.2. Die Geistigbehindertenpädagogik in ihren Anfängen und die Anstalts- gründungen in Oberschwaben
3.2.1. Die Gesellschaft im Wandel
3.2.2. Was ist Kretinismus?
3.2.3. Das Schweizer Vorbild
3.2.4. Erste Bewegungen in Württemberg
3.2.5. Die Gründung der Mariaberger Heime
3.2.6. Die Gründung der Stiftung Liebenau
3.3. Erster Weltkrieg und Inflation
3.4. Die Geistigbehindertenpädagogik im Nationalsozialismus
3.5. Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik ab 1945 bis heute
3.5.1. Die Nachkriegszeit
3.5.2. Schulpflicht für Geistigbehinderte
3.5.3. Arbeitspädagogik
3.5.4. Die modernen Konzepte

4. Umsetzung von Geistigbehindertenpädagogik anhand der Mariaberger Heime
4.1. Fachliche Rahmenkonzeption der Mariaberger Heime
4.1.1. Übergreifender Ansatz
4.1.2. Soziales System Mariaberg
4.1.3. Individueller Ansatz
4.2. Anwendung der Konzepte in einzelnen Bereichen
4.2.1. Kind und Familie: Integrative Ganztageseinrichtung Mariaberg „Ein Dach für alle Kinder“
4.2.2. Schule und Lernen: Abteilung Schule für Geistigbehinderte mit Schule für körperbehinderte Geistigbehinderte
4.2.3. Arbeit und Beruf : Werkstatt für Behinderte

5. Gentechnik und Bioethik
5.1. Einleitung in die Bioethik
5.2. Das Für und Wider der Bioethik
5.3. Unstimmigkeiten
5.4. Wer bestimmt?
5.5. Vertreter der Bioethik
5.6. Bioethikkonvention des Europarates
5.7. Mögliche Auswirkungen von Gentechnik und Bioethik

6. Zukunftsaussichten im Bereich Sonderpädagogik und Behinderungen

7. Fazit

8. Eidesstattliche Erklärung

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1: Pyramide

Abbildung 2: Beobachtungssystem

Abbildung 3: Lebenssituation

Abbildung 4: Rahmenkonzeption MbH

Abbildung 5: Vernetzung im Bereich Kind und Familie

Abbildung 6: Frühförderung

Abbildung 7: Prozess – Hilfe zur Lebensgestaltung

Abbildung 8: Menschen

„Ohne geistige Fähigkeit ist kein lebender Mensch, und diese Fähigkeit, so gering sie auch sei, kann und muß überall wo die Menschenwürde geachtet wird, durch Erziehung und Unterricht entwickelt werden. " Urach, den 1. März 1847

Carl Rösch

1. Problemstellung

Im Rahmen der Projektarbeit der WO - Riedlingen 2000/2002 mit dem Thema Umgang mit Behinderten in Oberschwaben, behandelt unsere Gruppe den pädagogischen Aspekt. Schon in den ersten Gruppensitzungen wurde klar, dass das Ausmaß dieses Themas den geforderten Rahmen der Projektarbeit sprengen würde. Deshalb war es erforderlich, Schwerpunkte zu setzen und so haben wir uns entschlossen, unsere Projektarbeit auf den Bereich Geistigbehindertenpädagogik einzuschränken. Dies erschien uns auch deshalb für sinnvoll, da sich gerade im Oberschwäbischen Raum eine Vielzahl von Einrichtungen für Geistigbehinderte befinden. Dabei sollen unter anderem die unterschiedlichen Ziele und Rahmenbedingungen von allgemeiner Pädagogik und Geistigbehindertenpädagogik aufgezeigt werden.

Des weiteren zeigen wir die geschichtliche Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in Oberschwaben von ihren Anfängen bis hin zu den heute angewandten Konzepten auf.

Am Beispiel der Mariaberger Heime in Gammertingen soll die praktische Anwendung von moderner Geistigbehindertenpädagogik anhand einer realen Einrichtung vorgestellt werden. Dabei untersuchen wir unter anderem die Frage, welche Ziele durch diese erreicht werden sollen.

Zur Abrundung unserer Projektarbeit beschäftigen wir uns mit der Gentechnik, dem moralischen Konflikt der Bioethik und den möglichen Auswirkungen auf geistige Behinderungen. In diesem Zusammenhang möchten wir anhand verschiedener Theorien die möglichen Zukunftsaussichten der Sonderpädagogen aufzeigen.

2. Unterschiede zwischen Allgemeinpädagogik und Geistigbehinderten- pädagogik

Jedem einzelnen Menschen unserer Gesellschaft dürfte es bewusst sein, dass allgemeine Pädagogik nicht mit Geistigbehindertenpädagogik auf eine gemeinsame

„Stufe“ gestellt werden kann. Mit dieser Arbeit möchten wir einen Einblick geben und diese Unterschiede genauer darlegen. Der erste Schwerpunkt, der genauer bearbeitet wird, beinhaltet die unterschiedlichen Ziele, die die allgemeine Pädagogik von der Geistigbehindertenpädagogik unterscheidet. Sie verfolgen jeweils gravierend unterschiedliche Ziele und wurden aus unterschiedlichen Ansätzen heraus gearbeitet.

Weiterführend wird zu erkennen gegeben, dass die jeweiligen Pädagogiken in den dazugehörigen Einrichtungen nur umgesetzt werden können, wenn bestimmte und spezielle Rahmenbedingungen gegeben sind. Denn nur, wenn dies zutrifft, kann effektiv gearbeitet und Ziele genauestens umgesetzt werden.

Diese Bereiche, Rahmenbedingungen und Ziele liegen also in der jeweiligen Pädagogikart eng beieinander, natürlich bei jeder auf eine andere Art und Weise.

Somit verfolgen sie auch unterschiedliche Schwerpunkte und knüpfen an speziellen pädagogischen Prozessen an.

Um diese Unterschiede genauer aufzuzeigen, beschäftigt sich dieser Teil der Dokumentation mit zwei verschiedenen Einrichtungen, mit Kindergarten und Schule, dargestellt aus den jeweiligen pädagogischen Ansätzen der Allgemeinpädagogik und der Geistigbehindertenpädagogik.

2.1. Allgemeinpädagogische Erziehungsziele (Schwerpunkte) und geistigbehindertenpädagogische Erziehungsziele (Schwerpunkte)

2.1.1. Definition des Begriffes „Erziehungsziele“ und ihre Festlegung im pädagogischen Alltag

„Erziehungsziele sind Leitnormen für den Erziehungsprozess im Hinblick auf wünschbare Verhaltensweisen, Kenntnisse, Wertorientierung, Ausdrucksformen, des Denkens und Fühlens.“1

In den meisten Pädagogikarten können alle Ziele pyramidenförmig aufgebaut werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Pyramide

Quelle: Pausewang, Freya [Ziele suchen – Wege finden, 1994] S. 72

Die Grenzen zwischen diesen einzelnen Zielbereichen fließen ineinander über. So eine Gliederung soll im allgemeinen dazu beitragen, sich Ziele für die Praxis besser bewußt zu machen und verdeutlichen zu können.

Bei einer Pädagogik spielen viele verschiedene Zielbereiche eine Rolle, die aber immer eng miteinander verbunden sind. Um diese idealen Zielbereiche festzulegen, steht bei beiden Pädagogikarten das „Beobachten“ des Betreuers, der Betreuerin des Geschehens innerhalb der „Gruppe“ oder des Verhaltens einzelner Kinder/Jugendlichen im Vordergrund.

Die betreuende Person der „Gruppe“ setzt dort ihre Ziele an, wo sie durch Beobachtung einen Bedarf erkennt. Wenn sie z.B. bei Gruppenmitgliedern Mängel im sozialen Verhalten wahrnimmt, wird sie versuchen, mit den Betroffenen daran zu arbeiten, um sie zu verringern. Wenn sie ein Verhalten als positiv empfindet, ist ihre Aufgabe, es zu verstärken, z.B. durch Loben.

Dieses Beobachtungssystem soll in der folgenden Graphik genauer dargestellt werden. Hier ist auch durch die Pfeilverbindungen genau zu erkennen, dass es ein sehr eng verbundener und nie endender Zyklus ist. Die einzelnen, hier dargestellten Elemente stehen alle in einer bestimmten Beziehung zueinander. Diese Graphik zeigt verstärkt die Rolle der betreuenden Person in diesem Beobachtungssystem.

Die Rolle der betreuenden Personen im Beobachtungssystem:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Beobachtungssystem

Quelle: Pausewang, Freya [Ziele suchen – Wege finden, 1994] S. 78

Die gesetzten Erziehungsziele bleiben jedoch auch nicht immer gleich. Aus den verschiedensten Gründen verändern sie sich, weil eine andere Situation bei der zu betreuenden Person gegeben ist oder sonstige Veränderungen eintreten.

Diese Zielveränderungen sind individuell auf jedes einzelne Kind zurückzuführen, wobei die Umstände hierfür viele verschiedene Ursachen haben können. Ursachen, die für die betreuende Person so ausschlaggebend sind, dass sie ihr Verhalten komplett oder teilweise ändert. Meist spielt hier das Umfeld (z.B. Freunde, Mitschüler) oder die Familienverhältnisse (z.B. bevorstehende Scheidung der Eltern, Erziehungsstil zuhause) eine große Rolle.

Die nachfolgende Graphik soll hier einen kleinen Einblick geben und einige Umstände aufzeigen, die die sozialpädagogische Erziehungsarbeit im Alltag begleitet:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Lebenssituation

Quelle: Pausewang, Freya [Ziele suchen – Wege finden, 1994] S. 92

2.1.2. Allgemeinpädagogische Erziehungsziele (Schwerpunkte)

Bei der Allgemeinpädagogik sind die Erziehungsziele (Schwerpunkte) in Rahmenplänen (Kindergarten) oder Lehrplänen (Schule) festgelegt.

Wenn ein Kindergarten noch nach einem Rahmenplan arbeitet, bedeutet das, dass Ziele in bestimmte Bereiche eingeteilt werden. Genauer gesagt legen hier die betreuenden Personen, meist Erzieherinnen, Angebote in bestimmten Bereichen fest, um ihre Ziele umzusetzen. Diese Bereiche können sein:

- Religiöser Bereich
- Sprachlicher Bereich
- Musikalischer Bereich
- Kreativer Bereich
- Umwelt und Sachbegegnung
- Vorschule
- Hauswirtschaftlicher Bereich
- Kleingruppenarbeit

Da hier aber die Zielsetzung noch verstärkt von der betreuenden Person ausgeht, trifft man diese Art von Zielsetzung, in unserer heutigen Zeit, kaum noch an.

Heutzutage wird in den zeitgemäßen Kindergärten jedoch das Beobachtungssystem (wie oben beschrieben) durchgeführt, um Ziele zu setzen. Hier ist die Möglichkeit gegeben, nach diesem System vorzugehen, was in unseren Schulen oft nicht umsetzbar ist. In der Schule ist es erforderlich, dass der Schüler nach Abschluß einer Klassenstufe bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse besitzt.

Z.B im Fach Mathematik, 1.Klasse Addition und Subtraktion im Zahlenraum von 1-20. Wenn dies nicht der Fall ist und der Schüler nicht nur in diesem Fach sogenannte Mängel aufweist, wird die Klassenstufe wiederholt.

Der hier praktizierende Lehrer ist gezwungen, sich an die Ziele des Lehrplans zu halten. Durch den Zeitdruck und die Klassengröße (siehe Rahmenbedingungen),die hier eine bedeutende Rolle spielt, ist es ihm nicht möglich, sich individuell mit einzelnen Schülern zu beschäftigen und auseinander zu setzen.

Ziele setzen STUR nach Plan!

Die Fähigkeiten und Kenntnisse der Schüler werden aus dem sogenannten „Stoff“ des Lehrplans erarbeitet, vermittelt und praktisch umgesetzt. Oft treten hier Zielbereiche, wie Förderung des Sozialverhaltens, weit in den Hintergrund. Jedoch weit im Vordergrund steht der geistige Lernbereich. Voraussetzung ist z.B. für einen Schüler mit Abschluß der Grundschule in einem gewissen Ausmaß Rechnen, Lesen und Schreiben zu können. Je nach seiner „guten“ oder „weniger guten“ LEISTUNG wird er auf eine weiterführende Schule geschickt, in der der Schüler, wieder nach Zielen orientiert am Lehrplan, weiter gefördert wird.

Die Schulkarriere eines jeden Schülers hängt somit von den Leistungen seines kognitiven Bereiches ab.

Zurückblickend in die „frühkindliche Erziehung“ am Beispiel des Kindergartens stoßen wir hier schon, zwar in einem wesentlich geringeren Ausmaß als bei der Schule, auf die Förderung des geistigen Bereiches. Größtenteils tritt dieser Bereich Ende des fünften, Anfang des sechsten Lebensjahres des Kindes in den Vordergrund. Dies geschieht mit der Vorbereitung auf die Schule. Die betreuende Person, meist eine Erzieherin, versucht den Kindern mit der sogenannten

„Vorschule“ durch spezielle Angebote Kenntnisse zu vermitteln, die ihnen den Einstieg ins Schulleben erleichtern sollen.

Wird dieses Ziel erreicht, kann das Kind eingeschult werden, wenn nicht, wird es

„zurückgestuft“ und verbringt noch ein Jahr im Kindergarten. Ansonsten verläuft ein Kindergartenalltag mit wesentlich weniger Leistungsdruck und die Zielorientierung wird nicht nach Plan, sondern durch das im oberen Teil beschriebene Beobachtungssystem durchgeführt.

„Größtmögliche (optimale) Selbstbestimmung des Kindes“2 ist ein Richtziel vieler Kindergärten, die nach neueren allgemeinpädagogischen Ansätzen arbeiten. Dieses Ziel soll verstärkt zur individuellen Selbstbestimmung des Kindes beitragen. Es bedeutet, dass das Kind gewisse Dinge selbst entscheiden darf und seine Entscheidungen, insofern sie umsetzbar sind, von der betreuenden Person akzeptiert werden. Das Kind entscheidet selbst, ohne Einfluss des Betreuers! Beispiele hierfür könnten sein, dass das Kind selbst entscheidet, was es gerne spielen möchte und mit wem es gerne spielen möchte, ob es jetzt essen möchte oder erst später und wer sein Freund ist und wer nicht. Auch ist es wichtig, dass die betreuende Person Ideen der Kinder im Alltag aufgreift und nicht über den Kopf der zu Betreuenden hinweg entscheidet. Natürlich hat auch die Selbstbestimmung in der Allgemeinpädagogik gewisse Grenzen. Diese Grenzen machen das „Miteinander leben“ erst möglich, sowie es auch Regeln und Grenzen in unserer Gesellschaft gibt. Hält sich aber die Selbstbestimmung innerhalb dieses Rahmens, stellt sie kein Problem dar und ist durchaus umsetzbar.

Dieses Richtziel, gekoppelt mit dem Beobachtungssystem, bildet für viele betreuende Personen die ideale Zielorientierung in ihrem pädagogischen Alltag. In den Vordergrund stellen möchte ich aber an dieser Stelle, dass bei der „frühkindlichen Erziehung“ die Zielsetzung noch am Kind orientiert stattfindet, jedoch im Laufe seiner Entwicklung ihm Ziele zugewiesen werden.

2.1.3. Geistigbehindertenpädagogische Erziehungsziele (Schwerpunkte)

Wenn sich ein Allgemeinpädagoge mit der Zielsetzung der Geistigbehindertenpädagogik auseinandersetzt, muß er komplett umdenken. Nur Leistungsbereitschaft und zielorientiertes Arbeiten nach Plan ist hier nicht umsetzbar. Natürlich orientieren sich die tätigen Pädagogen auch an bestimmten Konzepten, wenden aber verstärkt die Methode des Beobachtens zur Zielsetzung an und stimmen die Ziele individuell auf den Geistigbehinderten ab. Der Geistigbehinderte als Mensch steht hier weit im Vordergrund. Es spielen nicht nur Erziehung und Unterricht in dieser Pädagogik eine Rolle, sondern auch verschiedene Therapiemethoden fließen in den Alltag mit ein.3

Die Erziehungsziele werden am Geistigbehinderten angesetzt. Sie sind abgestimmt auf seine eigenen individuellen Fähigkeiten und den Entwicklungsstand unter dem Grad seiner Behinderung. Er muß nicht nach einem bestimmten Zeitabschnitt, z. B. einem Schuljahr, ganz bestimmte Kenntnisse besitzen, sondern diese Pädagogik richtet sich nach dem Leitsatz: „Hilfe zu Selbsthilfe, d. h. Hilfe zur Lebensverwirklichung, soweit sie der einzelne Mensch braucht“.4

Eine optimale Selbstbestimmung, wie in der Allgemeinpädagogik, ist hier im Normalfall nicht umsetzbar, bzw. nur in einem gewissen Maße (kommt auf den Behinderungsgrad an). Der geistig Behinderte steht in der Regel immer unter der leitenden Fürsorge seiner betreuenden Person. Diese betreuende Person muss in der Lage sein, anhand des Behinderungsgrades einschätzen zu können, was für den Behinderten umsetzbar ist und was nicht, d.h. wo seine individuellen Grenzen liegen. Hier ist Selbstbestimmung nur im kleinen Rahmen ein Thema, Selbstversorgung und Orientierung im Alltag spielen jedoch eine große Rolle.

Zusammengefasst bedeutet das:

„- Erfahrungen der eigenen Person und Aufbau eines Lebenszutrauens,
- Selbstversorgen und Beitragen zur eigenen Existenzsicherung,
- Zurechtfinden und angemessenes Erleben in der Umwelt,
- Orientieren in sozialen Bezügen und Mitwirken bei ihrer Gestaltung,
- Erkennen und Gestalten der Sachumwelt.“5

Diese Erziehungsziele werden nicht wie in einem uns allen bekannten Unterricht an einer Regelschule oder einem Angebot im Regelkindergarten durchgeführt, sondern der hier praktizierende Pädagoge setzt sie mit "Lernen durch Übung“6 in die Realität um. Praktisches Lernen wie z.B. einfachste Gewohnheiten der Selbstversorgung (an- und ausziehen, essen, sich waschen,...) oder einfachste soziale Umgangsformen (grüßen, danke und bitte sagen, aufeinander Rücksicht nehmen,...) sind Ansätze, die durch ständige Wiederholung zu gesetzten Zielen führen.

„ Die Zahl der erforderlichen Wiederholung ist bei geistig behinderten Kindern wesentlich größer als bei nicht behinderten Kindern. Der Erzieher und Lehrer muß sich von vornherein auf eine relativ lange Übungszeit einstellen und sich mit viel Geduld und Ausdauer rüsten.“7

Lebenspraktische Hilfestellung anstatt Leistungsdruck ist in dieser Pädagogik Richtziel und grundlegender Schwerpunkt.

2.1.4. Rahmenbedingungen

Wie schon in Punkt 2.1. genannt, bedarf es gewisser Rahmenbedingungen, um diese Pädagogikarten umzusetzen. Die Rahmenbedingungen der Allgemein- pädagogik unterscheiden sich zur Geistigbehindertenpädagogik in jeglicher Form, jedoch sind sie beide Grundlage der jeweiligen Pädagogikart.

Angefangen mit dem Spiel und Lernmaterial, das in beiden Pädagogiken dem Entwicklungsstand und Lernniveau der normal entwickelten und geistig behinderten Kindern/Jugendlichen angepasst ist. Z.B. besteht das Lernmaterial eines Kindes auf einer weiterführenden Regelschule im Fach Mathematik aus Lehrbuch, Heft und Taschenrechner. In einer Geistigbehindertenschule werden auch noch in fortgeschrittenen Klassen Materialien zum Rechnen verwendet, wie Bauklötze, Äpfel oder Steine. Das geistig behinderte Kind stößt in allen Bereichen auf Lehr- und Spielmaterial, das praktisch und greifbar ist.

Des weiteren ist der Alltag eines Geistigbehinderten nicht nur mit Unterricht (Schule) oder Freispiel (freie Spielzeit im Kindergarten) gestaltet, sondern es kommen noch Therapiestunden hinzu, die einzeln oder in der Gruppe von bestimmten Therapeuten durchgeführt werden. Dies zeigt uns auf, dass in der Geistigbehindertenpädagogik wesentlich mehr verschiedene Berufsarten auftreten. Nicht nur Erzieher und Lehrer, sondern (wie schon genannt) Therapeuten, Heilpädagogen, Sonderpädagogen, Psychologen und auch Zivildienstleistende sind hier voll mit integriert. Fast jede Einrichtung, in der Geistigbehindertenpädagogik umgesetzt wird, verfügt über verschiedene und sehr modern eingerichtete Therapieräume. Die Anzahl der Pädagogen oder Angestellten in der Geistigbehindertenpädagogik in einer Gruppe oder Klasse ist wesentlich höher als bei der Allgemeinpädagogik jedoch die Gruppen- oder Klassengröße wesentlich kleiner. Im Vergleich dazu hat eine Gruppe oder Klasse im allgemeinpädagogischen Bereich einen Umfang von 24 – 36 Kindern/Jugendlichen und wird im Kindergarten meist von einer Erzieherin und einer Praktikantin (Ausbildung zur Erzieherin) als Zweitkraft betreut. In der Schule im Normalfall von einem einzigen Lehrer.

In der Geistigbehindertenpädagogik ist es pädagogisch gesehen wünschenswert möglichst kleine Gruppen oder Klassen zu haben, d.h. sie sollten nicht mehr als sechs Kinder/Jugendliche umfassen. Die Anzahl der betreuenden Personen wird hier abgestimmt auf den Grad der Behinderung, d.h. wenn eine Gruppe oder Klasse den

höchsten Grad einer geistigen Behinderung aufweist, ist hier für jede zu betreuende Person ein Pädagoge oder Angestellter tätig.8

Wesentlich in diesem Fall ist die Feststellung, dass es sich hier um bedeutend mehr Personal handelt als im allgemeinpädagogischen Bereich.

Mit Hilfe dieser unterschiedlichen Rahmenbedingungen ist gezieltes pädagogisches Arbeiten erst effektiv möglich und realitätsnah.

2.2. Auseinandersetzung

Wenn wir uns diese gravierend unterschiedlichen Rahmenbedingungen einmal genauer betrachten, kommt uns die Frage auf: „Sind behinderte Kinder/Jugendliche der Gesellschaft denn mehr wert?“. Allein wenn wir die Kosten für die meist sehr modern eingerichteten Therapieräume und die Anzahl der Personen, die dort tätig sind, sehen, steht dies in KEINER Relation zum allgemeinpädagogischen Bereich. Kein Regelkindergarten könnte es sich leisten, diese Anzahl von Personal einzustellen. Warum? Weil von Kirche und Staat (den Trägern) nicht so viel

„finanzielle Unterstützung“ zur Verfügung steht (Spenden kommen in diesem Bereich leider nur selten vor). Ob es denn auch in allgemeinpädagogischen Bereichen NÖTIG wäre, Therapiemöglichkeiten oder ein allgemeines Umdenken der Strukturen zu schaffen, steht hier für Staat, Träger der Einrichtungen und Ämter nicht zur Diskussion.

Dass im geistigbehinderten Bereich viel mit Spenden von der Gesellschaft umgesetzt wird, ist uns wohl allen genauestens aus den verschiedensten Medien bekannt.

Seit es ein Umdenken in den Köpfen der Gesellschaft gegeben hat, und nun alle behinderten Menschen voll in der Gemeinschaft integriert sind, setzen sich viele Menschen, in jeglicher Art, für das Leben behinderter Menschen ein. Mit eigener Tatkraft oder mit finanzieller Unterstützung. Dies ist natürlich sehr lobenswert und auch von Nöten, doch stellen wir uns die Frage, was sie dazu bewegt. An dieser Stelle möchten wir einen geschichtlichen Sprung zurück machen, in unsere, doch allen bekannte Vergangenheit und uns den Nationalsozialismus ins Gedächtnis rufen. Spenden denn manche Menschen aus diesem Grund, aus schlechtem Gewissen, das immer noch in unseren Köpfen ruht? Unterstützt der Staat diese Einrichtungen so großzügig, um anderen Ländern zu zeigen, dass wir jetzt anders sind? Dass er ein „Miteinander – Leben“, zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen möglich gemacht hat? Oder einfach um zu zeigen, dass wir diese Vorurteile gegenüber unseren behinderten Mitmenschen endlich abgebaut haben.

Vielleicht ist es ja aber auch der Grund, dass das Mitleid von der Gesellschaft für die behinderten Menschen im Vordergrund steht. Mit dem Ausspruch: “Sie haben ja so ein hartes Schicksal“, wurde schon oft das Scheckbuch aus der Tasche geholt.

Am Ende jedoch spielt es keine große Rolle, wieso man sich für behinderte Menschen einsetzt, sondern dass man sich für behinderte Menschen einsetzt! Sie sind Teil unserer Gesellschaft und sollen es auch bleiben, der Umdenkungsprozess hat das lang ersehnte Miteinander endlich möglich gemacht! Nur eines fehlt jetzt noch, nämlich der Umdenkungsprozess für unsere „normal“ entwickelten Kinder und Jugendliche, denn auch sie sind Teil unserer Gesellschaft!

3. Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in Oberschwaben

In diesem Teil der Arbeit wird die geschichtlichen Entwicklung der Geistig- behindertenpädagogik in Oberschwaben untersucht.

Schwerpunktmäßig wird die Entwicklung vom 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit aufgezeigt. Mit dieser Arbeit soll herausgefunden werden, ob die ersten Ansätze der Behindertenhilfe in Oberschwaben für die heute angewandte Pädagogik noch von Bedeutung sind; teilweise werden die Unterschiede von früher und heute aufzeigt.

Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut. Die Entwicklung der Geistigbehinderten- pädagogik wird vor allem an den Mariaberger Heimen und der Stiftung Liebenau beschrieben, weil damals die ersten Ansätze der Geistigbehindertenpädagogik in diesen Anstalten entwickelt wurde und diese zwei Einrichtungen zu den bedeutendsten im oberschwäbischen Raum zählen. Für die Zeit um 1900 bis zum Beginn des Nationalsozialismus gibt es kaum Unterlagen, die Aufschlüsse über die

Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik geben. Deshalb wird nicht genauer auf diese Zeit eingegangen. Zeitlich beginnt diese Arbeit mit dem Mittelalter.

3.1. Das Verständnis und der Umgang mit geistigbehinderten Menschen im Mittelalter

Das Mittelalter war ein dunkles Kapitel in der Geschichte geistigbehinderter Menschen. Behinderungen wurden auf das Wirken dämonischer Mächte oder auf eine Strafe Gottes für die Eltern zurückgeführt. 9

Während in den Dörfern behinderte Menschen teilweise in das gesellschaftliche Leben eingegliedert wurden, waren in den Städten gerade zu unmenschliche Zustände . Um die Zahl der Bettler zu verringern wurden Behinderte in Toll-, Narren- und Zuchthäuser oder sogar in Kerkern weggesperrt.

„Die Realisierung des christlichen Caritasgedanken beginnt im 4. Jahrhundert mit den Armenasylen (asylum miserorum) und den Armenpflegehäusern (See 1973, 88). Es wäre jedoch verfehlt anzunehmen, daß der Behinderte im Mittelalter seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hätte; eher führte die Betreuung in den Klöstern zu einer Abkapselung.“10 Die Klöster sahen ihre Aufgabe in der Versorgung und Pflege der Behinderten, von Bildungsversuchen in dieser Zeit ist nicht auszugehen.

Selbst Martin Luther sagte in einer seiner Tischreden, er habe dem Fürsten von Anhalt geraten, den Wechselbalg zu ersäufen, weil dieser nur ein vom Satan gemachtes Stück Fleisch ohne Seele sei. 11

Viele Behinderte fielen damals auch dem Hexenwahn zum Opfer. Hauptsächlich geistig behinderte Menschen verbrannten auf dem Scheiterhaufen, weil besonders ihnen dämonische Einflüsse unterstellt wurden.

Im Mittelalter kann also nicht von einer Pädagogik für Geistigbehinderte gesprochen werden. Sieht man diese Tatsache aber unter dem Gesichtspunkt, dass auch „normal“ entwickelte Kinder nur wenig Chancen auf Bildung hatten, wirkt das Fehlverhalten von damals verständlicher; es entschuldigt aber keinesfalls die Verbrechen an behinderten Menschen, die unter dem Einfluss der Kirche und der Herrschenden dieser Zeit begangen wurden.

[...]


1 Pausewang, Freya, Ziele suchen – Wege finden, S. 70

2 Pausewang, Freya, „Ziele suchen – Wege finden“, 1994, S. 93

3 vgl. Speck, Otto, „Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Erziehung“, 1999, S. 168-169

4 ebenda, S. 57

5 Speck, Otto, „Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Erziehung“, 1999, S.191

6 ebenda, S. 204

7 ebenda, S.205

8 vgl. Speck, Otto, „Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Erziehung“, 1999, S. 218

9 vgl. Speck, Otto, „Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Erziehung“, 1999, S. 12

10 Mühl, Heinz, Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik, 1994, S. 9 ff.

11 vgl. Meyer, Hermann, Geistigbehindertenpädagogik, 1983, S. 91

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Der Umgang mit Geistigbehinderten im Raum Oberschwaben
Veranstaltung
Projektarbeit
Autor
Jahr
2002
Seiten
58
Katalognummer
V106856
ISBN (eBook)
9783640051311
Dateigröße
962 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geistigbehindertenpädagogik, Mariaberg, Geistigbehinderte, Integration, Sozialarbeit
Arbeit zitieren
Manfred Jonas (Autor:in), 2002, Der Umgang mit Geistigbehinderten im Raum Oberschwaben, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106856

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