Während des gemeinsamen Abendessens hat Vater Isaak heute eine aufregende Nachricht verkündet. Es läuft mit seiner Werkzeugfirma so gut wie nie. Die Zahlen für das vergangene Jahr zeigen eine Umsatzsteigerung von 13%. Das finde ich großartig. Jetzt wird Vater wahrscheinlich noch ein paar mehr Leute einstellen und die neue Werkhalle bauen können. Ich denke, man kann sagen, dass wir mittlerweile eine ziemlich wohlhabende Familie geworden sind.
Meinen Bruder Harry hat diese Nachricht mal wieder überhaupt nicht interessiert. Anstatt sich dafür zu begeistern, hat er einfach sein Essen in sich hinein geschlungen. Eigentlich sagt man Zwillingen doch nach, dass sie sich ähnlich sein sollen. Bei uns ist das wohl ganz anders. Wir haben doch kaum etwas gemeinsam. Anstatt, wie ich, zu studieren und sich für die geistigen Künste zu interessieren, ist er Zimmermann geworden. Er lebt von der Hand in den Mund – immer von Auftrag zu Auftrag, zieht in der Gegend herum – von Baustelle zu Baustelle. Eigentlich sagt man doch, der Ältere sei der Klügere. Aber das ist er nun wirklich nicht. Ein einfacher Mann ist er geworden.
Mit meiner Mutter Rebekka habe ich heute das tolle Geschäftsergebnis gefeiert. Wir sind in den Garten in den Pavillon gegangen und haben Sekt getrunken und uns stundenlang unterhalten. Mit ihr verstehe ich mich so gut wie mit keinem anderen Menschen. Manchmal denke ich, dass es auch schön wäre, wenn wir uns als ganze Familie so gut verstehen würden. Aber scheinbar gibt es bei uns zwei verschiedene Welten – Vater und Harry und Mutter und ich.
Vater geht es wieder besser. Der Arzt hat gesagt, dass es nur ein leichter Herzinfarkt war. Aber er müsse jetzt in jedem Fall kürzer treten und sich mehr schonen. Wir waren alle erleichtert.
Aber ein anderer Gedanke will mir nicht aus dem Sinn gehen, und er macht mich rasend. Wer wird die Firma übernehmen, wenn Vater sich nicht mehr darum kümmern kann? Natürlich mein Bruder, weil der richtig anpacken kann. Außerdem ist er der Ältere – wenn auch nur ein paar Minuten älter. Aber es war in unserer Familie schon immer Tradition, dass der Älteste die Firma bekommt. Das war bei Isaak so und seinem Vater genauso. Ich bin so wütend, weil ich nichts daran ändern kann Oder vielleicht doch?
Ist ja wieder typisch! Mein Bruder Harry ist mal wieder pleite. Er hat nicht richtig geplant, und jetzt kann er nicht mal mehr seine nächste Miete bezahlen. Er kam neulich zu mir und hat sich von mir Geld leihen wollen.
Und da war sie plötzlich – meine Chance! Natürlich habe ich ihm Geld gegeben. Und ihn gleichzeitig ordentlich übers Ohr gehauen. Er hat es nicht mal richtig gemerkt, so sehr hat er sich um sich selbst gesorgt. Jetzt werde ich die Firma bekommen. Ich habe ihn sogar schwören lassen, dass er nichts mehr mit der Firma zu tun haben will. Jetzt muss mir Vater die Firma nur noch überschreiben, und sie gehört mir.
Vater geht es immer schlechter. Der letzte Herzinfarkt hat ihn schwer getroffen, und er kann erst mal das Bett nicht mehr verlassen.
Ja, jetzt weiß ich, wie ich es anstellen muss! Ich kann die Firma und das ganze Erbe bekommen, ich muss nur schnell sein. Meine Mutter hat mir erzählt, dass Vater ein Testament aufsetzen will. Weil Vater nicht mehr schreiben kann, soll mein Bruder es für ihn aufsetzen und es zu ihm bringen. Vater will es dann unterschreiben.
Aber ich glaube, ich kann die Beiden austricksen. Meine Mutter will mir helfen den Namen meines Bruders gegen den Meinen auszutauschen. Ich werde ihm dann sagen, dass Harry verhindert sei und Vater das Testament schon mal unterschreiben soll. So werde ich im Testament stehen, und die Firma wird mir gehören.
Mist! Mein Bruder ist hinter den Schwindel gekommen, und alles ist aufgeflogen! Doch er kann nichts unternehmen, weil Vater im Koma liegt, und er so das Testament nicht mehr ändern kann. Ich bleibe trotzdem der Erbe.
Aber jetzt will mir mein Bruder an den Kragen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass er die halbe Wohnung vor Wut verwüstet hat und mich jetzt sogar umbringen will. Ich glaube, er meint es ernst. Er konnte schon früher ziemlich ausrasten. Höchste Zeit für mich, abzuhauen und erst mal unterzutauchen. Und ich weiß auch schon, wo ich hingehen kann. In Hamburg wohnt ein Onkel von mir. Dort werde ich erst mal unterkommen können.
Meine Güte, soviel Zeit ist vergangen! Ich habe über zwanzig Jahre nicht mehr in dieses Tagebuch geschrieben. Wir haben ja mittlerweile schon das Jahr 2000. Wieviel in der Zwischenzeit geschehen ist – ich kann es kaum glauben! Aber bin ich in all dieser Zeit glücklich geworden? Glückliche Momente gab es gewiß, aber alles in Allem ...?
Manchmal komme ich mir vor wie ein Heimatloser. Ich bin jetzt schon wieder auf der Flucht und muss woanders hin ziehen. Von einer Stadt in die andere. Bis vor Kurzem bin ich noch vor meinem Onkel geflüchtet. Den habe ich mit seinen Aktienanteilen ganz schön betrogen und mir ein nettes Vermögen an die Seite geschafft. Aber er ist mir doch auf die Schliche gekommen und hat mich verfolgt. Als er mich dann gefunden hat, dachte ich schon: Jetzt ist es aus! Aber wir konnten dann doch noch Frieden schließen.
Ich habe dieses Herumreisen satt. Ich möchte seßhaft werden und mich mit meiner Familie niederlassen und für den Rest meines Lebens an einem Ort bleiben. Ich glaube, es wird Zeit dazu. Am Besten, ich gehe zurück zu meiner Familie. Dort gehöre ich hin. Doch ... da ist ja noch eine Sache offen. Was ist mit meinem Bruder Harry? Hasst er mich noch immer so? Damals wollte er mich umbringen, weil ich ihn um das Erbe – die Firma – betrogen habe. Was wird geschehen, wenn wir uns wieder begegnen?
Ich glaube, ich habe eine Idee: Ein Privatdetektiv soll herausfinden, wo er jetzt wohnt und ihm schon einmal sagen, dass ich komme. An der Reaktion meines Bruders werde ich dann im voraus wissen, wie er mir gesonnen ist.
Was soll ich nur tun? Gestern habe ich Post von dem Privatdetektiv erhalten. Er schreibt, dass mein Bruder ganz schön ausgerastet ist, als er erfahren hat, dass ich zurück kommen will. Dann hat Harry ihn so lange ausgequetscht, bis er heraus bekommen hat, wo ich wohne. Jetzt will er sicher kommen und sich an mir rächen.
Naja, ich habe es ja auch nicht besser verdient. Schließlich habe ich ihn um sein Erbe gebracht. Er wird mich nun vor Gericht bringen, und ich werde alles verlieren. Dass es jetzt soweit gekommen ist, ist allein meine Schuld.
Ja, ich muss zugeben, ich habe jetzt wirklich Angst. Aber was kann ich nur machen? Vielleicht könnte ich wieder verschwinden, wie ich es früher bei Problemen auch getan habe – einfach abhauen und untertauchen. Aber nein, diesmal will ich es nicht mehr tun. Das Weglaufen muss ein Ende haben!
Irgendwie muss ich meinem Bruder zeigen, dass es mir ernst ist, und ich mich wieder mit ihm versöhnen will. Ich weiß es: Ich werde ihm Geld schicken. Er war doch früher so oft pleite und braucht bestimmt jetzt auch wieder welches. Und wenn er nicht pleite ist – Geld kann man immer gebrauchen! Aber ich habe noch einen zweiten Plan. Zur Sicherheit werde ich die Hälfte meiner Aktienanteile auf ein Nummernkonto in die Schweiz transferieren. Falls alles schief läuft, und mein Bruder mir an den Kragen will, ist wenigstens etwas Geld in Sicherheit.
Was hat das zu bedeuten? Es ist jetzt über eine Woche vergangen, und ich habe immer noch nichts von meinem Bruder gehört. Er müsste mittlerweile das Geld erhalten haben. Doch bis jetzt habe ich keine Antwort von ihm bekommen. Er hätte mich doch anrufen oder mir zurück schreiben können. Hat er mein Geld nicht bekommen, oder war es ihm vielleicht doch nicht genug Geld? Ich werde noch ein paar mehr von meinen Aktien verkaufen. Wenn ich ihn dann sehe, gebe ich ihm das Geld direkt. Vielleicht wird ihn dieses Geschenk in seinem Zorn besänftigen.
Letzte Nacht hatte ich vielleicht einen komischen Traum! Oder war es doch keiner? Ich habe gekämpft, die ganze Nacht lang und meinen Gegner schließlich besiegt. Seltsam
Ich habe wieder und wieder nachdenken müssen. Dieser „Traum“ von letzter Nacht geht mir nicht aus dem Kopf. Ich muss immerzu daran denken, was früher geschehen ist. Was ich meinem Bruder angetan habe, war nicht richtig. Ich habe ihn sehr verletzt und sein Vertrauen mißbraucht. Wenn ich ihm heute begegne, werde ich ihm nichts mehr vormachen, wie ich es so oft bei Menschen getan habe. Ich werde ihn ehrlich und von ganzem Herzen um Verzeihung bitten. Dies ist nicht viel, aber es ist wenigstens aufrichtig. Was er dann mit mir tut, liegt in seiner Hand.
Es kam dann der Moment der Wahrheit. Ich bin zum Bahnhof gegangen und habe am Bahnsteig auf meinen Bruder gewartet. Das Geld für ihn hatte ich in meine Manteltasche getan. Dann kam sein Zug. Ich hatte unglaubliche Angst, ihm zu begegnen und zitterte am ganzen Körper. Als dann der Zug hielt, und er ausstieg, wurde mir die Bedeutung meiner Tat noch einmal bewußt. Und ich konnte nicht anders! Ich fühlte mich so schuldig für meine Tat, dass ich mich vor ihm hingekniet habe. Jetzt sollte alles geschehen!
Aber was hat er getan? Er hat mich hochgezogen und in die Arme genommen. So, als wäre nichts gewesen. Mir sind zum ersten Mal seit langem die Tränen gekommen. Auch er musste weinen. Ein unglaublicher Moment war das! Wir haben uns lange umarmt. Er war mir also gar nicht mehr böse. Als ich ihm dann noch das Geld gegeben habe, wollte er es erst gar nicht haben. Er hat sogar gefragt, warum ich ihm eigentlich das andere Geld geschickt habe. Letztendlich hat er es dann doch genommen.
Schließlich wollte er, dass ich gleich mit ihm in den nächsten Zug steige und wir gemeinsam nach Hause fahren. Wir wären dann alle wieder in der Familie vereint. Das ging mir dann aber doch etwas zu schnell. Ich habe ihm gesagt, dass ich erst noch etwas Geschäftliches erledigen muss und anschließend nachkommen würde. Er solle schon mal vorfahren.
Ich glaube, ich werde doch nicht nach Hause fahren. Ich gehe besser in eine andere Stadt und suche mir dort eine Wohnung. Aber ich bin froh, dass die Geschichte mit meinem Bruder endlich geklärt ist!