Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
II Akzeleration – Was ist das?
III Akzelerationsansätze
a. Frühe Einschulung
b. Nachträgliche und höhere Einschulung
c. Überspringen von Klassen
d. Teilunterricht in höherer Klasse
e. D-Zug-Klassen
f. Parallelfachklassen
IV Akzeleration vs. Enrichment
V Entscheidungshilfen für das Überspringen von Klassen
VI Bewertung
I Einleitung
Es gibt in Deutschland leider immer noch viel zu viele unerkannte begabte und hochbegabte Kinder. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Pädagogen und Eltern von ‚ungewöhnlichen’ Kindern aufgrund zu geringer Erfahrungswerte Berührungsängste mit Förderungsformen haben, die auf dem Akzelerationsansatz beruhen. Dass dieser Denkansatz jedoch nicht unbedingt negativ bewertet werden sollte, wird im Nachfolgenden aufgezeigt. Neben allgemeinen Informationen zum Thema soll ebenfalls eine Bewertung durch die Verfasserin vorgenommen werden.
II Akzeleration – Was ist das?
Im Rahmen der schulischen Förderung für (Hoch-) Begabte gibt es verschiedene Ansätze, von denen einige unter dem Begriff Akzeleration zusammengefasst werden können. Ausgehend von verschiedenen Definitionen kann man Akzeleration folgendermaßen beschreiben:
„Der Vorgang der Akzeleration bedeutet in Wirklichkeit, hochbegabte und talentierte Jugendliche in den Lehrplan einzugliedern, die ihren Leistungen und ihrer Bereitschaft zu lernen angemessen ist (…).“[1] „Weiterhin umfasst sie jede Maßnahme, die es (…) ermöglicht, den vorgesehenen Lehrplan oder Teile davon früher zu beginnen, zu beenden oder schneller zu passieren (…).[2] Ausgehend von diesen Theorien muss man also betonen, dass die betroffenen Kinder bereits ‚weiter’ als andere Gleichaltrige sind und deshalb auch auf einer höheren Stufe beginnen sollten. Andere Definitionen fügen dem hinzu, dass die Akzeleration zusätzlich auf die speziellen Fähigkeiten der Schüler eingehe und nicht nur eine „künstliche Beschleunigung der Entwicklung“ sei.[3]
Weiterhin muss man beachten, dass der Akzelerationsansatz davon ausgeht, dass die Schule ihre Pflicht dann erfüllt hat, sobald die Schüler einen bestimmten Wissensumfang erlangt haben. Dass dies dann innerhalb kürzerer Zeit geschieht, ist für viele Akzelerationsgegner ein Argument, sich gegen diese Förderungsformen auszusprechen. Oft angeführte Aussagen wie beispielsweise die „verlorene Kindheit“ durch eine frühe Einschulung könnte durch die Frage, ob eine glückliche Kindheit an eine bestimmte Zeitspanne gebunden sei, entkräftet werden.[4]
III Akzelerationsansätze
a. Frühe Einschulung
Die frühe Einschulung als Förderungsform für (Hoch-) Begabte unterscheidet sich von der ‚regulären frühen Einschulung’ dahingehend, dass die Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung zwischen 5;3 und 5;9 Jahren alt sind (regulär früh: mindestens 5;8 Jahre). Da die Eltern in aller Regel nicht rechtzeitig über den 6-monatigen Vorlauf informiert sind oder aber wegen sozialer Gründe keine Eignung erkennen, wird es oftmals versäumt, schulreife (Hoch-) Begabte rechtzeitig (d. h. ‚irregulär früh’) einzuschulen. An dieser Stelle sind besonders Kindergärten, Vorschulen und Schulämter gefordert, entsprechende Aufmerksamkeit zu zeigen und Aufklärungsarbeit zu leisten.
Zudem müssen weitere Voraussetzungen gegeben sein, um eine reibungslose frühe Einschulung zu garantieren (v. a. fortgeschrittene bzw. normale körperliche und sozial-emotionale Entwicklung sowie eine ausgeprägte Hand-Augen-Koordination).
Obgleich es sicherlich mehr Kinder gibt, die früher eingeschult werden sollten als es tatsächliche ‚Frühstarter’ gibt, ist es interessant zu beobachten, dass die Lehrkräfte weniger Probleme damit haben, ein Kind (zurecht) zurückzustellen als ein anderes (ebenfalls zurecht) früher einzuschulen.
Durch diese Akzelerationsmaßnahme kann vor allem ein absehbares Überspringen während der Grundschulzeit vermieden werden. Dennoch ist die frühe Einschulung keine wirkliche Förderungsform Hochbegabter, weil sich in vielen Fällen wieder ein Leistungsvorsprung herausstellen wird. Daher ist die Kombination mit anderen Maßnahmen zwingend erforderlich.
b. Nachträgliche und höhere Einschulung
Sollte die frühe Einschulung ausgeschlossen sein, so kann diese Mischform aus früher Einschulung und Überspringen wählen. Dies geschieht in der Form, dass das Kind zum Schuljahresanfang in die 2. Klasse kommt, während des Frühjahrs in eine bereits bestehende erste Klasse eingeschult wird oder nach dem ersten Schulhalbjahr in die 2. Klasse springt. In jedem Fall entgeht dem Kind die wichtige Möglichkeit der Integration in die Klasse, und wird daher häufig als Notlösung betrachtet.
c. Überspringen von Klassen
„Das Überspringen von Klassen ist eine weitere Möglichkeit der Anpassung der Klassenstufe an die individuelle Leistungsfähigkeit der Schüler.“[5] An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass man nicht (hoch-) begabt sein muss, um zu überspringen. Ebenso springen nicht alle (hoch-) begabten Schüler.
Der Anlass für diese Maßnahme ist meist ein großes Interesse und hoher Wissensstand, der fast immer zu schulischer Unterforderung und somit Interessensverlust führt. Die springenden Schüler sollten vor allem in den Hauptfächern besonders gute Leistungen aufweisen, sowie emotional und sozial gefestigt sein, um den neuen Aufgaben gewachsen zu sein. Nicht-repräsentative Studien ergaben, dass sich bei fast allen ‚Springern’ die Noten (zumindest kurzfristig) verschlechterten, jedoch die wenigsten ihre Entscheidung wieder rückgängig machen würden. Als Gründe für die Notenverschlechterung gaben sie nicht-erlerntes Lernen sowie Desinteresse an.[6] Diese Tatsache zeigt zugleich den Nachteil des Überspringens auf: nicht-interessierte bzw. gelangweilte Schüler entwickeln in den seltensten Fällen ein plötzliches Interesse, wenn sie den ‚normalen’ Unterricht einer höheren Klassenstufe besuchen.
Das Überspringen von Klassen allein ist sicherlich kein optimaler Weg der Begabungsförderung und sollte immer mit weiteren Maßnahmen zur Motivationssteigerung bzw. –beibehaltung einhergehen.
d. Teilunterricht in höherer Klasse
Die Maßnahme eignet sich besonders für einseitig Begabte, da ihnen so die Möglichkeit gegeben wird, gezielt in ihrem Begabungsfeld gefördert zu werden. Von Vorteil ist, dass der Schüler in seinem bisherigen Klassenverband bleiben und dennoch seiner Neigung gemäß gefördert werden kann.
Ängstlichen Eltern erscheint die Maßnahme oftmals als am ehesten geeignet, wenn es um die Frage geht, wie ihr Kind am besten gefördert werden kann. Neben einem fundierten Wissen und großen Interesse, sollte der Schüler sich dazu bereit erklären, das entsprechende noch fehlende Fachwissen schnell und eigenständig zu lernen. Zudem müssen alle anderen Schulnoten mindestens durchschnittlich sein, damit es nicht zu Notenausfällen kommt. Obwohl dieser Ansatz recht attraktiv klingt, ist er doch in den seltensten Fällen realisierbar, da seitens der Schule ein enormer organisatorischer Aufwand nötig ist. Zudem kann dem Schüler nicht garantiert werden, dass er auch im folgenden Schuljahr wieder am Teilunterricht partizipieren kann. Es besteht hier also die Gefahr, das bereits Gelernte wiederholen zu müssen.
Insgesamt kann dieser Ansatz als durchaus positiv bewertet werden, dem jedoch durch organisatorische Schwierigkeiten eher selten genüge getan wird.
e. D-Zug-Klassen
In den sog. D-Zug-Klassen durchlaufen die Schüler die Klassen 6-10 in vier und die Klassen 7-11 in drei Jahren. Dies führt zu einer Verkürzung der Gesamtschulzeit um zwei Jahre. Diese Förderungsform eignet sich am ehesten für Mehrseitig- bzw. Höchstbegabte.
Vorteilhaft ist die entfallende Niveauanpassung nach unten seitens der begabten Schüler sowie die Erfahrung, nicht einzigartig zu sein. Bedauerlicherweise gibt es heute keine D-Zug-Klassen mehr, da es auf vielen Seiten negative Meinungen zu diesem Thema gab. Eltern hatten Angst, ihre Kinder könnten überfordert werden. Schüler aus ‚normalen’ Klassen fühlten sich unter Druck gesetzt, schlechtere Noten zu bekommen.
Trotz einiger Nachteile (z. B. weniger selbstbestimmtes Lernen durch Straffung der Lerninhalte) erscheint mir diese Akzelerationsform als die am meisten entwickelte, da hier der Lehrplan zum einem schneller durchlaufen wird, aber auch die Vermittlungsweise des Inhaltes auf den kürzeren Zeitraum abgestimmt wird.
f. Parallelfachklassen
Parellelfachklassen sind schulübergreifende Fachunterrichtsstunden für besonders Begabte, die während der regulären Unterrichtszeit anstelle des normalen Fachunterrichts angeboten werde.[7]
Vorteilhaft an dieser Maßnahme ist, dass die Schüler zum einen Kontakt zu anderen Begabten haben und gleichzeitig im alten Klassenverband bleiben. Für die Schulen ergibt sich aber ein großer organisatorischer und auch logistischer Aufwand, der vor allem in eher ländlichen Gegenden dazu führt, dass Parallelfachklassen nicht zustande kommen.
IV Akzeleration vs. Enrichment
Bevor eine Förderung durchgeführt werden kann, muss zunächst die grundsätzliche Frage geklärt werden, ob ein Akzelerations- oder Enrichmentmaßnahme genutzt werden soll. Die Beantwortung dieser Frage hängt vom Hochbegabungsverständnis ab.
Akzelerationsmaßnahmen sind eher geeignet, wenn die Begabung als ein ‚Mehr’ an spezifischen Fähigkeiten angesehen wird.
Enrichmentmaßnahmen eigen sich dann, wenn die Begabung als ‚anders’ gesehen wird. Allgemein wird davon ausgegangen, dass durch Enrichmentmaßnahmen jenen Bedürfnissen der Schüler entsprochen werden soll, die im regulären Unterricht zu kurz kommen.[8] Die so durchgeführten zusätzlichen Aufgaben sollen aber auf gar keinen Fall so gestaltet sein, dass die Schüler z. B. Zusatzaufgaben gleicher Art erhalten oder eine Hilfslehrerfunktion innerhalb der Klasse übernehmen. Geeignete Möglichkeiten im Sinne eines Enrichmentansatzes können z. B. Arbeitsgemeinschaften oder selbstständige Studien sein. Die Schüler können eigenständig arbeiten und somit ihr Wissen vertiefen.
Ich denke, dass sich eine Kombination aus Akzeleration und Enrichment am ehesten eignet, um bestmöglich auf die Bedürfnisse der (Hoch-) Begabten einzugehen. Da sich dies in vielen Schulen aber wahrscheinlich nicht ohne weiteres realisieren lassen kann, sollte man überlegen, ob es sinnvoll wäre, zumindest in Ballungsräumen (noch mehr) Spezialschulen für Begabte einzurichten.[9]
V Entscheidungshilfen für das Überspringen
Bevor entschieden wird, ob der Schüler überspringen darf oder sollte, da er geeignet erscheint, muss geklärt werden, ob der Schüler dies überhaupt möchte. Seine Meinung sollte hierbei nicht beeinflusst werden. Leider ist aber häufig so, dass v. a. Eltern meinen, eine so wichtige Entscheidung könne das Kind gar nicht treffen. An dieser Stelle sind besonders die Lehrer dazu aufgefordert, entsprechende Hilfestellungen von Schulpsychologen in Anspruch zu nehmen und in einem gemeinsamen Gespräch mit Eltern und Schüler nach einer geeigneten Lösung zu suchen.
Fällt die Entscheidung für das Überspringen aus, so kann der Schüler einen mindestens 3-wöchigen ‚Testlauf’ in der neuen Klasse machen. Während dieser Zeit sollte er intensiv beobachtet und betreut werden, sodass eine eventuelle Fehlentscheidung rechtzeitig rückgängig gemacht werden kann. Im Vorfeld sollten sowohl die alte als auch die neue Klasse über diese Entscheidung informiert werden, damit von allen Seiten Vertrauen aufgebaut werden kann.
Wie bereits erwähnt, ist ein (anfängliches) Verschlechtern der Noten kein Indiz für eine Fehlentscheidung, sondern eher normal. In den meisten Fällen wird der Schüler durch eine geeignete Betreuung rasch an seinen alten Notendurchschnitt anschließen.
VI Bewertung
Insgesamt stehe ich einigen der vorgestellten Akzelerationsansätze sehr kritisch gegenüber. Besonders die nachträgliche bzw. höhere Einschulung erscheint mir als absolut ungeeignet, da dem Kind vor allem der Prozess der Integration in die Klasse entgeht.
Das Überspringen ist vom Ansatz her eine durchaus akzeptable Methode, lässt meiner Meinung nach aber völlig außen vor, dass die Leistungsstufe des Kindes nicht einfach nur höher liegt (also statisch ist!) als bei Gleichaltrigen, sondern dass diese Kinder meist auch schneller bzw. anders lernen als andere Kinder und somit schnell wieder in die Situation geraten können, die durch das Überspringen vermieden werden sollte. Auf dieses Problem gehen meiner Ansicht nach am ehesten die Ansätze ‚Teilunterricht in höherer Klasse’, ‚D- Zug-Klassen’ und ‚Parallelfachklassen’ ein, da hier gezielt(er) mit dem ‚Problem’ umgegangen wird.
Ich finde es wirklich sehr schade, dass die D-Zug-Klassen abgeschafft wurden, weil sie von den meisten Akzelerationsformen die einzige ist, durch die das Kind die Erfahrung einer Nicht-Einzigartigkeit machen kann. Zudem wird hierbei für alle Fächer ein spezieller Lehrplan angewendet, der auf das Lerntempo und Leistungsniveau der (Hoch-) Begabten zugeschnitten ist.
Abschließend möchte ich - wie bereits angedeutet - festhalten, dass es eine wirklich ‚optimale’ Form der Begabtenförderung nur dann geben kann, wenn Akzelerations- und Enrichmentansätze kombiniert angewendet werden. So kann zum einen dem schnelleren Lernen als auch dem breiten Interesse genüge getan werden. Nur so kann man meiner Ansicht nach Begabung fördern und Begeisterungsvermögen dauerhaft beibehalten.
Quellenangaben
Literatur:
FELS, C.: Identifizierung und Förderung Hochbegabter in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland. Bern : Verlag Paul Haupt, 1999 (Bd. 2)
AUZINGER, K.; Oswald, F.: Begabtenförderung als Enrichment und Akzeleration. In: journal für begabtenförderung, 2, 2002, S. 61 ff.
HEINBOKEL, A.: Überspringen von Klassen : Im Schulgesetz erlaubt, in der Schule kaum praktiziert. In: journal für begabtenförderung, 2, 2002, S. 4 ff.
OSWALD, F.: Das Überspringen von Jahrgangsklassen – Begabtenförderung im Schulsystem. In: journal für begabtenförderung, 2, 2002, S. 20 ff.
WEYRINGER, S.: Eine Schulklasse überspringen? : Einige Überlegungen als Hilfe bei der Entscheidungsfindung. In: journal für begabtenförderung, 2, 2002, S. 47 ff.
HOLLING, H.: Schulische Begabtenförderung in Deutschland : Evaluations-befunde zur Effektivität von Fördermaßnahmen und Darstellung der Angebote der Bundesländer. In: Begabtenförderung und Lehrerbildung. Beiträge zur Tagung des ABB e.V. in Königswinter 26.-28.10.2001, 2002, S. 131 ff.
Internet:
Statisches Landesamt (http://www.statistik-berlin.de/framesets/daba.htm)
[...]
[1] Definition nach HEINBOKEL
[2] ebd.
[3] Definition nach FELDHUSEN
[4] STAMM, 1992
[5] FELS, C. Seite 179
[6] ebd., Seite 181
[7] ebd., Seite 188
[8] FELDHUSEN & JARWAN 1993
[9] Im Jahr 2002 gab es in Berlin 167.772 Grundschüler/-innen. Wenn man davon ausgeht, dass etwa 2% (also rund 3.400)dieser Kinder gefördert werden müssten, so zeigt dies, dass die Einrichtung solcher Schulen durchaus gerechtfertigt sein dürfte.
Quellen: HEINBOKEL 1988; http://www.statistik-berlin.de/framesets/daba.htm
- Arbeit zitieren
- Melanie Gleisberg (Autor:in), 2003, Begabungen erkennen und fördern (Akzelerationsmaßnahmen), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108234