Inhaltsverzeichnis
Prolog
- Eingrenzung des Themas und Absicht
a Aufgabenverteilung und Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft Athens zur Zeit der Klassik
X Geschlechtsspezifische Theorien hippokratischer Ärzte
β Wechselwirkung zwischen Geschlechterordnung und medizinischen Theorien
Epilog
- Bezug zur Gegenwart
Literaturliste
Prolog
In meiner Hausarbeit zum Proseminar „Geschichte der Frauen im antiken Griechenland“ möchte ich die Geschlechterordnung im Bürgertum Athens zur Zeit der Klassik (~ 450 – 330 v. Chr.) sowie die medizinischen Theorien des in dieser Zeit entstandenen „Corpus Hippocraticum“ zu Geschlechterdifferenz, Funktionen des gesunden Frauenkörpers und zu Frauenkrankheiten darstellen. Anschließend möchte ich an diesem Beispiel aufzeigen, wie geschlechtsspezifische Gesellschaftsordnung und Naturwissenschaft sich gegenseitig beeinflussen und legitimieren.
Das klassische Griechenland halte ich in diesem Zusammenhang für besonders interessant, da es allgemein als „Wiege Europas“ bezeichnet wird. Die dort in dieser Zeit entstehenden Ideen in Philosophie, Kunst und Wissenschaft beeinflussen die westliche Welt bis heute. Die von den Ärzten der Hippokratischen Schriften entwickelte Humoraltheorie behält in erweiterter Form Gültigkeit in der Medizin bis in die Neuzeit, teilweise sogar noch darüber hinaus.[1] Eine Renaissance der griechischen Klassik gibt es insbesondere auch im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, in dessen Bürgertum die (teilweise) noch bis heute gültige „klassische Rollenverteilung“ zwischen Mann und Frau verstärkt wird.
a Aufgabenverteilung und Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft Athens zur Zeit der Klassik
„Männer und Frauen führten in Athen ein völlig verschiedenes Leben, und am meisten wissen wir natürlich wieder über das der Männer, so daß es beinahe am einfachsten wäre, die Aktivitäten der Männer zu beschreiben und schlicht festzustellen, dass sie den Frauen fast alle verwehrt blieben.“ [2]
Das Leben von Männern und Frauen im klassischen Athen ist geprägt durch die starke Trennung von polis – von Staat, bzw. öffentlichem Raum - und oikos – Familie, Haushalt, also privatem Raum - und einer Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern, die Männern den öffentlichen und Frauen den privaten Raum zuweist. Nur Männer können Bürger sein und haben die damit verbundenen Rechte im öffentlichen Leben; Frauen sind nicht „Bürgerinnen“ sondern Mütter, Ehefrauen und Töchter von Bürgern und führen ein zurückgezogenes Leben im Hause (des Vaters, Mannes).
Xenophon (Historiker und Philosoph aus Athen, 430/425 – 355 v.Chr.)[3] beschreibt in seiner Schrift Oikonomikos das Ideal dieser Ordnung. Gemeinsame Aufgabe von Mann und Frau sei die Kinderzeugung zur Fortführung der Gesellschaft und der individuellen Existenz sowie zum Zweck der Altersvorsorge und damit verbunden die Gründung eines oikos. Die natürliche Ordnung sehe für den Mann die Tätigkeiten außerhalb des oikos vor: Feldarbeit, Schutz- und Ordnungsfunktionen, für die Frau dagegen die Tätigkeiten innerhalb des oikos: die Versorgung der Kinder, die Zubereitung der Nahrung und die Verarbeitung der Wolle.[4]
In der Praxis sieht die geschlechtsbedingte Verteilung der Rechte und Aufgaben aus wie folgt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Aufgabe der Bürger ist der Aufbau, die Erhaltung und der Schutz der polis sowie die materielle Versorgung des oikos und dessen Vertretung nach außen. Alle Ämter in Politik, Verwaltung und Rechtsprechung werden von Männern bekleidet; durch ihren Kriegsdienst gewährleisten sie den Schutz der polis nach außen. Die materielle Versorgung des oikos erfolgt durch die Verwaltung der landwirtschaftlichen Güter, durch Handel oder durch die Bekleidung von (bezahlten) Staatsämtern.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Hauptaufgaben der Frauen sind die Führung des – teilweise sehr großen – Haushaltes sowie die Sorge für den Nachwuchs – d.h. Geburt möglichst mindestens eines Sohnes - sowie Pflege und Erziehung der kleinen Kinder und der Töchter.
In den reichen Bürgerfamilien werden sie dabei von zahlreichen Sklavinnen unterstützt. Innerhalb des Hauses haben sie in der Regel eine geachtete Stellung.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Nur Athener Bürger haben das aktive und passive Wahlrecht in den Bürgerversammlungen und können Ämter in Politik, Rechtsprechung und der gehobenen Verwaltung bekleiden. Diese Bürgerrechte sind Männern vorbehalten, die Söhne eines Athener Bürgers und dessen rechtmäßiger Frau, die wiederum Tochter eines Athener Bürgers sein muss, sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Das Erbrecht ist patrilinear, d.h. Söhne erben den Besitz des Vaters; ist kein Sohn vorhanden, geht der Besitz des Vaters über die Tochter in den Besitz deren Ehemannes über. Um den Besitz in der Familie zu halten, werden „Erbtöchter“ daher oft mit nahen Verwandten verheiratet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Frauen haben – wie Sklaven und „Fremde“ (Männer, die nicht von Athener Bürgern abstammen) - keine Bürgerrechte.
In allen öffentlichen Belangen, z.B. vor Gericht, wird eine Frau durch einen kyrios („Herr“ = Vormund) vertreten. Kyrios ist zunächst ihr Vater, nach der Heirat ihr Ehemann, sind diese verstorben, übernimmt ein naher Verwandter diese Aufgabe.[5]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Frauen erhalten bei ihrer Heirat eine Mitgift, die in der Regel in den Besitz des Ehemannes übergeht. Im Falle des Todes des Ehemannes vor seiner Frau in einer kinderlosen Ehe sowie einer Scheidung geht sie jedoch, zusammen mit der Frau, zurück in den väterlichen Besitz.[6]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Jungen erhalten eine intensive Vorbereitung auf die Aufgaben in Staat und Gesellschaft, sie werden zum Bürger und Krieger erzogen. Die kulturelle Bildung und Initiation erfolgt durch angesehene Männer außerhalb der Familie, die berufliche Ausbildung in der Regel durch den Vater. Mit 18 Jahren wird ein zweijähriger Militärdienst geleistet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Die Erziehung und Ausbildung von Mädchen ist auf ihre späteren Aufgaben als Ehefrau, Haushaltsvorstand und Mutter ausgerichtet und beschränkt. Sie erfolgt in der Regel durch die Mutter und weibliche Verwandte im Hause.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Homoerotische Praktiken zwischen Männern scheinen üblich zu sein, darauf weisen zahlreiche Vasenabbildungen hin. Insbesondere die Knabenliebe (die Liebe des erwachsenen Mannes zu seinem Schüler) ist überliefert und gesellschaftlich geachtet.[7]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Die Existenz lesbischer Beziehungen lässt sich nicht durch zuverlässige Zeugnisse belegen.[8]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Männer heiraten in der Regel mit etwa 30 Jahren.[9]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Junge Frauen werden in der Regel mit etwa 14 Jahren verheiratet. Dabei wird zwischen kyrios und Ehemann eine Vereinbarung getroffen, in der der Status der jungen Frau als Tochter eines Athener Bürgers bestätigt und die Mitgift festgelegt wird.[10]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Nur Männer können am Fleischopfer und dem sich anschließenden Mahl teilnehmen, welches die Übereinstimmung der Menschen mit den Göttern bekundet und deren Gemeinschaft erneuert.[11]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Frauen spielen eine wichtige Rolle in kultischen Handlungen im Hause, besonders bei Ritualen, die Geburt und Tod betreffen. Außerdem nehmen sie an bestimmten religiösen Festen der Stadt teil, z.B. an den Thesmophorien, und haben einige bedeutende Ämter als Priesterinnen inne, z.B. das der Priesterin der Athena Polias, das wichtigste Priesteramt der Stadt.[12]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Der Beruf des Arztes ist in der Regel Männern vorbehalten. Der Arztberuf wird traditionell in bestimmten Familien (bevorzugt in Familien, die ihre Herkunft auf den Heilgott Asklepios zurückführen) vom Vater an den Sohn weitergegeben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Frauen sind als Heilkundige, vornehmlich in der Familie tätig. Die ihnen zugeschriebene Nähe zu den Grenzbereichen des menschlichen Lebens (Geburt und Tod) öffnen ihnen wichtige Funktionen in der häufig stark mit religiösen Bräuchen und magischen Praktiken durchsetzten Heilkunde. Es gibt jedoch auch Frauen, die als Hebammen und Frauenärztinnen arbeiten.[13]
Verbunden mit der starken Differenzierung der Funktionen (Tätigkeits- und Aufgabenbereiche) ist die geschlechtsspezifische Verteilung der Macht. Männer bestimmen die Politik, sprechen Recht, fällen Entschlüsse und halten damit alle entscheidenden Machtpositionen der Gesellschaft in ihren Händen. Frauen sind abhängig von den Entscheidungen der Männer, die natürlich auch ins Private hineinreichen, wenn man nur z.B. an Entscheidungen über Krieg und Frieden denkt.
„Der oikos ist der Bereich der Frauen: Was dort geschieht, geschieht unter ihrer Aufsicht. Da aber der oikos sich dem gesellschaftlichen Leben nicht entziehen kann, sondern vielmehr seinen Regeln gehorcht, ist es das Gesetz des Mannes, das letztlich auch dort regiert und die Vorgänge bestimmt.“[14]
Zusätzlich abhängig sind Frauen von den Männern durch ihre Rechtlosigkeit im öffentlichen Raum – sie benötigen stets einen kyrios – und durch ihre materielle Abhängigkeit vom Einkommen des Mannes. Durch den großen Altersunterschied zwischen Mann und Frau in der Ehe und die bessere Ausbildung der Männer ergibt sich wohl in den meisten Fällen eine weitere Überlegenheit des Mannes. Hinzu kommt der unsichere Status, den Frauen in der Ehe bis zur Geburt des ersten (möglichst männlichen) Kindes oder beim Tod des Ehemannes haben: bringt die Frau keine Kinder zur Welt, kann die Ehe geschieden werden. Die Frau kehrt dann in die väterliche Familie zurück und der Mann hat die Möglichkeit, mit einer anderen Frau für seine Nachkommen zu sorgen; stirbt der Mann, geht die Frau ebenfalls zurück in das väterliche Haus und kann neu verheiratet werden, was besonders erfolgsversprechend ist, wenn sie bereits Kinder geboren hat (die im Übrigen im Hause des verstorbenen Ehemannes bleiben), da sie dann als fruchtbar gilt.[15]
β Geschlechtsspezifische Theorien hippokratischer Ärzte
Die medizinische Sicht auf den Körper von Mann und Frau im Athen der Klassik ermöglichen uns die Hippokratischen Schriften, das Corpus Hippocraticum. Dies ist eine Sammlung medizinischer Abhandlungen, die den Namen des bedeutenden griechischen Arztes Hippokrates (etwa 460 – 380 v.Chr.) trägt, jedoch von verschiedenen Ärzten des 5. bis 3. Jahrhunderts v.Chr. geschrieben worden ist. Ihnen gemeinsam ist, dass sie Gesundheit und Krankheit des Menschen nicht mehr als Wohlwollen bzw. Strafe der Götter ansehen (und damit Heilung durch Opfergaben und kultische Handlungen erreicht oder unterstützt werden können), sondern als Störungen der natürlichen Funktionen des menschlichen Körpers.
Gesund ist nach ihren Theorien ein Mensch, dessen Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle in der richtigen Menge vorhanden sind, in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und gut gemischt sind (Humoraltheorie). „In der hippokratischen Medizin herrscht die Vorstellung, daß, wenn etwa ein Saft im Übermaß im Körper vorhanden ist, dieses Übermaß zu einer Ansammlung an einer bestimmten Stelle führt, dort Schmerzen, Druck und andere Symptome hervorgerufen werden. Die Therapie muß nun die Überfüllung beseitigen und wieder ein Gleichgewicht herstellen, indem sie eine Diät oder auch bestimmte Medikamente benutzt, die zur Entleerung und Ausscheidung führen.“[16] Regionen von Trockenheit oder Feuchtigkeit im menschlichen Körper deuten auf Anzeichen oder Ursachen von Gesundheitsstörungen hin.
Eine zusammenhängende Anatomie des männlichen oder weiblichen Körpers ist in den hippokratischen Schriften nicht zu finden. Offensichtlich gibt es – auch infolge der herrschenden Ablehnung von Sektionen – nur unklare Vorstellungen von den inneren Organen und so auch von den inneren Sexualorganen der Frau. Das Vorhandensein des Uterus ist aber bekannt – er wird in der Regel als ein Organ, das einem nach unten offenen Gefäß ähnelt, dargestellt – und ihm wird eine besondere Bedeutung für die Gesundheit der Frau beigemessen. (siehe S. 9)
Entscheidend für die Geschlechterdifferenz sind aber nicht die Sexualorgane. Entsprechend ihrer Humoraltheorie sehen die hippokratischen Ärzte den fundamentalen Unterschied zwischen Männern und Frauen in der unterschiedlichen Feuchtigkeit ihrer Körper, bzw. in der voneinander abweichenden Möglichkeit, das Gleichgewicht zwischen den Körpersäften herzustellen:
„ 11 Es verhält sich aber so, wie es von mir früher gesagt worden ist: Ich behaupte, daß die Frau von poröserem Fleisch und zarter ist, als der Mann. 12 Und da dies so ist, zieht der Körper der Frau die Feuchtigkeit schneller und in größerer Menge aus dem Bauch als der des Mannes. ... 15 So auch die Frau: Da sie poröser ist, zieht sie mehr und schneller als der Mann von der Flüssigkeit aus dem Bauch in ihren Körper hinein, und da sie von zarterem Fleisch ist, entstehen der Frau Beschwerden, wenn sich ihr Körper mit Blut angefüllt hat und dieses nicht wieder aus ihm herausgeht, da sich ihr Fleisch anfüllt und erwärmt. 16 Die Frau hat nämlich wärmeres Blut und ist deshalb wärmer als der Mann. ... 17 Der Mann aber, von festerem Fleische als die Frau, wird nicht in einem solchen Ausmaß von Blut überfüllt, ... 18 und er zieht nur soviel an, wie für die Ernährung des Körpers nötig ist; und da sein Körper nicht weich ist, erleidet er keine übermäßige Spannung, noch wird er von Überfüllung erwärmt, wie der der Frau. 19 Eine bedeutende Rolle spielt beim Mann auch die Tatsache, dass er mehr arbeitet als die Frau; denn die Arbeit schafft einen beträchtlichen Teil der Flüssigkeit weg.“[17]
Das Menstrualblut ist Hinweis auf die größere Feuchtigkeit der Frau und damit ein Beleg für die Unterschiedlichkeit männlicher und weiblicher Körper. Wesentliche Funktion des Uterus ist die des Ausscheidungsorgans der vermehrten Flüssigkeit im Körper der Frau.
Auf der Grundlage dieser Theorie sind Menstruation, Geschlechtsverkehr und das Gebären eines Kindes wichtig für die Gesunderhaltung der Frau: Die monatliche Blutung beseitigt den Überschuss an Flüssigkeit (Blut) in ihrem Körper, eine Schwangerschaft weitet ihren Körper und macht ihn durchlässiger für den Menstruationsfluss, der erste Geschlechtsverkehr einer jungen Frau öffnet ihren Körper (Uterus), die Samenflüssigkeit des Mannes sorgt für ein Befeuchten der durch die Regelblutung ausgetrockneten Gebärmutter.
Das Einsetzen der Regelblutung und deren geregelter Ablauf bekommt eine besondere Bedeutung. Mit der ersten Menstruation wird um das 14. Lebensjahr herum gerechnet. In diesem Alter werden die meisten jungen Mädchen verheiratet, oft auch schon bevor die erste Blutung eingesetzt hat. Ihr Ausbleiben zum erwarteten Zeitpunkt gilt als Hinweis darauf, dass das Menstruationsblut sich zwar gebildet hat, aber nicht austreten kann, da es im Körper eingeschlossen ist. So wird empfohlen, dass ein Mädchen mit dem Eintreten der Pubertät verheiratet (und damit entjungfert) wird. Die Gefäße des weiblichen Körpers und damit auch die Öffnung des Gebärmuttermundes würden durch die Erwärmung während des Geschlechtsverkehrs erweitert. Das Vorhandensein eines Hymens ist wahrscheinlich nicht bekannt und seine Verletzung und das dabei entstehende Blut ist wohl mit erstem Menstruationsblut verwechselt worden.[18]
„Hysterische Anfälle“, das heißt Krankheitsbilder bei Frauen, die epileptischen Anfällen ähneln (Atemnot, verdrehte Augen), werden von hippokratischen Ärzten auf ein Verlagern der Gebärmutter zurückgeführt. „ 3 Sie [die Gebärmutter] hat nämlich einen freien Raum zur Verfügung, so daß sie sich drehen kann, da der Bauch leer ist. Indem sie sich aber dreht, stößt sie gegen die Leber und kommt mit ihr zusammen, und sie trifft auf den Oberbauch ... . 4... Nachdem sie aber gegen die Leber gestoßen ist, verursacht sie plötzlich einen Erstickungsanfall, indem sie die Luftzufuhr in Bereich des Bauches absperrt. ...“. „Das geschieht am häufigsten bei Frauen, die nicht mit Männern verkehren.“[19] Nach dieser Theorie wird die Gesundheit der Frau durch regelmäßigen Geschlechtsverkehr gefördert. Das zeigt sich auch noch einmal besonders deutlich in folgendem Abschnitt: „ 3 Weiter gilt noch folgendes für die Frauen: Wenn sie Geschlechtsverkehr mit Männern haben, sind sie gesünder; wenn nicht sind sie weniger gesund. Denn zugleich mit dem Verkehr wird die Gebärmutter feucht, und nicht trocken; ist sie aber mehr als normal trocken, zieht sie sich stark zusammen; wenn sie sich aber stark zusammenzieht, bereitet sie dem Körper Beschwerden. Zugleich aber macht der Verkehr das Blut warm und feucht und schafft dadurch einen leichteren Weg für das Menstruationsblut; wenn das Menstruationsblut aber nicht abfließt, so erkrankt der Körper der Frauen; ...“.[20]
Weiterhin tragen Schwangerschaften zur Gesundheit der Frau bei: „Folgendes zu den Frauenkrankheiten: Ich behaupte, daß eine Frau, die noch nicht geboren hat, schwerer und schneller von den Menses her krank wird, als eine, die geboren hat. Nachdem sie nämlich geboren hat, sind ihre Adern durchlässiger für den Menstruationsfluß, durchgängig aber macht sie die Wochenreinigung. ... 4 nachdem aber der Körper schlaff geworden ist, ist es eine Notwendigkeit, daß die Adern sich weiter öffnen und durchgängiger werden für den Menstruationsfluß, und daß auch die Gebärmutter offener wird, da das Kind durch sie hindurchgeht und dabei mit Gewalt Schmerzen erzeugt. ... 10 und weil die Gebärmutter weniger geöffnet ist, fließt bei ihr das Regelblut unter mehr Beschwerden, und es kommt zu vermehrten Leiden, so daß die Menses abgesperrt werden, wenn sie noch nicht geboren hat.“[21]
X Wechselwirkung zwischen Geschlechterordnung und medizinischen Theorien
Zwei wichtige Philosophen haben unterschiedliche Geschlechtermodelle im Griechenland des 4. Jahrhunderts v. Chr. entwickelt: Platon stellt in „Politeia“ eine Utopie vor, in der er von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit von Mann und Frau ausgeht und eine weitgehende soziale und politische Gleichstellung fordert. Aristoteles sieht dagegen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Mann und Frau. „Der Mann besitzt nach Aristoteles die Areté, die Tugend des von Natur Herrschenden, des Besseren, der Frau hingegen kommt die Areté des von Natur Dienenden und Schlechteren zu.“[22] Orientiert am männlichen Idealmodell wird die Frau als mangelhaft und unvollkommen dargestellt, als „verunglückter Mann“. Damit stabilisiert Aristoteles die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung. Im Gegensatz zu Platons Utopie, die gesellschaftlich fast völlig unwirksam bleibt, ist die Aristotelische Theorie lange Zeit Grundlage für die Minderbewertung der Frau.[23]
Aber nicht nur philosophische, gesellschaftstheoretische Schriften untermauern die Geschlechterordnung in der Athener Gesellschaft. Auch die Medizin der hippokratischen Ärzte ist einerseits geprägt durch die Vorstellungen ihres Umfeldes und unterstützt andererseits durch ihre Lehren die herrschende Aufgabenverteilung und die gegebenen Machtverhältnisse im Athener Bürgertum.
Wie zu Beginn dargestellt reduziert die Gesellschaftsordnung Athens die Aufgabenbereiche der Frauen auf die Reproduktionsarbeit, d. h. auf Tätigkeiten innerhalb des oikos und auf die Geburt von Kindern. Gleichzeitig macht sie sie politisch, rechtlich und materiell abhängig vom Mann.
Die hippokratische Medizin übernimmt in ihren Theorien sowohl die herrschenden Vorstellungen der geschlechtsspezifischen Verteilung von Aufgaben und Macht. Nur als Ehefrau und Mutter kann die Frau gesund sein, ebenso nur in ihrer Abhängigkeit vom Mann, der für die erste Menstruation sorgt, für die Stabilität des Uterus durch regelmäßigen Geschlechtsverkehr und in Folge für den weiblichen Körper gesunderhaltende Schwangerschaften. (Nicht beachtet wird dabei die hohe Sterblichkeit von Frauen im Wochenbett.) Der Mann wird zum Therapeuten eines kranken, unvollkommenen Körpers.[24]
Der Körper der Frau ist nicht autonom, gesund ist er nur in Abhängigkeit vom sexuellen Verkehr mit einem Mann.
Auch wenn in den Theorien der hippokratischen Ärzte Mann und Frau (durch männlichen und weiblichen Samen) an der Zeugung eines Kindes beteiligt sind, widerspricht dies nicht, wie Michael Stein ausführt[25], der Reduktion der weiblichen Rolle auf das Leben und Wirken innerhalb des oikos und der damit verbundenen Abhängigkeit der Frau im gesellschaftlichen Leben, denn die Zeugung ist Teil dieser Reproduktionsarbeit. (In den hippokratischen Zeugungstheorien spiegelt sich jedoch die Achtung der Frau innerhalb des oikos sowie die Überzeugung von der Verbundenheit des Weiblichen mit den Vorgängen von Geburt und Tod, die sich auch in den religiösen Ritualen zeigt [siehe Seite 5 / 6].)
Die medizinischen Theorien des Corpus Hippocraticum sind aber nicht nur geprägt von der Geschlechterordnung der Zeit, sie untermauern und legitimieren auch die bestehende Ordnung. Sowohl der / die Einzelne als auch die Gesellschaft wird von den hippokratischen Ärzten darin bestätigt, wie gut und richtig, da gesunderhaltend, die bestehende Ordnung sei. Unterstützt wird die bestehende Rolle der Frau als Gattin und Mutter und so auch die Heteronormativität für Frauen. Männer und deren Gesundheit dagegen sind unabhängig, ihr Körper ist von sich aus in der Lage, seinen Feuchtigkeitshaushalt zu regulieren.
Bestehende Geschlechterverhältnisse bilden sich in der Medizin ab und medizinische Theorien untermauern diese.
Epilog
Diese Rekonstruktion bestehender Geschlechterverhältnisse durch die Medizin, als Beispiel für die Naturwissenschaften, ist kein Phänomen der griechischen Klassik. Medizinische und andere naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden vorher, in späterer Zeit und auch heute bestimmt durch gesellschaftliche Ordnungen und durch diese geprägte Vorannahmen der Wissenschaftler/innen. Wissenschaftliche Fragestellungen, Methoden und die Interpretation von Ergebnissen werden auch durch die Kategorie Geschlecht bestimmt. Die gewonnenen Erkenntnisse haben wiederum Einfluss auf die Geschlechterordnung, untermauern und legitimieren sie.
So begründet der Physiker Wilhelm Ostwald Ende des 19. Jahrhunderts seine Ablehnung der Gründung von Mädchengymnasien und des Frauenstudiums mit dem unnötig hohen Energieaufwand, der seiner Theorie von einer energetischen Ökonomie widerspricht. Er schreibt: „ ..., daß bei praktischer Anerkennung der erwähnten Teilung der Funktionen beide Geschlechter ihr Leben mit dem größten Erfolg und den geringsten Energievergeudungen, also am glücklichsten zurücklegen können.“[26] In heutiger Zeit vertreten z.B. die meisten Ärzte die Auffassung, dass Neugeborenen mit unklarer Geschlechtszugehörigkeit ein Geschlecht zugewiesen wird und entsprechende Operationen vorgenommen werden. Damit übernehmen sie die gültige gesellschaftliche Norm der Zweigeschlechtlichkeit.[27]
Notwendig ist daher eine kritische Reflexion wissenschaftlicher, auch naturwissenschaftlicher Fragestellungen und Forschungsergebnisse durch den / die Wissenschaftler/in selbst und durch die Öffentlichkeit, die auch die Kategorie Geschlecht nicht außer Acht lässt. Hinterfragt werden sollte in diesem Sinne nicht nur, wer, wann und mit welchem Hintergrund neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse gewinnt und veröffentlicht, sondern insbesondere auch, warum gerade zu dieser Fragestellung geforscht wird, warum diese Forschung (finanziell) gefördert und warum die Ergebnisse in Fachkreisen und der Öffentlichkeit akzeptiert oder nicht akzeptiert werden.[28]
Literaturliste
a. zitierte Literatur:
De genitura. In: Grensemann, Hermann (Hrsg.): Hippokratische Gynäkologie. Wiesbaden 1982.
De muliebribus C. In: Grensemann, Hermann (Hrsg.): Hippokratische Gynäkologie. Wiesbaden 1982.
Fausto-Sterling, Anne: Sexing the body. Gender politics and the construction of sexuality. New York 2000.
Garland, Robert: The greek way of life. New York 1990.
Giebel, Marion: Sappho. Reinbek 1984.
Hartmann, Elke: Heirat und Bürgerstatus in Athen. In: Späth, Thomas / Wagner-Hasel, Beate: Frauenwelten in der Antike. Stuttgart, Weimar 2000.
Hartmann, Elke: Die kyrieia. Arbeitsblatt im Proseminar „Die Geschichte der Frauen im antiken Griechenland“ an der Humboldt-Universität. Berlin, 7.1.2003.
Heinsohn, Dorit: Feministische Naturwissenschaftskritik. Eine Einführung. In: Petersen, Barbara / Mauß, Bärbel (Hrsg.): Feministische Naturwissenschaftsforschung. Mössingen-Talheim 1998.
Heinsohn, Dorit: Chemie und die Konstruktion von Geschlechterdifferenz. In: Götschel, Helene / Daduna, Hans (Hrsg.): Perspektivenwechsel. Mössingen-Talheim 2001.
Jouanna, Jaques: Die Entstehung der Heilkunst im Westen. In: Grmek, Mirko D. (Hrsg.): Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter. München 1996.
Krug, Antje: Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike. München 1984.
Lacey, W. K.: Die Familie im antiken Griechenland. Mainz 1983.
Patry, Nevenka: Der weibliche Körper in der Großplastik der griechischen Antike – Die Frau, ein “verunglückter Mann”?. Berlin 1992.
Pomeroy, Sarah B.: Frauenleben im klassischen Altertum. Stuttgart 1985.
Schiebinger, Londa: Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. 2. Auflage. Stuttgart 1993.
Schubert, Charlotte / Huttner, Ulrich (Hrsg.): Frauenmedizin in der Antike. Düsseldorf, Zürich 1999.
Sissa, Giulia: Platon, Aristoteles und der Geschlechterunterschied. In: Buby, Georges / Perrot, Michelle: Geschichte der Frauen. Band 1: Antike. Frankfurt a.M. 1997.
Stein, Michael: Die Frau in den gynäkologischen Schriften des „Corpus Hippocraticum“. In: Dettenhofer, Maria H. (Hrsg.): Reine Männersache? Frauen in den Männerdomänen der antiken Welt. Köln, Weimar, Wien 1994.
Zaidman, Louise Bruit: Die Töchter der Pandora; die Frauen in den Kulten der Polis. In: Buby, Georges / Perrot, Michelle: Geschichte der Frauen. Band 1: Antike.
Frankfurt a.M. 1997.
b. weitere Literatur zum Thema:
Dean-Jones, Lesley: Women’s Bodies in Classical Greek Science. Oxford 1994.
Hanson, Ann Ellis: The Medical Writer’s Woman. In: Halperin, D. / Winkler, J. / Zeitlin, F. (Hrsg.): Before Sexuality. The Construction of Erotic Experience in the Ancient World. Princeton 1990, S. 309 – 338.
Hippokrates: Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin. Herausgegeben von Hans Diller. Reinbek 1962.
King, Helen: Hippokrates’ Woman. Reading the Body in Ancient Greece. London 1998.
Kollesch, Jutta / Nickel, Diethard (Hrsg.): Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte. Stuttgart 1994.
[...]
[1] Vgl.: Schiebinger 1993. S. 231 – 234; sowie: Jouanna 1996. S. 80.
[2] Pomeroy 1985. S. 119.
[3] Schubert / Huttner 1999. S. 567.
[4] Ebenda. S. 481 f. Dieser Text bezieht sich auf: Xen. Oec. VII 16-26: S. 28 ff., S. 499.
[5] Vgl.: Hartmann 2003.
[6] Vgl.: Lacey 1983. S. 111 / 112; sowie: Hartmann 2000. S. 22.
[7] Vgl.: Giebel 1984. S. 47 – 50. Beispiel einer Abbildung: Bemalung einer Schale des Brygos-Malers. Oxford, Ashmolan Museum. ARV 378, 137.
[8] Vgl.: Pomeroy 1985. S. 131.
[9] Vgl.: Lacey 1983. S. 109.
[10] Vgl.: Hartmann 2000. S. 17 – 19.
[11] Vgl.: Zaidman 1997. S. 375.
[12] Vgl.: Ebenda. S. 375 f. und S. 411.
[13] Vgl.: Krug 1984. S. 195 f.
[14] Zaidman 1997. S. 414.
[15] Vgl.: Hartmann 2000. S. 22 f.
[16] Schubert / Huttner 1999. S. 448.
[17] De muliebribus C. In: Grensemann 1982. S. 89, 91.
[18] Vgl.: Schubert / Huttner 1999. S. 468. Sie beziehen sich dabei auf: De muliebribus C I, Sissa 1984 und 1990 sowie Dean-Jones 1994.
[19] De muliebribus C. In: Grensemann 1982. S. 101.
[20] De genitura. In: Grensemann 1982. S. 13.
[21] De muliebribus C. In: Grensemann 1982. S. 89.
[22] Aristoteles, Politik 1259a – 1260a. Zitiert in: Patry 1992. S. 5.
[23] Vgl.: Patry 1992. S. 5 und 6. Sie bezieht sich dabei auf: Sissa 1997. S. 67 – 102 und auf: Aristoteles. De generatione animalium 737a28 in der Übersetzung von Susanne Schunter-Kleemann, Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 1990, Bd.2.
[24] Vgl.: Garland, Robert: The greek way of life. New York 1990, S. 17.
[25] Stein 1994. S. 87 ff.
[26] Ostwald, Wilhelm: Die Frauen und die Wissenschaft. Berlin 1909. Zitiert in: Heinsohn 2001. S. 209.
[27] Vgl.: Fausto-Sterling 2000.
[28] Vgl.: Heinsohn 1998. S. 14 – 32.
- Arbeit zitieren
- Cornelia Klose-Lewerentz (Autor:in), 2003, Gesellschaftsordnung - Medizinische Theorien - Geschlechterordnung in Athen zur Zeit der Klassik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108526