Zeit als Konstrukt


Hausarbeit, 2004

27 Seiten


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 Einleitung

2 Was ist Zeit?
2.1 Verschiedene „Arten“ von Zeit
2.2 Umfrage zum Zeitverständnis
2.3 Was bedeutet „Jetzt“

3 der physikalische zeitbegriff
3.1 Die klassische Physik
3.2 Ist Zeit relativ?

4 Zeiterfahrung in der Psychologie
4.1 Zeiterfahrung und Segmentierung
4.2 Subjektives Zeiterleben
4.3 Das Konzept der Zeitperspektive
4.4 Zeitverständnis der Kulturen
4.5 Lebensalter und Zeiterleben

5 deformationen der zeit
5.1 Déjà-vu-Erlebnisse
5.2 Zeit in Psychose und Neurose

6 Diskussion

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Als ich 19 war, kaufte sich mein Kumpel Martin endlich sein ersehntes erstes Motorrad: Eine nagelneue Yamaha 500.

Ich hatte gerade meine erste Fahrstunde hinter mich gebracht und war ganz heiß darauf, die Maschine auszuprobieren. Wir fuhren zum Verkehrsübungsplatz, wo Martin abstieg und mir sein neues Spielzeug überließ.

Als ich auf der Maschine saß, ging er einige Schritte weiter und rief mir irgend etwas zu, was ich wegen des starken Windes nicht verstehen konnte. Statt ganz normal auf ihn zuzufahren und ihn zu fragen, was er wollte, stieß ich mich mit dem rechten Fuß vom Boden ab, um langsam auf ihn zuzurollen.

Dabei geriet mein Fuß zu dicht an den Reifen des Motorrads – und ich verlor das Gleichgewicht. Während ich langsam zur Seite kippte, sah ich die schöne neue Maschine schon zerkratzt und geschunden am Boden liegen.

Im Fallen versuchte ich, das Motorrad mit der linken Hand oben zu halten und mich gleichzeitig mit der rechten am Boden abzustützen.

Ich sah Martins Augen weit aufgerissen vor Schreck, registrierte dass er sich in Zeitlupe auf mich zu bewegte und zog währenddessen in aller Seelenruhe mein rechtes Bein unter der Maschine hervor. Dann landeten wir beide, die Yamaha und ich, auf dem Boden und Martin beugte sich besorgt über uns.

Das Ganze hatte sich, wie er später gerne erzählte im Bruchteil einer Sekunde abgespielt. Er hatte fürchterliche Angst gehabt, dass mein Bein von seiner Yamaha zu Brei gequetscht werden würde, vor allem deshalb, weil die Maschine nur noch wenige Zentimeter vom Boden entfernt gewesen war, als ich das Bein unter ihr hervorzog und das erste, was er mich fragte war „Wie, um Gottes Willen, hast du dein Bein so schnell da rausgekriegt?“

Die Antwort ist schnell gegeben: Während für ihn die Zeit blitzartig vergangen war, hatte sie sich für mich um ein Vielfaches verlangsamt. Im Bruchteil einer Sekunde war genügend Zeit gewesen, um über das Motorrad nachzudenken, Martins erschrockenen Gesichtsausdruck zu registrieren und dann noch zu überlegen, dass es wohl gesünder wäre, das Bein endlich unter dem Blechhaufen hervor zu ziehen.

Jeder, der schon einmal einen Unfall hatte, oder in einer bedrohlichen Situation war, kennt das: Wir erleben Situationen in Zeitlupe. Es ist, als würde sich eine einzelne Sekunde in viele kleine Einheiten aufspalten. Gleichzeitig haben wir das Gefühl, als wären diese Einheiten klar voneinander getrennt, ähnlich wie die Fotos einer Fotoserie, die einen Film ergeben würden, würde man sie nur schnell genug ablaufen lassen.

Vergeht Zeit wirklich unterschiedlich schnell oder wie kommt es zu Effekten, wie dem oben beschriebenen? Bevor wir dem Geheimnis der Zeit auf den Grund gehen, ist es sinnvoll, wenn wir uns mit einigen Definitionen beschäftigen.

2 Was ist Zeit?

2.1 Verschiedene „Arten“ von Zeit

Auf der Suche nach einer eindeutigen Erklärung des Zeitbegriffs stellen wir bald fest, dass es so etwas wie eine allgemeingültige Definition nicht gibt. Vielmehr stoßen wir auf allerlei „zeitverknüpftes“: Begriffe wie „Zeitwahrnehmung“, „Zeitablauf“, „Zeitschätzung“, „Zeiterleben“, „Zeitgedächtnis“, ja sogar „Zeitsinn“, um nur einige wenige von denen zu nennen, die einer näheren Erklärung bedürfen.

Wir finden in der Fülle der Zeitbegriffe die „physikalische“ ebenso wie die „biologische“, die „psychologische“ ebenso wie die „historische“ Zeit samt ihren jeweiligen Definitionen. Es besteht die „innere“ neben der „äußeren“ Zeit, „ausgefüllte“ neben der „leeren“ Zeit, „zyklische“ neben „linearer“ und wir finden noch Dutzende von anderen Zeitbegriffen, deren Aufzählung den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen würde.

Je tiefer wir in die Materie eindringen, desto mehr Zeitbegriffe scheinen aufzutauchen, wo einer untertaucht, recken zwei Neue die Köpfe, und schnell wird klar, dass wir uns der Angelegenheit Zug um Zug nähern müssen, wenn wir uns nicht im „Meer der Zeit“ verlieren wollen.

2.2 Umfrage zum Zeitverständnis

Was fällt den Menschen im allgemeinen ein, wenn sie das Wort „Zeit“ hören? Zu aller erst vielleicht „Ich habe viel zu wenig Zeit“, „Ich habe keine Zeit“, „Zeit ist Geld“, „man soll seine Zeit nicht verschwenden“. Zeit ist für viele ein äußerst knappes, kostbares Gut. Aussagen wie „die Zeit läuft uns davon“ oder „ich brauche mehr Zeit“, hören wir vermutlich öfter als „Lass dir Zeit!“ oder „wir haben alle Zeit der Welt“. Oft scheint es, als hätten wir in unserer modernen westlichen Welt alles, was das Herz begehrt – aber keine Zeit, es zu genießen.

Fast jeder von uns hat eine eigene Auffassung davon, was Zeit ist. Etwa um 400 u. Z. im elften Buch seiner Bekenntnisse schreibt Augustinus: „Denn was ist Zeit? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer es denkend erfassen, um es dann in Worten auszudrücken? Und doch – können wir ein Wort nennen, das uns vertrauter und bekannter wäre als die Zeit? Wir wissen genau, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, verstehen’s auch, wenn wir einen anderen davon reden hören. Was also ist Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht.“ Schon damals war das Thema Zeit so interessant, dass Augustinus ihm sein ganzes elftes Buch widmete. Daran hat sich nichts geändert.

Ich habe eine kleine Umfrage zum Thema gemacht und die Frage "Was verstehst du unter "Zeit"?" gestellt. Immerhin neunzehn Personen fanden die Frage interessant genug, sich damit zu befassen und mir teils kurze, teils überraschend ausführliche Antworten zu geben.

Beinahe alle Befragten erwähnen die Tatsache, dass sich Zeit unterschiedlich „anfühlt“, dass sie mal schnell, mal langsam zu vergehen scheint, und die meisten bringen Zeit mit Vergänglichkeit in Zusammenhang, sprechen davon, wie knapp und kostbar sie ist, dass es sie zu nutzen gelte und man einen Plan, einen Rahmen bräuchte, gewissermaßen um sie zu halten, einzuteilen, aus wenig mehr zu machen. Für manche ist Zeit ohne Anfang und ohne Ende, für manche ist sie linear, fängt mit der Geburt an und endet mit dem Tod.

Einige sprechen davon, dass man Zeit nicht fassen könne, dass sie nicht gegenständlich sei, keiner sie je gesehen hätte. Viele erinnern sich an ihre Kindheit und geben an, die Zeit sei dort langsamer vergangen, die Stunden, Tage und Jahre seien länger gewesen als heute. Es tauchen Begriffe auf, wie „zeitlos“, die Doppeldeutigkeit des Begriffs wird erklärt: zeitlos im Sinne von „keine Zeit haben“ und im Sinne von „epochenübergreifend“. Dann gibt es noch Zeit als Belohnung oder Strafe: Hat man besonders schnell gearbeitet, bleibt Zeit übrig, freie Zeit, die man nach Belieben verwenden kann, brummt der Lehrer seinem Schüler „Nachsitzen“ auf, nimmt er ihm Zeit, bestraft ihn also mit Zeitentzug. Zeit also, als Mittel der Belohnung oder Strafe.

Für manche besteht Zeit auch nur im köstlichen Gefühl des Nichtstuns, für sie ist Zeit also gleichbedeutend mit „Muße“. Andere sind der Meinung, dass Vergangenes und Zukünftiges nur in unserer Fantasie existiert und darum allein das „Jetzt“ Realität ist.

2.3 Was bedeutet „Jetzt“

Das wirft die spannende Frage auf: Was eigentlich ist das „Jetzt“? Wenn Zeit unaufhörlich fließt, wenn also das, was gerade noch Zukunft war, erst zur Gegenwart wird und gleich darauf schon Vergangenheit ist, wo befindet sich dann die unmittelbare Gegenwart? Das „Jetzt“? Ist es eine kurze Strecke oder sollten wir es eher als Punkt bezeichnen? Was genau empfinden wir als Gegenwart?

Pöppel (1989) beschäftigt sich mit der Frage, ob Gegenwart eine Dauer hat. Physikalisch gesehen, können wir das verneinen: Gegenwart kann keine Ausdehnung haben, sie ist nichts weiter als die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das „Jetzt“ müsste also ein Punkt sein, der sich an dieser Grenze gleichförmig fortbewegt und so in jedem Augenblick Vergangenes von Zukünftigem trennt.

3 der physikalische zeitbegriff – ein exkurs

3.1 Die klassische Physik

In der klassischen Physik, die auch nach Entdeckung der Relativität von Raum und Zeit fest in unseren Köpfen verankert ist, gilt Zeit als etwas Absolutes: Eindimensional fließt sie stetig dahin, überall im Universum gleich schnell. Newton beschrieb sie folgendermaßen: "Die absolute, wahre, und mathematische Zeit fließt aus sich selbst heraus und gemäß ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung zu etwas Äußerem dahin."

Nach dieser Auffassung sind Zeit und Raum unabhängig voneinander, das Zeitintervall zwischen zwei Ereignissen kann eindeutig gemessen werden, wenn nur die Uhren korrekt gehen. Während wir in unserer „Alltagsphysik“, in der sich die Dinge verhältnismäßig langsam fortbewegen, noch gut mit dieser Theorie zurechtkommen, lässt sie uns im Stich, sobald wir uns Objekten zuwenden, die sich mit (annähernd) Lichtgeschwindigkeit bewegen.

3.2 Ist Zeit relativ?

1676 entdeckte der dänische Astronom Rømer, dass Licht sich mit einer endlichen, sehr hohen Geschwindigkeit bewegt, die er damals mit 224 000 Kilometern pro Sekunde angab. Heute gehen wir von ca. 300 000 Kilometern pro Sekunde aus. Im 19. Jahrhundert nahm man an, Lichtwellen bewegten sich durch eine Substanz, der man den Namen „Äther“ gab, so wie sich Schallwellen durch die Luft bewegen. 1905 schließlich schlug ein bisher unbekannter Beamter des Eidgenössischen Patentamts Bern vor, die Vorstellung von einer absoluten Zeit aufzugeben.

Sein Name war Albert Einstein und die Theorie, die er postulierte, wurde als Relativitätstheorie bekannt und machte die Vorstellung von einem „Äther“, dessen Existenz sowieso niemand nachweisen konnte, überflüssig. Einstein ging davon aus, dass wir in unserem Universum erstens nur relative Bewegungen feststellen können, nämlich die Bewegung eines Körpers in bezug auf einen zweiten, und zweitens, dass sich Licht stets mit der gleichen Geschwindigkeit fortbewegt, unabhängig sowohl vom Bewegungszustand des emittierenden Körpers als auch vom Bewegungszustand des „beobachtenden“ Körpers. Alle Beobachter messen die gleiche Geschwindigkeit des Lichts, egal, wo sie sich befinden und wie sie sich bewegen.

Ein faszinierender und nicht leicht zu verstehender Gedanke. Wenn wir beispielsweise am Flughafen auf einem Rollband laufen, addiert sich unsere Laufgeschwindigkeit mit der Geschwindigkeit des Rollbands. Fährt aber ein Auto mit angeschaltetem Licht, addieren sich nicht Fahrzeuggeschwindigkeit und Geschwindigkeit des ausgestrahlten Lichts. Gemäß der Relativitätstheorie kann sich nichts schneller fortbewegen als Licht. Lichtgeschwindigkeit ist also die Höchstgeschwindigkeit im Universum.

Nach der Formel E = mc2 (E = Energie, m = Masse, c = Lichtgeschwindigkeit) sind Energie und Masse äquivalent. Je mehr ein Objekt sich der Lichtgeschwindigkeit nähert, desto rascher wächst seine Masse und die Energie, die benötigt wird, es noch weiter zu beschleunigen, steigert sich ins unendliche, so dass kein Objekt, das eine Ruhemasse besitzt, sich jemals mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten kann.

Da Licht in der gleichen Zeit auch immer die gleiche Entfernung zurücklegt, können wir Längen in Lichtsekunden messen oder sehr große Längen in Lichtjahren. Eine Lichtsekunde wird definiert als die Entfernung, die Licht in einer Sekunde zurücklegt. Wir sehen hier die Verbindung von Raum (Entfernung) und Zeit (Sekunde), die sich in der Relativitätstheorie zu einer Entität, der Raumzeit, verbinden.

Wie wir schon wissen, bleibt die Lichtgeschwindigkeit konstant, unabhängig von der Geschwindigkeit der aussendenden Quelle. Dieser Tatsache entnehmen wir, dass sich ein Lichtpuls, der zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ausgesendet wird, in Form einer Lichtkugel ausbreitet, deren Größe und Form unabhängig von der Geschwindigkeit des emittierenden Körpers sind. Der Radius der Kugel vergrößert sich mit der Entfernung von der Quelle, wie Wellen, wenn man einen Stein ins Wasser geworfen hat. Machen wir nun Momentaufnahmen von den Wellen nach einer, zwei, drei Sekunden und schichten sie in einem Diagramm übereinander, ergibt sich eine Kegelform, wobei die Spitze des Kegels Ort und Zeit des Aufpralls auf das Wasser darstellt. Genauso können wir uns das für die Ausbreitung des Lichts vorstellen.

In Abbildung 1 bezeichnet die 0 ein Ereignis. Das von diesem Ereignis ausgehende Licht breitet sich kegelförmig (nach oben) in die Zukunft aus.

Ein zweiter Kegel (nach unten) bezeichnet die Gesamtheit der Ereignisse, in der Vergangenheit, von denen aus ein Lichtpuls das Ereignis 0 erreichen kann (Hawking, 2001).

Drei Regionen umgeben den Raum-Zeit-Punkt 0: Ereignisse aus der Vergangenheit (Punkt 2) können den Punkt 0 beeinflussen. Ein Objekt oder Signal kann von einem Punkt dieser Region durch Bewegung mit einer Geschwindigkeit, die geringer als Lichtgeschwindigkeit ist, zum Ereignis 0 gelangen.

Ein Objekt P befindet sich auf dem gleichen Raumpunkt wie 0 – in der Vergangenheit. Was hier geschah, beeinflusst 0 jetzt. Für ein Objekt Q gilt das gleiche, wie für P: Es kann durch Bewegung, langsamer als Lichtgeschwindigkeit, zu dem Punkt 0 gelangen. Wir könnten in einem anderen Koordinatensystem die Zeitachse auch durch Q und 0 legen. Region 2 ist somit der Ort aller Ereignisse, die den Punkt 0 irgendwie beeinflussen können.

Region 3 wiederum ist die Welt, die wir von 0 aus beeinflussen können. Wir können zum Beispiel Dinge treffen, wenn wir jetzt ein Geschoss mit einer Geschwindigkeit geringer als Lichtgeschwindigkeit abschießen.

Den Rest der Raum-Zeit (Region 1) können wir weder jetzt von 0 aus beeinflussen, noch kann sie uns jetzt in 0 beeinflussen, weil sich nichts schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen kann.

Allerdings können uns Dinge, die sich in R ereignen, später beeinflussen (Feynman, Leighton & Sands, 2001). Nehmen wir zum Beispiel an, die Sonne würde erlöschen (Abbildung 2):

Weil wir uns nicht im Zukunftslichtkegel der Sonne befinden, wirkt sich dieses Ereignis nicht sofort auf uns aus.

Erst nach Ablauf der Zeit, die das Licht braucht, um von der Sonne zur Erde zu gelangen (nämlich acht Minuten), liegen die Ereignisse auf der Erde im Zukunftslichtkegel des Ereignisses „Die Sonne erlischt“ (Hawking, 2001).

Nun aber zurück zur Psychologie. Hier geht es nicht so sehr darum, was Zeit im physikalischen Sinne ist, sondern vielmehr um die Art, wie wir Menschen Zeit „erfahren“.

4 Zeiterfahrung in der Psychologie

4.1 Zeiterfahrung und Segmentierung

Sicher würde niemand auf die Idee kommen, die Gegenwart als punktuelles Ereignis zu begreifen. Schon eher entspricht sie in unserer Wahrnehmung einem mehr oder weniger kurzen Zeit“abschnitt“ oder einer Strecke. Etwas mit einer gewissen Ausdehnung also. Die Frage bleibt, ob und wenn ja wie wir diese Ausdehnung messen können.

Pöppel (1989) geht davon aus, dass die grundlegendste Zeiterfahrung die der Gleichzeitigkeit ist. Damit wir Ereignisse als nicht gleichzeitig erfahren können, muss eine zeitliche Grenze zwischen ihnen überschritten werden.

Man hat experimentell festgestellt, dass die Ungleichzeitigkeit von Ereignissen an die Funktionsweise unserer Sinnesorgane gekoppelt ist. Beim Hören liegt die zeitliche Grenze, bei der man zwei Reize als voneinander getrennt wahrnimmt, bei etwas mehr als drei Tausendstelsekunden. Merkwürdigerweise sind wir allerdings nicht in der Lage, zwei so kurz aufeinanderfolgende Reize in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen, was bedeutet, dass wir, obwohl wir die Reize als voneinander getrennt wahrnehmen, nicht sagen können, welcher von ihnen zuerst unser Bewusstsein erreicht.

Diese Reihenfolge können wir erst angeben, wenn das Intervall zwischen den beiden Reizen etwa 30 Tausendstelsekunden beträgt. Beim Hören gibt es also eine Fusionsschwelle von drei und eine Ordnungsschwelle von 30 Tausendstelsekunden.

Der visuelle Sinn ist um einiges träger, und hier liegt die Fusionsschwelle bei circa 20 – 25 Tausendstelsekunden, während die Ordnungsschwelle bei 30 Tausendstelsekunden überschritten wird. Interessanterweise liegt auch beim Tastsinn die Ordnungsschwelle in diesem Bereich. Daraus schließen wir, dass die Umwandlung physikalischer Reize in „Gehirnsprache“ im Fall der zeitlichen Ordnung in den drei genannten Sinnessystemen durch einen einheitlichen Mechanismus erfolgt.

Für den Übergang von Gleichzeitigkeit zu Ungleichzeitigkeit benötigen wir einen anderen Mechanismus als für den Übergang von Ungleichzeitigkeit zur zeitlichen Folge. Dass wir zuerst die Ungleichzeitigkeit erkennen und dann die jeweilige Reihenfolge angeben können, lässt auf einen hierarchischen Aufbau der zeitlichen Erfahrung schließen.

Unser Gehirn braucht etwa 30 Tausendstelsekunden um ein Ereignis festzuhalten. Erst danach können wir dieses Ereignis auch zeitlich einordnen. Reize, die schneller aufeinanderfolgen, werden zu einem Ereignis zusammengefasst, können also nicht mehr getrennt verarbeitet werden.

Es schließt sich noch ein dritter Mechanismus an, dessen Aufgabe darin besteht, aus den zeitlich eingeordneten Ereignissen nunmehr sogenannte „Wahrnehmungsgestalten“ zu formen. Zahlreiche Experimente weisen darauf hin, dass die Integration aufeinanderfolgender Ereignisse zu eben diesen „Wahrnehmungsgestalten“ innerhalb einer zeitlichen Grenze von drei Sekunden erfolgt.

Ein leicht nachzuvollziehendes Beispiel finden wir in der gesprochenen Sprache: Auch hier macht der Sprecher alle zwei bis vier Sekunden eine Pause. Die Sprache wird segmentiert und erhält so ihren Rhythmus. In der Psychologie wird nun der Vorschlag gemacht, das als „gegenwärtig“ zu definieren, was in jenes Dreisekundenintervall fällt, das also, „was uns jeweils für wenige Sekunden mental verfügbar ist“ (Pöppel, 1989).

Auch in unseren Bewegungen finden wir die, wie Pöppel sie nennt, 3-Sekunden-Gegenwart. Wenn man eine Bewegung mit hoher zeitlicher Präzision ausführen will, kann man sie nur etwa 3 Sekunden vorausplanen. Wenn wir jemandem die Hand reichen, ziehen wir sie automatisch innerhalb dieser 3 Sekunden wieder zurück. Tun wir dies nicht, ist unser Handschlag mit besonderen Emotionen verbunden (Pöppel, 1998).

Warum scheint trotz dieser erwiesenen Segmentierung die Zeit zu fließen ? Woher kommt dieses Gefühl der Kontinuität? Pöppel erklärt diese Tatsache damit, dass die Bewusstseinsinhalte der verschiedenen Zeitfenster semantisch miteinander verknüpft sind. Da wir uns primär mit Inhalten beschäftigen, fällt uns die formale Struktur unseres zeitlichen Erlebens (die Segmentierung) gar nicht auf.

In der Psychiatrie stoßen wir in diesem Zusammenhang auf ein interessantes pathologisches Phänomen: Die Diskontinuität des Erlebens bei manchen Schizophrenen. Diese Patienten sind nicht in der Lage, Erlebtes semantisch zu verknüpfen. Einzelne Bewusstseinsinseln liegen dann gleichsam „isoliert in der Zeit“ (Pöppel 1989).

4.2 Subjektives Zeiterleben

Payk (1989) schlägt vor, zeitliche Abläufe beim Menschen topologisch in einen „rezeptiven“ Bereich, „gekennzeichnet durch Zeiterleben und Zeiterfahrung“ und in einen „registrativen“, speichernden Bereich, „in dem Zeitbewusstsein, Zeitsinn und Zeitgedächtnis zu lokalisieren wären“, aufzugliedern, wobei beide mit einem „projektiven“ Bereich verbunden sind, der die Leistungen Zeitschätzung und Zeitvorstellung erbringt. Der Zeitsinn ist hier allerdings nicht mit den anderen „Sinnen“, über die ein Mensch verfügt, zu vergleichen, sondern schlicht als „Voraussetzung für alle Vorgänge zeitlicher Wahrnehmung“ anzusehen.

Wie Zeitabschnitte subjektiv erlebt werden, spiegelt sich im „Zeiterleben“ wieder. Vergangenes wird mit Zukünftigem über die Gegenwart verknüpft, wobei die, das jeweilig Erlebte begleitenden Gefühle einen gewissen Einfluss auf das Empfinden von Dauer haben. Diese Zeiterfahrung wiederum bildet die Grundlage für unsere Zeitvorstellung. Durch das Erleben von Änderungen wird Zeit wahrgenommen, jedes Ereignis wird von seiner ihm eigenen Zeitempfindung begleitet.

4.3 Das Konzept der Zeitperspektive

Während die Gegenwart in der Psychologie schon immer Thema war – um 1900 sprach man von der „Präsenzzeit“- trat in den Jahren zwischen 1940 und 1970 das Konzept der „Zeitperspektive“ in Erscheinung, die wir uns bildlich als „zeitliches Umfeld“ der Gegenwart vorstellen können. Man erkannte die großen Unterschiede in der Art, wie einzelne Menschen oder auch verschiedene Kulturen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erleben und bewerten (Wendorff, 1991).

Heute erscheint es uns ganz natürlich, dass Menschen, deren Leben auf die Zukunft gerichtet ist, sich von jenen unterscheiden, die in der Vergangenheit leben, oder von denen, deren Interesse allein der Gegenwart gilt. Auch gibt es große Unterschiede in der Art, wie die jeweiligen Zeitabschnitte gesehen werden: Wird die Vergangenheit im Nachhinein verklärt und in goldenes Licht getaucht, oder wird sie verdammt und scheint von finsteren Schatten durchzogen? Sieht man die Zukunft rosig und erhofft sich ein besseres Leben, oder wittert man Unheil und Verderben, malt sie ganz in Schwarz und voller Bedrohungen? Oder lebt einer gar nur in der Gegenwart, schert sich nicht um Vergangenes und Zukünftiges, will nur seinen Spaß haben, komme was da wolle?

Psychologen versuchen herauszufinden, welchen Einfluss Alter, Gesundheit und Krankheit, Religion, Kultur, etc. auf unsere Sichtweise haben (Wendorff, 1991).

4.4 Zeitverständnis der Kulturen

Tatsache ist, dass unterschiedliche Kulturen ein unterschiedliches Zeitverständnis haben. Uns erscheint es selbstverständlich, nach Zeitplänen, Terminkalendern und der Uhr zu leben, aber auch heute noch gibt es viele Länder, in denen die Menschen sich nicht nach Uhren richten. Oft werden in diesen Teilen der Welt die wichtigen Ereignisse noch vom Rhythmus der Natur bestimmt, wie zum Beispiel der Zeit zum Säen und Pflanzen (Levine, 1998).

Viele von uns werden noch die Geschichte von dem Fischer und dem Geschäftsmann in Erinnerung haben, die früher in den Lesebüchern stand. Ich weiß nicht mehr in welchem Teil der Welt sie spielt – aber das ist auch nicht so wichtig:

Ein Fischer döst genüsslich am Strand in der Sonne. Vor ihm schaukelt sein kleines Boot sanft auf den schimmernden Wellen des Ozeans.

Hinter ihm steht ein dicker Geschäftsmann mit Sonnenbrille und Zigarre. „He, Fischer!“ ruft der Geschäftsmann. „Es ist noch nicht mal Mittag und du arbeitest gar nicht?“ „Nein, mein Herr,“ antwortet der Fischer „für heute ist’s genug, ich war schon draußen und mein Fang war gut. Hab ihn auf dem Markt verkauft und so viel verdient, dass es für die Familie reicht.“

Der Geschäftsmann, wir ahnen es schon, sollte uns auch die Geschichte unbekannt sein, kann das nicht verstehen. „Warum fährst du nicht raus, guter Mann, fängst noch mehr und verkaufst es. Wenn du das jeden Tag machst, kannst du ein zweites Boot kaufen und Leute einstellen, die mitarbeiten. Danach ein drittes Boot und ein Viertes und so fort, bis du eine eigene Flotte hast. Auf diese Weise könntest du in 10 – 20 Jahren richtig reich werden.“ „Aha,“ sagt der Fischer, „und was mache ich mit dem Geld?“ „Du kaufst dir ein Häuschen in einem kleinen Dorf am Meer, da kannst du dich zur Ruhe setzen und dein Leben genießen.“

Natürlich genießt der Fischer schon längst sein Leben, und dieser Umgang mit der Zeit wird von Touristen oft als Grund für eine Reise in ein bestimmtes Urlaubsland genannt.

In der „dritten“ Welt wird der Zeitablauf eher zyklisch denn linear verstanden. Die Zeit als ewige Wiederkehr von Gleichem, etwa im Rhythmus der Jahreszeiten oder in religiösen Vorstellungen (Hinz, 2000), wie zum Beispiel der Wiedergeburt.

Viele Menschen bestimmen Zeit nach Ereignissen des Alltags oder sozialen Aktivitäten. In Madagaskar bekommt man als Antwort auf die Frage, wie lange etwas dauert, Zeitangaben wie „die Zeit, die man zum Reiskochen braucht“ oder „solange es dauert eine Heuschrecke zu braten“. Aus Nigeria ist gar der Ausspruch „Der Mann starb in weniger als der Zeit, die man braucht, um Mais anzurösten“ überliefert und im „New English Dictionary“ findet der interessierte Sprachstudent den Ausdruck „pissing while“, eine Zeitangabe von kulturübergreifender Verständlichkeit (Levine, 1998).

Levine (1998) untersuchte das Lebenstempo von Großstädten in 31 Ländern der Welt. Ausgangsbasis für sein Experiment waren die Fragen: „Wie schnell gehen Passanten im Zentrum einer Großstadt? Wie lange benötigt ein Postbeamter, um eine Briefmarke zu verkaufen, oder ein Bankangestellter um Geld zu wechseln? Und wie genau sind die öffentlichen Uhren?“

Dabei stieß er auf höchst interessante Zeitunterschiede: Zu den schnellsten Großstädten gehören die in Westeuropa und Japan. Die langsamsten sind vergleichbare Städte in wirtschaftlich weniger entwickelten Staaten, wie Mexiko, Brasilien und Indonesien. Aber auch innerhalb eines Landes gibt es erhebliche Unterschiede. Er stellte fest, dass die Gehgeschwindigkeit in seiner Heimatstadt Fresno (Kalifornien) um ein Drittel langsamer war, als die in Boston (Massachussets).

Die Maya in Mexiko und Guatemala betrachteten die Zeit als von Gott geschaffen und damit selbst als göttlich.

Die Aborigines in Australien bezeichnen alle Zeit als Traumzeit, in der alles Geschehen seinen Ursprung hätte. So wie das Denken vor dem Handeln liegt, liegt auch die Zeit wie ein Traum vor der realen Welt. Von ihr kommt alles, was man in der realen Welt findet, und in sie geht alles zurück. Die Zeit ist aus der Ewigkeit und die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgegangen. Somit ist die Ewigkeit in der Gegenwart präsent. Was in der Zukunft geschieht, liegt in der Urzeit schon beschlossen.

Bei den alten Ägyptern geschah „alles zu seiner Zeit“, ebenso wie in den frühen Gesellschaften, die ihren Lebensunterhalt durch Jagen, Sammeln oder durch Ackerbau bestritten. Jedes Geschehen hatte seine eigene Zeit: Die Zeit zum Jagen unterschied sich von der Zeit, in der Feste gefeiert wurden (Dux, 1998).

4.5 Lebensalter und Zeiterleben

Was bedeutet Zeit für Kinder im Unterschied zu Erwachsenen? Wann beginnt ein Kind Zeit zu erfahren, Dauer abzuschätzen, wie geht das vor sich?

Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mich als Kind jedes Jahr sehr auf Sylvester freute: Eine große Firma in unserer Stadt veranstaltete ein professionelles Feuerwerk auf den Rheinwiesen, und wir konnten es vom Balkon unserer Hochhauswohnung prima beobachten. Dazu kam, dass wir mit Freunden feierten und wir Kinder so lange aufbleiben durften, wie wir wollten. Aber Sylvester war damals nur sehr selten. Soweit ich mich erinnern kann, verging jedes Mal eine halbe Ewigkeit, bis wieder Sylvester war. Heute ist das anders: Kaum ist Sylvester vorbei, stehen auch schon wieder erwartungsfroh die Schokoladenweihnachtsmänner in den Supermarktregalen. Zumindest kommt mir das so vor.

Vergehen die Jahre schneller, wenn man älter wird? Langsamer, wenn man Kind ist? In der ersten Frage steckt schon ein interessanter Hinweis: Die Jahre scheinen mit wachsendem Alter schneller zu vergehen, mitunter auch die Tage, aber haben wir schon mal gehört, dass jemand behauptet, er habe den Eindruck, die Minuten oder Sekunden vergingen schneller? (James, 1909, zitiert nach Hinz, 2000, S. 49).

Für den Eindruck, dass die Zeit schneller vergeht, wenn man älter ist, gibt es verschiedene Erklärungen. Bei meiner eingangs erwähnten Umfrage zur Zeit antwortete eine Kommilitonin: „Die ersten Lebensjahre verbringt man damit auf den 18. Geburtstag und die große Freiheit zu warten - währenddessen zieht sich die Zeit und erscheint unendlich lang. Danach vergeht die Zeit wie im Fluge und man hat von Jahr zu Jahr immer weniger davon.“

Ist es vielleicht dieses gespannte, oft sehnsüchtige Warten, das die Zeit in der Kindheit so langsam vergehen lässt? (Häfliger, 1990, zitiert nach Hinz, 2000, S. 49). Wenn auch nicht jedes Kind unbedingt auf das Erwachsenwerden wartet, so warten Kinder doch oft auf die Erfüllung ganz bestimmter Wünsche, vielleicht den Besuch eines lieben Onkels, das lang ersehnte leuchtend rote Fahrrad, oder auch auf das Sylvesterfeuerwerk.

Solches Warten kann die Zeit schon lang erscheinen lassen. Diese Erfahrung machen wir selbst im Erwachsenenalter immer wieder: Wenn wir auf etwas warten müssen, vergeht die Zeit viel langsamer, als wenn wir uns intensiv mit etwas beschäftigen. Wie oft warten wir „stundenlang“ an der Schlange vor dem Postschalter. Bei einem Blick auf die Uhr könnten wir leicht feststellen, dass es sich bei der „halben Stunde“ in Wirklichkeit nur um zehn Minuten gehandelt hat.

Zurück zu den Kindern: Sie erleben so viel neues, jeden Tag – da sie ja über weniger schon Erlebtes verfügen als die Erwachsenen – vielleicht macht das die Zeit so lang. Wird wohlgefüllte Zeit als länger empfunden?

Oder ist es im Gegenteil so, dass Kinder nicht so viel neues erleben, dass ihre Tage gleichförmiger verlaufen, dass ihnen oft langweilig ist und das deshalb ihre Zeit langsamer zu vergehen scheint?

Wie ist das, wenn wir, in einer Woche Urlaub beispielsweise, ganz viele neue Dinge sehen, neue Menschen kennen lernen, neue Erfahrungen machen? Kommt uns die Zeit eher lang oder kurz vor? Ich habe über diese Frage eine Weile nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass mir die Zeit, während ich sie erlebe kurz erscheint, im Rückblick aber lang. Sie kommt mir während des Erlebens kurz vor, weil sie „kurzweilig“ (im Gegensatz zu langweilig) ist, und im Rückblick erscheint sie mir lang, weil ich viel zu erzählen habe. Jede Stunde war ja prall gefüllt (vgl. Fraisse 1985).

Wie steht es mit Aktivität und Passivität? Wann erscheint uns Zeit kürzer, wenn wir der aktive, oder wenn wir der passive Part sind? Ich denke, wenn wir aktiv sind. Wir haben selber die Kontrolle über die Dinge, wir planen und handeln – auch hier ist unsere Zeit wieder ausgefüllt und erscheint damit kürzer (vgl. Fraisse, 1985). Als Kind sind wir doch vermutlich eher passiv, oder nicht? Die wenigsten Kinder können die Kontrolle übernehmen. Meistens wird ihr Leben viel mehr gestaltet, als dass sie es selber gestalten könnten. Da sie also passiv sind, müsste ihnen die Zeit länger vorkommen, und das können wir auch beobachten.

Es könnte auch sein, dass einem älteren Menschen die Zeit schneller zu vergehen scheint, weil die „schon verlebte“ Zeitspanne höher ist. Prozentual und natürlich rein theoretisch gesehen, reduziert sich die „noch verbleibende Lebenszeit“, je älter man wird.

5 deformationen der zeit

Zeiterleben hängt, wie wir gesehen haben, von vielen Faktoren ab: Von Kultur und Persönlichkeit ebenso wie von Alter und Religion. Weitere, nicht zu unterschätzender Faktoren sind sicherlich Drogenkonsum oder Erkrankungen.

5.1 Déjà-vu-Erlebnisse

Schon im Altertum wurden sie beschrieben, die „falsae memoriae“, die „falschen Erinnerungen“ (Payk, 1989). Heute nennt man sie „Déjà-vu“, was nichts anderes bedeutet als „schon gesehen“.

Diese Erinnerungstäuschung, die wahrscheinlich die meisten von uns aus eigener Erfahrung kennen, gehört zu der großen Gruppe der Paramnesien (Fröhlich, 2000). Sie tritt besonders häufig im Jugendalter oder in Stress- und Ermüdungssituationen auf (Krapp, 2002), oftmals aber auch im Gefolge von Neurosen oder Psychosen.

Etwas bis dahin objektiv Unbekanntes wird als schon einmal erlebt erfahren. Einen kurzen Augenblick lang wird das, was man gegenwärtig erlebt, als vergangen wahrgenommen (Payk, 1989). Man ist sich hundertprozentig sicher, dass man eine Situation schon genau so erlebt hat, ein Gespräch schon genau so gehört hat.

Solche Doppelwahrnehmungen treten gehäuft unter epileptischen Auren, bei Schizophrenen und Neurotikern, oder eben in Erschöpfungszuständen auf. Payk (1989, S. 76) bemerkt, dass sie „meist mit Unbehagen und Angstgefühl verbunden“ sind, „weil die schließlich als solche erkannte Falscherinnerung beunruhigende Verunsicherung verbreitet.“ Payk führt weiter aus, dass die scheinbare Bekanntheit der Ereignisse „auf früheren ähnlichen Teilerlebnissen oder auch auf illusionären Verkennungen und Umdeutungen der Umwelt unter erschwerten Wahrnehmungsbedingungen“ beruhen kann, und dass als Ursachen sowohl hirnorganische Störungen, als auch „psychodynamische Faktoren mit ich-entlastender, kathartischer Funktion“ in Frage kommen.

Ich vermute, dass das beschriebene Unbehagen und Angstgefühl nur oder vor allem im Krankheitsfall auftritt. Aus Schilderungen von gesunden Menschen, die Déjà-vus hatten, weiß ich nur, dass sie diese Erlebnisse seltsam und interessant fanden, durch sie aber in keiner Weise beunruhigt wurden.

5.2 Zeit in Psychose und Neurose

Besonders häufig wurde das Zeiterleben in psychotischen Zuständen erforscht. Dem lag unter anderem die Hoffnung zugrunde, durch Zeitexperimente zwischen „Neurosen“ und „Psychosen“ unterscheiden zu können. Sowohl für die neurotische als auch für die endogene Depression wird ein fast völliger Verlust der Zukunftsperspektive und eine Verlangsamung des Zeiterlebens, bis hin zum völligen Zeitstillstand (Hinz, 2000).

Ergebnisse verschiedener Untersuchungen bestätigen nach Münzel (1993), ältere Beobachtungen, wonach sowohl endogen Depressiven als auch nicht endogen Depressiven der Zeitablauf verlangsamt erscheint. Ergebnisse zur Dauer (vor allem zur Zeitschätzung) sind uneinheitlich und ein einfacher Zusammenhang zwischen Aussagen zum Erleben des Zeitablaufs und der Beurteilung von Dauer scheint nicht zu bestehen.

Einige Wissenschaftler führen die Überschätzungen der Dauer bei Depressiven auf eine erhöhte Aktivität des autonomen Nervensystems zurück, andere sehen sie als Folge einer reduzierten zentralnervösen Aktivität, durch die es auch zur Apathie, Denkhemmung und Antriebsminderung komme (Münzel, 1993).

Depressiv Erkrankten scheint die Zukunft oft negativ und bedrohlich. Je mehr ihr Dasein durch ihre Vergangenheit bestimmt scheint, desto weniger können sie sich von ihrem Schicksal befreien, desto weniger ist die Zukunft geeignet neue Situationen zu schaffen. Die Patienten wissen zwar, dass es eine Zukunft gibt, sie scheint aber für sie keine Bedeutung zu haben. Sie fühlen sich leer und kraftlos, wenn sie an sie denken, und ihre Vergangenheit erscheint ihnen leer, kalt und kraftlos (Straus, 1928 und Kloos, 1938, zitiert nach Fraisse, 1985).

Die massive Einschränkung der Zukunftsperspektive führt dazu, dass die eigene erlebte Zeit langsamer fortzuschreiten scheint als die der Umgebung. Eine Zeitstrecke zerfällt gewissermaßen in lauter Jetzt-Punkte. Manchmal wird der innere Stillstand sogar so deutlich erlebt, dass die Zeit rückwärts zu gehen scheint (Tellenbach, 1990).

Im Gegensatz dazu lebt der manisch Kranke ständig in der Zukunft. Sein überirdisches Glücksgefühl bietet grandiose Ausblicke in die Zukunft und färbt seine Vergangenheit rosig. Im Glück des manischen Zustands befreit sich der Kranke von allen Beschränkungen der Zeit, die Gegenwart scheint zu „springen“, der Abstand zur Zukunft existiert nicht.

Auch bei Schizophrenen kann es zu bizarren Störungen des Zeiterlebens kommen. Dinge, die vor langer Zeit passierten, erscheinen so, als seien sie gerade erst geschehen, oder als würden sie noch geschehen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die innere Zeit in der Depression stockt und die Zukunftsperspektive fehlt, bei der Manie eilt die Zeit voraus und der Abstand zur Zukunft fehlt, und bei der Schizophrenie steht die Zeit still oder geht rückwärts und ihre Dimensionen vermischen sich (Hinz, 2000).

6 Diskussion

Was ist nun die Zeit? Haben wir das Rätsel gelöst? Oder kehren wir wieder an den Anfang zurück, stehen mit leeren Händen da?

Bei meiner Beschäftigung mit der Zeit ist mir aufgefallen, dass die Zeit ein unendliches, unerschöpfliches Thema ist. Was am Anfang schon klar war, nämlich, dass es keine wirklich eindeutige Definition für die Zeit gibt, ist jetzt noch klarer geworden.

Am befriedigendsten war für mich die Beschäftigung mit der physikalischen Zeit, denn sie allein scheint mir, wenn auch nicht unbedingt wahr und echt und greifbar, so doch zumindest erklärbar. Die physikalische Zeit lässt sich bequem in Worte fassen. Man überlegt eine Weile, man liest eine Weile, und schon kann man sie gewissermaßen „auf Papier bannen“, sich dem –vielleicht trügerischen – Gefühl hingeben, man hätte verstanden.

Auch die Frage, ob Zeit nun zyklisch oder linear sei, lässt sich noch in vertretbaren Grenzen erörtern. Manchmal ist sie eben zyklisch, im Reigen der Jahreszeiten beispielsweise, manchmal linear, beim Geborenwerden und Sterben, wenn man nicht an ein Leben im Jenseits oder an die Wiedergeburt glaubt, zum Beispiel.

Was den Rest der Zeitthemen angeht, tut sich eine derartig verwirrende Vielfalt auf, dass man nicht nur sofort ein nächstes Thema hat, sobald eines behandelt ist, sondern zusätzlich auch noch das Gefühl aufkommt, man könne keines der Themen jemals erschöpfend behandeln. Es gibt auf dem Gebiet der Zeitwahrnehmung und des Zeitempfindens viele widersprüchliche Ansichten, und Untersuchungen zum selben Thema weisen höchst unterschiedliche Ergebnisse auf.

Letztendlich bleiben uns viele der Fragen, die Augustinus schon vor 1600 Jahren gestellt hat, auch heute noch erhalten; es gibt weiterhin reichlich Gelegenheit zu forschen, zu messen und zu spekulieren.

Gerade die Vielfalt der Zeiteindrücke deutet darauf hin, dass Zeit eben nichts ist, was aus der Natur heraus existiert, nichts, wie die Völker in alter Zeit dachten, Gottgeschaffenes, sondern etwas rein Menschliches:

Ein Konstrukt unseres Geistes, nur lebendig in unseren Gehirnen.

7 Literaturverzeichnis

Augustinus, A. (1985). Bekenntnisse. München: dtv.

Dux, G. (1998).Zusammenprall der Zeitverständnisse . Zeitschrift für KulturAustausch, 3, 34 -36.

Feynman, R. P., Leighton, R. B. & Sands, M. (2001). Feynman Vorlesungen über Physik. Band I: Mechanik, Strahlung, Wärme. München: Oldenbourg.

Fraisse, P. (1985). Psychologie der Zeit: Konditionierung, Wahrnehmung, Kontrolle, Zeitschätzung, Zeitbegriff. München: Reinhardt.

Fröhlich, W. D. (2000). Wörterbuch der Psychologie. München: dtv.

Hawking, S. (2001). Die illustrierte kurze Geschichte der Zeit. Reinbeck: Rowohlt.

Hinz, A. (2000). Psychologie der Zeit: Umgang mit Zeit, Zeiterleben und Wohlbefinden. Münster: Waxmann.

Krapp, P. (2002). Vorgeschichte der Gedächtnisstörung. Eine Wiederholung. [Online Document]. http://www.krapp.org/pdf/dj.pdf (02.04.2004).

Levine, R. (1998). Fingerabdrücke der Zeit . Zeitschrift für KulturAustausch, 3, 24 –26.

Münzel, K. (1993). Depression und Erleben von Dauer: Zeitpsychologische Grundlagen und Ergebnisse klinischer Studien. Berlin: Springer.

Payk, Th. R. (1989). Zeit – Lebensbedingung, Anschauungsweise oder Täuschung?. In R. Wendorff (Hrsg.), Im Netz der Zeit (S. 69 – 77). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Pöppel, E. (1989). Gegenwart – Psychologisch gesehen. In R. Wendorff (Hrsg.), Im Netz der Zeit (S. 11 – 16). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Pöppel, E. (1998). Wie kommt die Zeit in den Kopf ?. Zeitschrift für KulturAustausch, 3, 29 –31.

Tellenbach, H. (1990). Aspekte der Zeit – ihre Deformationen in psychischen Störungen. Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie, 38, 52 – 61.

Wendorff, R. (1991). Die Zeit, mit der wir leben. Herne: Heitkamp.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Zeit als Konstrukt
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Autor
Jahr
2004
Seiten
27
Katalognummer
V108906
ISBN (eBook)
9783640070978
Dateigröße
646 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zeit, Konstrukt
Arbeit zitieren
Eva Flug (Autor:in), 2004, Zeit als Konstrukt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108906

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