Emanzipatorische Perspektiven von Behinderten im wiedervereinigten Deutschland


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1991

7 Seiten


Leseprobe


EMANZIPATORISCHE PERSPEKTIVEN VON BEHINDERTEN IM WIEDERVEREINIGTEN DEUTSCHLAND

[Erschienen in: >Dr. med. Mabuse< Zeitschrift im Gesundheitswesen, Nr. 74 (Okt./Nov. 1991)

Noch zu Beginn des Jahres 1991 konnte die westdeutsche Behindertenbewegung eine positive Bilanz ihres gut zehnjährigen Engagements ziehen, (vgl. Mabuse, Nr. 70). Zwar wurden gewisse "Ermüdungserscheinungen" eingeräumt, doch würden diese sicherlich von den "neuen Impulsen" kompensiert werden, die "vom Anschluß der DDR" ausgehen würden.

Und in der Tat, die Zielsetzungen des neugegründeten "Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland" (ABiD) schienen diesen Optimismus zu rechtfertigen. Sollte doch der Ost -Behindertenverband basisdemokratisch strukturiert und mehrheitlich von Behinderten bestimmt sein, sich gegen Aussonderung wenden und nicht auf eine oder nur ein paar Behinderungsarten fixiert sein.

WEST-ÖSTLICHE KONFRONTATION

Wähnte sich also die autonome Behindertenbewegung noch zur Jahreswende 1990/91 auf der Seite der "Einheitsgewinnler", so beginnt sich seit dem 2. Verbandstag des "ABiD" im Mai 1991 offenbar eine neue Sichtweise durchzusetzen: Für die VertreterInnen und SympathisantInnen der Independent-Living-Bewegung war es deprimierend zu erleben, wie selbst Behinderte längst "gegessen" gewähnte Angelegenheiten ablehnten.

So die Forderungen, Entscheidungs- und Stimmrecht mehrheitlich behinderten VertreterInnen zuzubilligen oder das Besetzen von Vorstandsfunktionen durch sie; ganz zu schweigen von der Forderung nach Abschaffung von Sondereinrichtungen. Denn "die anderen" wünschten langersehnte Verbesserungen gerade dieser Sondereinrichtungen zum Wohle der Behinderten, ihrer Angehörigen und Freunde.

In dieser Auseinandersetzung trennen sich die Welten: Die von Ost und West, die von Anpassungs- und Emanzipationsstrategien, die von sog. Realisten und sog. Fundamentalisten, eben die von ABiD-AnhängerInnen und IL-Bewegten.

Trotz aller Uneinigkeit gab es jedoch einen Grundkonsens: Wir müssen "im Tal der Mühen" neue Erfahrungen machen, sie gemeinsam machen und sie gemeinsam auswerten.

Damit ist, trotz aller gegenseitigen Enttäuschungen nun auch unter Behinderten eines wohl unstrittig: West und Ost teilen miteinander - ganz nach dem Motto: "Ein jeder teile mit seinem Nächsten":

Die Unternehmer teilen die außergewöhnlichen Gewinne; die Krankenschwestern die Arbeitsüberlastung; die Sozialhilfeempfänger die Löcher im sozialen Netz, die Randgruppen die Stigmatisierung usw., usf. Kurzum: Es geht (vorerst) zurück in in die 60er Jahre.

Diese Perspektive der 60er Jahre, aus der man sich dann Stück für Stück aus eigener Kraft - nun aber gemeinsam mit unseren ehemaligen "Brüdern und Schwestern im Osten" - wieder herausarbeitet, ist bei weitem zu optimistisch. Vor allem deshalb, weil sich die Ausgangsbedingungen für emanzipatorische gesellschaftliche Entwicklungen eklatant zu verschlechtern drohen.

So ist es offenbar der gesamten westdeutschen Linken viel zu wenig bewußt geworden, wie weit - insbesondere seit Ende der 70er Jahre zivilgesellschaftliche Elemente bereits ihren Platz in der westdeutschen Gesellschaft gefunden hatten. Diese verschlafene Zivil-Republik hat nie als verteidigenswert gegolten, schon gar nicht gegen ein Wiedervereinigungsgebot, das - wie wir im Nachhinein sehen - nicht nur die DDR hinweggefegt hat.

Dieser Fehleinschätzung unterlag auf ihre besondere Art auch die bundesdeutsche Behindertenbewegung. Während sie mit Trillerpfeifen und Blockaden ein Diskussionsverbot der "Singer-Thesen" zu erreichen versuchte, übersah sie in welch hohem Maße, Personen, die noch zwei Generationen zuvor - ohne jegliche gesellschaftliche Diskussion (!) - als "lebensunwertes Leben" abgestempelt worden waren, seit den siebziger Jahren toleriert - ab und an sogar akzeptiert - immer aber von der bundesdeutschen Gesellschaft "ausgehalten" worden waren.

Ich bestreite nicht, daß diese Entwicklung auch viel mit den Aktivitäten der Behinderten selbst zu tun hatte. Entscheidend aber ist für die Situation jeder gesellschaftlichen Randgruppe - also auch für die Behinderten - nicht ihr eigenes Verhalten, sondern die jeweilige Befindlichkeit der Bevölkerungsmehrheit.

HISTORISCHE BEISPIELE

Am Beispiel der sozialen Verfolgung von Minderheiten auf der einen und der Befindlichkeit der Bevölkerungsmehrheit im Nazismus auf der anderen Seite, lassen sich einige grundsätzliche Tendenzen aufzeigen, die meine These unterstreichen.1

Mit dem Heranziehen des nationalsozialistischen Beispiels will ich in keiner Weise - auch nicht punktuell - die politischen Systeme - miteinander vergleichen. Ich meine aber, daß autoritär geprägte gesellschaftliche Subjekte, stets in der Gefahr der "Faschisierung" schweben; sowohl in der bürgerlichen Gesellschaft, und erst recht, wenn sie sich vom "Gefühlsstau" des "real existierenden Sozialismus" befreien sollten.

So zeigt der Blick auf die Geschichte der NS-Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik, daß sich die Maßnahmen des NS-Staates gegen soziale Randgruppen zwar unmittelbar gegen die definierten Zielgruppen - seien es nun Opfer der Zwangssterilisation, Homosexuelle oder "Arbeitsscheue und Gemeinschaftsfremde" - richteten, als perspektivisches Ziel aber durchweg die Bevölkerungsmehrheit ausersehen war.

Dies hatte nicht nur Konsequenzen für die Minderheiten, sondern auch für die Befindlichkeit und die Reaktionen der Bevölkerungsmehrheit. Diese These soll im folgenden an zwei Beispielen der Verfolgung von Randgruppen verdeutlicht werden, die - im Unterschied zu den Opfern der "Euthanasie" - noch in einen relativ unmittelbaren Kontakt zur Bevölkerungsmehrheit standen: den Opfern der Zwangssterilisationen und den der Aktionen gegen "Asoziale und Gemeinschaftsfremde".

Primär war die Zwangssterilisationspolitik im NS ohne Zweifel eine Gewaltmaßnahme, die sich vor allem gegen alle Frauen richtete, die unter das Verdikt des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom Juli 1933 fielen. Doch ging die Zielrichtung dieser Maßnahmen perspektivisch weit über den Personenkreis der unmittelbar betroffenen Frauen hinaus. Wenn beispielsweise die Unfähigkeit zur Kindererziehung zum Diagnosebegriff wurde, so tangierte dies nicht allein "einwilligungsunfähige" Personen im Zugriffsfeld des Vormundschafts- und Pflegerechts, sondern berührte zentral allgemeine gesellschaftliche "Normalisierungspraktiken im Alltag" : Dieses Grundmotiv der NS-Sterilisationspolitik führte dazu, daß "Rabenmütter" und "Schlampen" physische Gewalt und Gebärverbot riskierten. Diese Drohung - die durch die Veröffentlichung der Entscheidungen der sog. "Erbgesundheitsgerichte" unterstrichen wurde - hatte im Sinne eines "Do it yourself der Ideologie im Alltag" auf das rollenspezifische Verhalten der "normalen" Frauen vielleicht einen größeren Einfluß auf die Domestizierung der Frauen im NS, als alle Bräute- und Mütterschulungen.

Eine nicht unähnliche Problematik des Verhältnisses von Normalität und Ausgrenzung, von "Innen" und "Außen" ergibt sich aus der Untersuchung der faschistischen Maßnahmen gegen sog. "Asoziale". So war in den Jahren 1937 und 1938 von SS und Polizei eine Serie von Maßnahmen zur "Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" inszeniert worden, deren hauptsächliches Ziel es gewesen war eine möglichst große Zahl von sog. "asozialen Elementen" in die Konzentrationslager einzuweisen.

Die umfangreichste dieser Maßnahmen war im Jahre 1938 die "Aktion Arbeitsscheu Reich". Wichtiger als die Arbeitsleistung der gefangenen "Arbeitsscheuen" war - auch bei dieser "Maßnahme" - der abschreckende Effekt auf die Gesamtbevölkerung, der im direkten Zusammenhang mit dem Inkrafttreten der allgemeinen Dienstpflicht stand. Das Ziel war also vor allem die "Stärkung der nationalen Arbeitsdisziplin" der Bevölkerungsmehrheit.

Deutlich erkennbar ist in diesen Aktionen gegen "Asoziale" und "Arbeitsscheue" eine kontinuierliche Ausdehnung der Erfassungskategorien des "Abnormen", die schließlich auf dem Höhepunkt des Krieges noch weiter ins "Normale" vorgetrieben wurden:

Erhoben werden sollen ... unter anderem Arbeitsplatzwechsel, Arbeitslosigkeit, Krankheiten, eheliche Treue, gesteigerte Sinnlichkeit, Schulden, Unterstützung durch die Fürsorge und häufige Belästigung von Parteistellen und Behörden.

Im Zuge dieser bereits 1938 beginnenden Ausdehnung und Verschmelzung der Erfassungskategorien wurde die "Asozialität" zur "Gemeinschaftsunfähigkeit" im Rahmen der faschistischen "Volksgemeinschaft" umgearbeitet.

Die Konstituierung der "Volksgemeinschaft", der die überwiegende Bevölkerungsmehrheit freiwillig und nicht etwa gezwungenermaßen angehören wollte, verlief ihrerseits wiederum insbesondere über ideologische Praxen. Diese Praxen waren sowohl "von oben" inszeniert, als auch durch Selbsttätigkeit "von unten", als eine Art "Selbstpsychiatisierung" bestimmt. Moral, Gesundheit und Schönheit waren hier die "Hauptstützpunkte", die wiederum eng verknüpft waren mit der Sexualität, als zentralem "Übungsfeld der Selbst/ Beherrschung".

Der Blick auf das Verhältnis von "Asozialen und Gemeinschaftsfremden" zur Bevölkerungsmehrheit im Nationalsozialismus verweist somit auf den dialektischen Zusammenhang von Normalität und Ausgrenzung, von Zwang und Selbstzwang. Ein Zusammenhang der umso mehr fortbesteht, als Marktgesetze und Konsumverhalten die individuellen Beziehungen weiter dominieren.

PERSPEKTIVEN

Obwohl ich mit diesen historischen Beispielen keine unmittelbaren Vergleiche ziehen, sondern lediglich auf das prekäre Verhältnis verweisen möchte, das stets zwischen der sozialen Situation von Minderheiten und der Befindlichkeit der Bevölkerungsmehrheit besteht, so spricht doch vieles dafür, daß gerade die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger, diese Mechanismen von Normalität und Ausgrenzung konserviert hat. Wahrscheinlich sind sie durch die Umsetzung der offiziellen DDR-Ideologie, sogar noch verstärkt worden. Es ist deshalb abzusehen, daß mit dem weiteren Anwachsen der Bedrohung ihrer materiellen, psychischen und sozialen Sekurität, die Bevölkerungsmehrheit ihre offenen Ab- und Ausgrenzungsmechanismen - nicht nur im Osten, sondern auch im Westen - nicht mehr allein gegen Ausländer richten wird.

Die Grenzen des Kreises der Opfer sind fließend und richten sich vor allem nach dem "Normalitätsdruck", den die Bevölkerungsmehrheit empfindet.

Damit besteht die unmittelbare Gefahr, daß auch Behinderte über kurz oder lang, wiederum als nichtakzeptable "Fremde" - als "Fremdkörper" in der Konsumgesellschaft (und das sind sie ja in der Tat (!)) - empfunden werden.

Allein werden Behinderte nicht die geringste Chance haben, sich diesen Ausgrenzungsmechanismen zu entziehen. Insbesondere auch deshalb nicht, weil im Osten alle Formen von Sondereinrichtungen, eine "Renaissance" erleben und von dort auf den Westen zurückwirken werden.

Darum gilt es Verbündete zu finden und sich zu erhalten. Diese - wie z.B. die Ökologie- , die Friedens- oder die Frauenbewegungsbewegung - werden von den "autonomen" Behinderten jedoch deshalb abgelehnt, weil sie angeblich "Behindert-Sein" nicht als eine von vielen Lebensformen akzeptieren, sondern mit Leid in Verbindung bringen, das es zu verhindern gilt. Doch hier sollte in der Tat einmal darüber nachgedacht werden, ob "Behindert-Sein" tatsächlich primäre Grundlage einer positiven Identität sein kann.

Vielmehr meine ich, daß gesellschaftliche und individuelle Identität auch von Behinderten keinesfalls aus dem Erleben der eigenen Mängel abgeleitet werden darf. Denn unweigerlich kommen die in dieser Einstellung enthaltenen destruktiven Momente an anderer Stelle - bei Behinderten mangels anderer Möglichkeiten, zumeist gegen sich selbst gerichtet - wieder zum Vorschein.

Ich plädiere also für ein Umdenken, insbesondere deshalb, weil sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben und noch weiter ändern werden: Trotz und wegen der eigenen Ohnmacht gilt es PartnerInnen zu finden und sich von ihnen bewußt "mißbrauchen" zu lassen: sich gebrauchen zu lassen von all denjenigen, die eine ökologische und solidarische Lebensweise fordern und vorzuleben versuchen: Ihnen ein lebendiges Beispiel zu liefern, daß ein Leben möglich, akzeptabel und lebenswert ist, auch wenn es nicht im Mittelpunkt der Konkurrenz- und Konsumgesellschaft steht.

Anmerkung:

1 Ich beziehe mich im folgenden insbesondere auf: Wolfgang Ayaß, "Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin". Die Aktion >Arbeitsscheu Reich< 1938. In: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Band 6 (1988), S. 43-74; Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986; Wolfgang Fritz Haug: Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts - Die Ideologie der gesunden Normalität und die Ausrottungspolitiken im deutschen Faschismus - Materialanalysen, Berlin 1986.

Ende der Leseprobe aus 7 Seiten

Details

Titel
Emanzipatorische Perspektiven von Behinderten im wiedervereinigten Deutschland
Autor
Jahr
1991
Seiten
7
Katalognummer
V109297
ISBN (eBook)
9783640074785
ISBN (Buch)
9783640118267
Dateigröße
417 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
V16363 Erschienen in: Dr. med Mabuse, Zeitschrift im Gesundheitswesen Nr. 74: Okt./Nov. 1991.
Schlagworte
Emanzipatorische, Perspektiven, Behinderten, Deutschland
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 1991, Emanzipatorische Perspektiven von Behinderten im wiedervereinigten Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109297

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