Judenhass ohne Juden. Soziokultureller Antisemitismus und der Protest gegen die Moderne


Essay, 1994

5 Seiten


Leseprobe


JUDENHASS OHNE JUDEN.

SOZIOKULTURELLER ANTISEMITISMUS UND DER PROTEST GEGEN DIE MODERNE

[Erschienen in: >Lutherische Monatshefte<. Kirche im Dialog mit Kultur, Wissenschaft und Politik, Heft 5: Mai 1994)

Ganze fünf Tage lagen zwischen der Freude der Politiker über den Mißerfolg der rechtsextremen Parteien bei den Landtagswahlen in Niedersachsen und den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein und dem Brandanschlag auf die jüdische Synagoge in Lübeck.

Nun herrschen wieder Entsetzen, Scham und Ohnmacht; bei einzelnen Politikern auch die Sorge um das deutsche Ansehen in der Welt und die deutschen Exportaussichten. Doch ist dieser Ausbruch des Antisemitismus wirklich so überraschend und unvorbereitet über uns gekommen? Oder ist es nicht vielmehr so, daß der Fremdenhaß nach Rostock, Mölln und Solingen nun seinen eigentlichen Feind wiedergefunden hat?

In manchen Kommentaren hat der Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge Erinnerungen an die Pogromnacht des 9. November 1938 hervorgerufen. Doch wenn auch die äußeren Zeichen die gleichen sein mögen, die neue Judenfeindschaft, dieser "Antisemitismus ohne Juden" - der, wie einschlägige Umfragen nachweisen, latent oder manifest von 30 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung mitvertreten wird - hat mit dem staatlich geförderten und organierten Antisemitismus des Nationalsozialismus nur sehr wenig gemein. Vielmehr scheint er soziokulturell dem Antisemitismus der Weimarer Republik verwandt.

Denn ebenso wie die heutige Postmoderne, von der der Verfasser des öfteren den Eindruck hat, sie sei die alte Moderne, die von ihrer Ambivalenz - zu der auch die mißglückte Emanzipation der jüdischen Bevölkerung zählt - nichts mehr wissen will, stand die Zeit der Weimarer Republik im krisenhaft akzentuierten Schnittpunkt epochaler soziokultureller Neuerungen. Sie bildete den Höhepunkt jener klassischen Moderne, die sich um die Jahrhundertwende zu entfalten begonnen hatte.

Dieses Experiment der Moderne fand unter denkbar mißlichen Rahmenbedingungen statt. Mehr als 30 Jahre laborierten das weltwirtschaftliche und das weltpolitische System an einer Strukturkrise, deren Tiefpunkte die große Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 und der Zweite Weltkrieg darstellten. Das besonders stark gehemmte Wirtschaftswachstum nach dem Ersten Weltkrieg verengte die Handlungsspielräume für jene Kompromisse und Kompensationen, die die politischen und sozialen Neuerungen der Weimarer Republik für die verschiedensten Bevölkerungsgruppen akzeptabel gemacht hätten. Wo es nicht nur keine Zuwächse zu verteilen gab, sondern sogar Abstriche an der Substanz vorgenommen werden mußten, radikalisierten sich alle Verteilungskämpfe und vertieften sich die Segmentierungen und Polarisierungen der Gesellschaft, in der sich zum Schluß nur noch ebenso unversöhnliche wie für sich genommen handlungsunfähige gegnerische Lager gegenüberstanden.

Jedes einzelne Krisensymptom in Deutschland fand sich auch in den anderen Ländern der modernen westlichen Industriegesellschaft. Insofern ist die deutsche Krise paradigmatisch. Aber in Deutschland hatte sich der Modernisierungsprozeß in den zwanziger Jahren brutaler durchgesetzt als in anderen Ländern. Es hatten sich nicht nur seine Lichtseiten ("die goldenen zwanziger Jahre") besonders faszinierend ausgeprägt, sondern auch seine Schattenseiten besonders bedrückend auf die ohnehin deprimierende Alltagserfahrung gelegt. Geprägt von Krieg, Niederlage, Legitimationsverlust alter Werte, Inflation und Weltwirtschaftskrise, die 1932 mehr als sieben Millionen Deutsche arbeitslos gemacht hatte.

Die Verknüpfung dieser einzelnen Krisenfaktoren zu einer allumfassenden Krise der politischen Legitimation und der sozialen Wertsysteme war einzigartig in dieser Zeit und in diesem Land. Aus dieser umfassenden Krise schien es für die Deutschen keinen bekannten Ausweg zu geben, weder auf dem gewohnten Pfade des sozialen und politischen Handelns noch in der individuellen Perspektive des eigenen Lebenswegs. Die nationalsozialistische Bewegung indes hatte für alle individuellen und gesellschaftlichen Brüche der Moderne eine universelle Erklärung: Sie trat an als eine Protestbewegung gegen die Moderne; denunzierte die Moderne und projizierte die Ängste der tatsächlichen oder vermeintlichen Modernisierungsverlierer auf das Phantom einer jüdischen Rasse.

Dies gelang den Nationalsozialisten während der Weimarer Republik auch und gerade deshalb, weil die Juden ja in der Tat einen großen Beitrag zur Kultur der Zeit geleistet hatten. Die Spannung von Tradition und Modernisierung, von Sonderbewußtsein und Assimilationsdruck setzte bei ihnen ein bedeutendes Potential schöpferischer Kräfte frei, aber die rasch in den Vordergrund gerückte Stellung der jüdischen Minderheit im kulturellen Leben stieß in der neuen, ihrer selbst unsicheren Weimarer Republik auf antisemitische Ressentiments, die schon im religiös und ökonomisch getönten Nationalismus des Zweiten Reichs starke Wurzeln besaßen. Es beeinträchtigte Wirkung und Integration der Kultur von Weimar ganz besonders, daß sie als Werk "undeutscher" Kräfte gescholten und mit jenen antisemitschen Stereotypen belegt wurde, gegen die rationale Argumente wirkungslos waren: man diffamierte die Juden als Repräsentanten einer antinationalkosmopolitischen Zivilisation, als wurzellose und destruktive Kritiker, als Gegensatz zum "schöpferischen" deutschen Geist.

Die allermeisten Juden waren seit vielen Generationen, mit allen Fasern ihrer Existenz in deutscher Sprache und Kultur verwurzelt. Dies bewirkte, daß sie weitaus mehr als Deutsche denn als Juden an der deutschen Kultur teilnahmen, und daß diese Beiträge zur deutschen Kultur fast durchweg weder in inhaltlicher noch in formaler Hinsicht einen spezifisch jüdischen Charakter trugen.

Die anderthalb Jahrhunderte zwischen dem Beginn des Emanzipationszeitalters und der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten waren für die jüdische Bevölkerung eine Zeit des sozialen Aufstiegs und staunenswerter Leistungen in sehr vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dennoch ist es den Juden während dieser Zeit nicht gelungen, vollständig akzeptiert zu werden. Sie blieben im besonderen Sinne Außenseiter - nämlich nicht am Rand, sondern im Zentrum der Gesellschaft. Man empfand sie deshalb desto mehr als Fremde, als Eindringlinge, die irritierten, vor denen man ein diffuses Gefühl der Angst hatte. Widerstände, Diskriminierungen und offene Feindschaft waren an der Tagesordnung. Die konservativen Kreise, namentlich Adel, Geistlichkeit, Landwirtschaft und Kleinbürgertum, das heißt die Teile der Bevölkerung also, die an Kapitalismus und Industrie keinen oder nur wenig Anteil hatten, betrachteten mit zunehmender Unruhe die Entwicklung, die manche Juden in der Wirtschaft, besonders im Bank- und Börsenwesen, in der Presse und in der Politik, hervortreten ließ. Die aufkommende "antikapitalistische Sehnsucht" als Ausdruck eines Unbehagens an der Modernität in der Verbindung mit den ursprünglich theologisch-religiösen Wurzeln der Judenfeindschaft und dem Neid auf den Erfolg der Juden im Wirtschaftsleben führte dazu, daß in konservativen Kreisen schließlich "die Juden" als Haupturheber aller "zersetzenden" und "materialistischen" Ideen und als eine Gefahr für die deutsche Kultur angesehen wurden.

Dieser neue Antisemitismus, wie er sich bereits seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland entwickelte, hatte mit einer spezifischen Art jüdischer Existenz nur noch wenig zu tun. Seine Anhänger und Propagandisten glaubten in der "Judenfrage" den Schlüssel gefunden zu haben, der ihnen den Zugang zum Verständnis aller politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme der Zeit öffnete.

Was den angeblich unverhältnismäßig hohen Anteil und übergroßen Einfluß der Juden auf den kulturellen Wandel angeht, so sind dies Übertreibungen, die geeignet waren, die Juden als Verkörperung des Bösen zu denunzieren. Die Mehrzahl der deutschen Juden verhielt sich angepaßt. Sie schwammen wie die Nichtjuden unauffällig im Strom der deutschen Kultur, verhielten sich bürgerlich rechtschaffen, waren konservativ in den politischen Anschauungen, konventionell im Geschmack und patriotisch in ihren Überzeugungen.

Eine wirkliche Rolle im Kulturbetrieb haben die Juden nur dort gespielt, wo es um das geschriebene und gesprochene Wort ging. Dies ist insofern erklärbar, als hier, im Gegensatz zur bildenden Kunst, Traditionen und Erfahrungen , die jedem Juden von Kindheit an vertraut waren, selbst wenn er nichts mehr vom Judentum wußte und sich von diesem entfernt hatte. Für Verlage, Zeitungen, Zeitschriften oder Theater entwickelten Juden eine klar erkennbare Vorliebe. Der Kultursektor war eines der wenigen Felder, wo Juden ohne einer studentischen Verbindung angehört zu haben und ohne Reserveoffizier zu sein, aktiv werden und Karriere machen konnten. Hinzu kam, daß für Juden vielleicht Publizistik und Theater die Freiräume in der in ihren Strukturen festgefügten deutschen Gesellschaft waren, die es unabhängigen Geistern möglich machten, sich zu artikulieren und moderne und zukunftsweisende Ideen zu propagieren.

Bereits der deutschen Gesellschaft des Kaiserreichs hatten die Kräfte gefehlt, um das relativ plötzlich entstandene antisemitische Potential der "Gründerjahre" wieder abzubauen - im Gegenteil: Die Vorurteile konnten sich verfestigen und wurden in zunehmendem Maße durch andere Positionen imperialistischer, nationalistischer, militaristischer und sozialdarwinistischer Art weiter abgestützt und verstärkt. So entwickelte sich ein weitgehend unkontroverser, gewissermaßen "überparteilicher" und selbstverständlicher Antisemitismus, der keiner besonderen Rechtfertigung mehr zu bedürfen schien, nicht auffällig militant auftrat, dafür aber fast die gesamte Gesellschaft - mit Ausnahme der organisierten Arbeiterschaft - um so nachhaltiger durchdrang. Selbst Mitglieder und Anhänger liberaler Parteien gehörten nicht selten Vereinen oder Verbänden an, die keine Juden als Mitglieder duldeten. Die Juden galten als die Pioniere der Veränderung und des Bruchs mit der Tradition; sie wurden als die eigentlichen Nutznießer des >Weimarer Systems< betrachtet und insbesondere auch deshalb von den Nationalsozialisten zum Ausgangspunkt ihrer antimodernen Gegenutopie gemacht.

All dies mag für uns heute, die wir in einer aufgeklärten und ökonomisch gesicherten Welt leben, kaum noch nachvollziehbar erscheinen, auch und gerade, weil wir es gewohnt sind, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit eindeutig sozial zuzuordnen. Für große Teile der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit jedoch, war der geradezu "normale" Antisemitismus die einzige Projektionsfläche für ein nicht artikulierbares Unbehagen an der Moderne, ein Gefühl das vielen von uns, die wir heute Entsetzen und Abscheu gegenüber den alten und neuen Tätern äußern und uns damit moralisch an die Seite der Opfer zu drängen versuchen, nicht fremd sein dürfte.

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Details

Titel
Judenhass ohne Juden. Soziokultureller Antisemitismus und der Protest gegen die Moderne
Autor
Jahr
1994
Seiten
5
Katalognummer
V109303
ISBN (eBook)
9783640074846
Dateigröße
375 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erschienen in: Lutherische Monatshefte. Kirche im Dialog mit Kultur, Wissenschaft und Politik, Heft 5: Mai 1994
Schlagworte
Judenhass, Juden, Soziokultureller, Antisemitismus, Protest, Moderne
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 1994, Judenhass ohne Juden. Soziokultureller Antisemitismus und der Protest gegen die Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109303

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