Selbstbestimmt Leben und das soziale Modell von Behinderung


Essay, 2003

13 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Spiegelbild und Behinderung

Zuschreibung als gesellschaftliche Sackgasse

Gesellschaft und Behinderung

Behindertensorgen ? - Nicht in den USA!

Der Terror der Normalität

LITERATUR

Der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin (1994) ließ in einer Studie über Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit keinen Zweifel daran, daß er von allen Faktoren, die bei der menschlichen Entwicklung eine Rolle spielen, die individuelle Selbstgestaltung am höchsten schätzt. Mit Bewunderung, ja mit Ehrfurcht spricht er von der Anstrengung eines jeden, sein eigenes Leben zu führen. Daraus leitet er Maßstäbe her, wie ein jeder mit sich selbst umgehen darf. Eine Person hat, wie Dworkin zeigt, "wertebezogene Interessen", die zum Ausdruck bringen, was es heißt, ein wertvolles, sinnvolles Leben zu führen. Sie unterscheiden sich von "erlebnisbezogenen Interessen", die auf das gerichtet sind, was unmittelbaren Genuß bereitet.

Dworkins eindrucksvolles Plädoyer für eine liberale Regelung der Sterbehilfe geht nun von der Feststellung aus, daß wir ein Leben leben und einen Tod sterben wollen, der unseren "wertebezogenen" Interessen gerecht wird. Es geht dabei also nicht allein um den Wunsch, daß einem unerträgliche Qualen erspart bleiben. Die Würde einer Person kann auch von einem Lebensende in Mitleidenschaft gezogen werden, von dem sie selbst gar nichts mehr mitbekommt: wenn sie über Jahre mit technischer Unterstützung im "vegetativen Zustand" gehalten und zu einer bloß biologischen Existenz verurteilt wird, die nichts mehr mit dem zu tun hat, was für sie den Sinn des Lebens ausmachte.

In diesem Sinne ist es durchaus konsequent und keineswegs zynisch, wenn die >Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben< (DGHS) ihre Zeitschrift >Selbstbestimmtes Leben< nennt.

Autonom also >Selbstbestimmt Leben< ist in den vergangenen Jahrzehnten auch für viele behinderte Menschen zur Maxime geworden (Exner 2000). Die mutigsten und politisch aktivsten Vertreter dieses neuen Selbstwußtseins aber gaben sich nicht mit mühsamer (gar konsensorientierter) Interessenabwägung zufrieden, sondern verglichen ihren Protest mehr und mehr mit dem Kampf um Gleichberechtigung von Frauen, Schwarzen und Homosexuellen. Und sie kamen zu dem Schluß, daß sie gar nicht behindert seien, sondern von der Gesellschaft behindert würden. Dieses soziale Modell trat dem medizinischen Modell entgegen, das die Quelle der Behinderung im biologischen Mangel des Individuum sah. Es machte aus Almosenempfängern eine unterdrückte Minderheit, die jetzt lautstark und mit Erfolg ihre Rechte forderte.

Das Ziel eines Selbstbestimmten Lebens bis hin zu Kindern nach eigenem Maß (Spiewak/Viciano 2002), schmeichelt natürlich dem Ego von behinderten Menschen gewaltig. Doch ist das rein soziale Modell von Behinderung, das diesem Ziel zu Grunde liegt, schon allein deshalb dringend revisionsbedürftig, weil es außerhalb der >disability community< auf völliges Unverständnis stößt - und (weil es sich um kein zufälliges Vermittlungsproblem handelt) auch stoßen muß!.

Insbesondere wohlmeinende Zeitgenossen, die sich auf die Kommunikation mit behinderten Menschen einlassen, werden durch die Auffassung, behinderte Menschen würden vor allem von der Gesellschaft - also durch sie selbst - behindert, sehr zurückhaltend gesprochen, immer wieder neu irritiert. Und all diejenigen, die sich gar dafür entschieden haben, gemeinsam mit behinderten Menschen zu leben, müssen sich durch das soziale Modell von Behinderung geradezu vor den Kopf gestoßen fühlen, und sich fragen, ob sie nicht lieber die Optionen der Spaß- und Börsengesellschaft hätten wählen sollen, für ein ganz anderes >selbstbestimmtes Leben<.

Hinzu kommt die, meiner Meinung nach, mit einer falschen Vorstellung von Autonomie verknüpfte Auffassung, >in einer Welt ohne Barrieren< vollziehe sich die Intergration von Behinderten quasi automatisch. Eher das Gegenteil ist der Fall - zumindest in streßfreien oder streßarmen Situationen (Grode 2002b): In der Bibliothek oder im Garten, in der Konzertpause oder im Museum (Hinz 2002), beim Kaffee trinken oder einfach beim in die Sonne schauen (Grode 2002a), schafft fast jede vermeintliche Barriere ganz automatisch (auch) einen Kommunikationsanlaß, vermittelt durch ein Lächeln oder ein freundliches Grinsen. Zunächst natürlich über die offenkundige Behinderung bzw. die Barriere - fast immer aber wird daraus für den Gegenüber ein Anlaß, um von den eigenen Ängsten, Hoffnungen und Wünschen zu erzählen.

Spiegelbild und Behinderung

Im August 2002 fand sich in der Wochenzeitung >Die Zeit< ein Portrait des britischen Bioethiker und Behindertenaktivisten Tom Shakespeare. Der kleinwüchsige Wissenschaftler arbeitet beim International Center for Life im nordenglischen Newcastle. Dort wird das Leben und wie es funktioniert erforscht, indem Wissenschaft und Biotechnologie, Forschung und Bildung, Unterhaltung und Ethik zusammenwirken. Shakespeare ist einer der Direktoren. Er organisiert Gentechnikdebatten, koordiniert Forschungsprojekte zu ihren sozialen Folgen und sucht nach Möglichkeiten, Paare besser über vorgeburtliche Untersuchungen zu informieren.

Tom Shakespeare, einer der Gründerväter der britischen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung propagierte bis vor kurzem ebenfalls das rein soziale Modell von Behinderung. Und er verglich den Protest der Behinderten mit dem Kampf von unterdrückten Minderheiten. Durch eine schreckliche Fügung, schrieb er, mache die Gentechnik zur gleichen Zeit so große Fortschritte, dass die Geburt behinderter Menschen verhindert werden könne. Die Medizin degradiere auf diese Weise das eben erlangte Selbstbewußtsein behinderter Menschen zum Buchstabierfehler im Erbgut. Der britische Behindertenaktivist nahm sogar das Wort Nazi in den Mund, brachte die Horrorvision einer genetisch gesäuberten Zukunft zu Papier: >Der Schluß aus einem großen Teil der Genforschung ist, dass Leute wie ich nicht hätten geboren werden sollen.<

Es war nicht nur das Alter, das Shakespeare mäßigte. Es ist der behinderte Körper selbst und seine Gebrechlichkeit, der die Illusion des rein sozialen Modells von Behinderung über kurz oder lang zerstört oder nie aufkommen läßt. Shakespeare machte diese Grunderfahrung als er 1997 wegen seines geschundenen Skeletts, volle sechs Monate sein Bett nicht verlassen konnte. >Das hat mein Leben verändert.< Vorher hatte er die Gesellschaft für seine Behinderung verantwortlich gemacht, doch die Schmerzen, die er jetzt spürte, kamen nicht von Vorurteilen. >Ich kann verstehen, das Leute nicht so sein möchten.<

Und eine weitere widersprüchliche Einsicht wurde gleich mitgeliefert: >Für 59 Minuten einer Stunde<, bekennt Tom Shakespeare, >bin ich mir überhaupt nicht bewußt, daß ich nicht bin wie die anderen. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann bin ich, na ja, ein bißchen enttäuscht.< Andererseits hat er, ein später Nachfahre des großen Dichters, seine Körperkleine immer als eine >Lizenz zum Auffallen< verstanden. Ein Privileg, daß in der heutigen multimedialen Gesellschaft, in der nur der Aufmerksamkeitswert zählt, (fast) egal, wie er zustande kommt, kaum zu überschätzen ist. Doch als Behinderter, so meine eigene Erfahrung (und wer hat diese nicht zumindest als Beobachter gemacht?) ist es, als reiße man, egal wo man auch hinkommt, zunächst einmal ein (mehr oder weniger großes) Glas um.

Shakespeare machte sich daran, das soziale Modell der Behinderung zu modifizieren: Behinderte werden von beiden behindert, von der Gesellschaft und ihrem Körper. Er änderte auch seine Ansicht über vorgeburtliche Untersuchungen. Einige seiner früheren Standardargumente zerpflückt er heute selbst. Das brachte ihm aus den Reihen seiner früheren Mitkämpfer drastische Kritik ein, auf die Shakespeare empfindlich reagiert: >Ich möchte geliebt werden - vielleicht mehr als andere<.

Und genau in diesem, natürlich völlig berechtigten Bedürfnis, dürfte der Grund liegen, daß sich der britische Behindertenaktivist lediglich zu einer individuellen Infragestellung des sozialen Modells der Genese von Behinderung durchringen kann, das ja auch die mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen Grundlage der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Deutschland ist.

Zuschreibung als gesellschaftliche Sackgasse

Aber dieses Modell ist nicht nur individuell problematisch, sondern, wie schon eingangs angesprochen, vor allem gesellschaftlich dringend revisionsbedürftig. Denn es stößt außerhalb der disability community auf völliges Unverständnis und führt deshalb unweigerlich (zurück) in die gesellschaftliche Isolation, auch wenn dies von viele Betroffenen als Selbstexklusion mißdeutet werden könnte.

Denn so berechtigt die Kritik der Disabiltiy Studies an den gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen auch ist (Tervooren 2002), um so problematischer ist die ihr zugrunde liegende Methode der Gesellschaftskritik, der so genannte Dekonstruktivismus. Es ist dies - sehr verkürzt gesagt - der Versuch, die Struktur der modernen Industriegesellschaften Schicht für Schicht in Frage zu stellen. Da diese postmoderne Kritik aber - im Unterschied beispielsweise zu kantianisch, marxistisch oder kommunitaristisch inspirierten Entwürfen, die allesamt das Spannungsfeld von Gleichheit und (!) Individualität auszuloten und auszuhalten versuchen - keine eigene Idee vom guten Gemeinwesen besitzt, wirkt sie etwa so als pelle man Schicht für Schicht eine Zwiebel ab.

Wenn es aber - so mein politikwissenschaftlicher Hauptkritikpunkt - an der Vorstellung vom Wesen einer Gesellschaft fehlt und erst recht an einer gedanklichen Alternative, so gibt es auch keinen Maßstab für das Innehalten der berechtigten Kritik an der Moderne (Bauman 1992). Und das dekonstruktivistische Abtragen der Schichten von gesellschaftlicher Normalität - ohne die eine Gesellschaft ja gar nicht funktionieren kann - wird zum nicht enden wollenden Selbstzweck. Mit der Konsequenz, dass vom zu untersuchenden Gegenstand - der modernen Gesellschaft - überhaupt nichts mehr übrigbleibt - grad wie bei besagter Zwiebel, in deren innerstem Kern man eine Perle zu finden hoffte.

Jahrhundertelang haben vormoderne Gesellschaften, deren Bewußtsein, wie es der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1989) einmal trefflich formulierte, unter einem Schleier aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn verborgen lag, ihre eigenen eingekapselten inhumanen Potentiale mit Vorliebe behinderten Menschen zugeschrieben.

Gerade >die Geschichte der Krüppel< (Müller 1996) zeigt, in welchem Ausmaß Menschen mit abweichender Physis oder Psyche in den verschiedenen vormodernen Gesellschaften entweder gleich bei der Geburt getötet oder in Ghettos gesperrt oder in anderer, brutalster Weise marginalisiert und unterdrückt wurden.

Naturvölker töteten Neugeborene, die verunstaltet zur Welt kamen. Man erstickte, erwürgte, ertränkte, verbrannte die Kinder, begrub sie bei lebendigem Leibe oder setzte sie in der Wildnis aus. Da man glaubte, Dämonen würden sich in den entstellten Zügen und Körpern der kleinen Krüppel zu erkennen geben, wurde den Leichnamen auch kein formelles Begräbnis zuteil. Man warf sie in den Busch oder verscharrte sie.

Auch die Hochkulturen brachten nicht automatisch einen Fortschritt an Humanität mit sich. Platon läßt Sokrates in einem Dialog berichten, daß es Aufgabe der Hebammen sei, "Mißgeburten" zu identifizieren, deren sich die Mütter dann zu entledigen hatten. Und Aristoteles erklärt in seiner "Politik" bündig: "Was aber die Aussetzung oder Auferziehung der Neugeborenen betrifft, so sei es Gesetz, kein verkrüppeltes Kind aufzuziehen."

Teile der christlichen Geistlichkeit versuchten dann zwar, der überkommenen Praxis des Ausmerzens Einhalt zu gebieten. Der Glaube jedoch, bei physischer Abartigkeit mit dem Bösen selbst konfrontiert zu sein, das es zu vernichten galt, war tief verwurzelt.

Im späten 19. und 20. Jahrhundert erblickte man dann in der Naturgeschichte jene Instanz, die ganz ohne menschliche Einwirkung, kurzen Prozeß macht. Die Evolution gibt nur jenen Exemplaren eine Chance, die sich als angepaßt und durchsetzungsstark erwiesen. Bereits Darwin beklagte jedoch, daß eine allzu human gewordene Menschheit der Natur dabei ins Handwerk pfuschte. (Beck 1992) .Der Nationalsozialismus war auch in dieser Hinsicht ein, geradezu >lustvolle Rückversetzung in vorzivilisatorische Verhältnisse< im Gewand einer rein instrumentellen Moderne. (Grode 1994)

Das soziale Modell von Behinderung hat dieses uralte Zuschreibungsverhältnis in fast schon genial zu nennender Weise in sein Gegenteil verkehrt, indem es alle unerfüllt gebliebenen behinderten Wünsche und Hoffnungen den dämonisch wirkenden gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen der modernen Gesellschaft zuschreibt.

Das ist ein, in postmodern-dekonstruktivistischer Verkleidung daherkommender Rückfall in vormodernes Denken (Baumann 1995). Ein Rückfall von dem wir, um unserer selbst willen, nur hoffen können, dass er (im wesentlichen) auf den Behindertenbereich beschränkt bleibt und nicht generell Schule macht. Denn sonst werden wir uns sehr schnell wieder eine Gesellschaft wie die gegenwärtige wünschen, in der man ohne (allzugroße) Furcht fremd sein kann.

[...]

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Selbstbestimmt Leben und das soziale Modell von Behinderung
Autor
Jahr
2003
Seiten
13
Katalognummer
V109437
ISBN (eBook)
9783640076185
ISBN (Buch)
9783656247210
Dateigröße
369 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstbestimmt, Leben, Modell, Behinderung
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2003, Selbstbestimmt Leben und das soziale Modell von Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109437

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