Die Funktionen von Vorurteilen unter besonderer Berücksichtigung der Sündenbockfunktion


Hausarbeit, 2005

9 Seiten


Leseprobe


1. Einleitung

2. Vorurteile
2.1. Funktionen von Vorurteilen für Gruppen
2.1.1. Identitätsstiftende und abgrenzende Funktion
2.1.2. Selbstaufwertende Funktion
2.1.3. Aggressionsabbauende Funktion

3. Das Sündenbock-Phänomen
3.1. Bezug der Funktionen von Vorurteilen auf die Entstehung vom Sündenbockphänomen
3.1.1. Identitätsstiftende und abgrenzende Funktion
3.1.2. Selbstaufwertende Funktion
3.1.3. Aggressionsabbauende Funktion

4. Zusammenfassung/Schluss

5. Literaturverzeichnis

Katrin Hartung

Abgabe/Versandtermin: 03.07.2005

1. Einleitung

Als Vorurteile werden – umgangssprachlich und nicht–wissenschaftlich - in der Regel Voreingenommenheiten gegenüber anderen Menschen oder Objekten bezeichnet, die einer realen Grundlage und Überprüfung entbehren. Als Beispiel könnte die Gruppe der Norddeutschen von der Küste angeführt werden, denen Wortkargheit und ein geringes Maß an Flexibilität als Eigenschaften zugeordnet werden oder die Gruppe der vermeintlich kleptomanen Polen.

Warum interpretieren wir unklare Situationen im Alltag zwischen Menschen so, wie wir es tun?

Warum wird z.B. eine gesellschaftliche Gruppe (z.B. Arbeitgeberverbände) für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten eines Landes verantwortlich gemacht?

Das Interesse dieser Hausarbeit liegt darin, zu ergründen, welche Ursache bzw. Funktion Vorurteile für Gruppen haben. Das Voraussetzen einer Funktion begründet sich in der Überlegung, dass ein so stabiles, überdauerndes Phänomen wie das Vorurteil nicht ohne Grund generiert und erhalten werden würde.

Anhand von grundlegenden Theorien zum Verhalten von Gruppen und historischen und alltäglichen Beispielen sollen diese Funktionen ergründet werden.

Des Weiteren soll das Phänomen des Sündenbocks, der als Grund für eigene Nachteile wahrgenommen und stigmatisiert wird, dargestellt werden und die oben genannten Funktionen von Vorurteilen sollen hieran einzeln verifiziert werden.

Vorurteile und das Sündenbockphänomen werden hier als abhängig voneinander betrachtet. Die Betrachtung einer Gruppe als Sündenbockfeindbild und die Folgen passieren häufig auf der Basis von vorher bestehenden Vorurteilen.

So existierten z.B. über die Gruppe der Juden schon lange vor dem dritten Reich Vorurteile in Bezug auf ihr Aussehen oder ihren Umgang mit Geld, die von den Nationalsozialisten nur geschickt weiter „ausgebaut“ wurden, um diese Gruppe für viele aktuelle Schwierigkeiten verantwortlich machen zu können.

Die Frage dieser Hausarbeit ist also folgende:

Können die Vorteile, hier speziell die Funktionen, die die Generierung und Aufrechterhaltung von Vorurteilen für Gruppen über Gruppen haben, auch zur Erklärung der Entstehung vom Sündenbockphänomen dienen?

2. Vorurteile

Grundsätzlich ist über Vorurteile von Gruppen gegenüber anderen Gruppen zu sagen, dass vor dem Vorurteil die „Soziale Kategorisierung“ der Umwelt liegt. (Güttler, 2000, S.154). Wir alle systematisieren unsere Umwelt in soziale Kategorien und Gruppen, zu denen wir selbst gehören / nicht gehören wie z.B. die Gruppen der Männer, Mütter, Krankenschwestern, Deutschen, Fußballfans, etc.

Dies folgt dem verbreiteten Wunsch des sozialen Wesens, sich selbst einer Gruppe zuzuordnen und auch die Welt um sich herum überschaubarer und kategorisierbarer zu machen.

Dieser Prozess ist nötig, um Gruppen auch Wertungen, also Urteile zu geben.

Bevor wir weiter zu den Vorurteilen im Speziellen kommen, ist in diesem Zusammenhang noch der Begriff des Stereotyps zu nennen: Nach Lippmann (1922, zitiert nach Güttler, 2000, S.110) ist das Stereotyp die „kognitive Komponente“ des Vorurteils, also Fiktionen, Bilder in unseren Köpfen, die weder wahr noch falsch sind, also voreingenommene Modelle, die bestimmen, wie Fakten zu sehen, Realitäten einzuschätzen sind.

Sie sind als Grundlage, als weitere vorbereitende Basis der Vorurteile zu betrachten.

Zur Erläuterung der Vorurteile hier zwei Definitionen, die sehr unterschiedlich sind und auch unterschiedliche Aspekte von Vorurteilen beleuchten.

„Vorurteile sind Urteile bzw. Aussageformen über Personen und Personengruppen, die falsch, voreilig, verallgemeinernd und klischeehaft sind, nicht an der Realität überprüft wurden, meist eine extrem negative Bewertung beinhalten und stark änderungsresistent, d.h. durch neue Informationen nur schwer oder kaum zu modifizieren sind und sich somit durch eine bemerkenswerte Stabilität auszeichnen.“ (Güttler, 2000, S. 108)

Diese Definition arbeitet besonders die Charakteristika der fehlenden Realitätsprüfung, der meist negativen Wertung und der Hartnäckigkeit heraus. Meines Erachtens nach ist sie recht genau und treffend und stellt besonders die Erscheinung von Vorurteilen wie man ihnen täglich begegnet, heraus.

Eine weitere erhellende Beschreibung kommt von Allport.

Er definiert das Vorurteil folgendermaßen: „eine ablehnende oder feindselige Haltung gegen eine Person, die zu einer Gruppe gehört, einfach deswegen, weil sie zu dieser Gruppe gehört und deshalb dieselben zu beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man dieser Gruppe zuschreibt.“

(Allport, 1971, S.21)

Allport hebt besonders den Aspekt der Gruppenzugehörigkeit hervor. Die Verallgemeinerung von angenommenen Eigenschaften einer Gruppe, die sich dann auch auf das einzelne Individuum erstreckt, welches Mitglied dieser Gruppe ist. Hier wird besonders deutlich, dass kaum ein Vorurteil über Gruppen einer Realitätsprüfung stand hält: findet man nur einen anderen Fall, kann die Gruppe diese Eigenschaft nicht mehr insgesamt haben (z.B. alle Krankenschwestern wollen einen Arzt heiraten).

Als kleiner Einschub ist noch zu sagen, dass es natürlich auch positive Vorurteile gibt (Deutsche sind alle pflichtbewusst, pünktlich und ordentlich), jedoch sollen diese hier nicht weiter berücksichtigt werden, da sie bei der Entstehung des Sündenbockphänomens keine Rolle spielen.

Zum uns besonders interessierenden Intergruppenphänomen des Vorurteils sagt Güttler, dass das Vorurteil neben dem kommunikativen Inhaltsaspekt auch immer eine Aussage über den (bei negativen Vorurteilen gestörten) Beziehungsaspekt von Gruppen oder Mitgliedern trifft (in Anlehnung an Watzlawicks Modell der Kommunikation, Axiom 2).

Vorurteile gegenüber Fremdgruppen sind also immer relational und aus der Perspektive einer sog. „ingroup – outgroup“ („wir“ und „sie“) Beziehung zu sehen. Der gestörte Beziehungsaspekt – im Sinne von: wie beziehen sich die Mitglieder sozialer Gruppen aufeinander, wie gehen sie miteinander um und wie definieren sie ihre zwischenmenschlichen Relationen – überschattet dabei den Inhaltsaspekt und gibt an, wie letzterer zu verstehen ist. (vgl. Güttler, 2000, S.109).

In Bezug auf die vorliegende zu untersuchende Thematik heißt das, dass ein Vorurteil auch einen, real existierenden oder zumindest wahrgenommenen Konflikt zwischen Gruppen ausdrückt. Das kann z.B. der deutsche Jugendliche sein, der das Gefühl hat, ein türkisch stämmiger Jugendlicher, der einen Ausbildungsplatz erhalten hat, habe ihm diesen „weg genommen“ (auch wenn die Entscheidung auf Grund objektiver Anhalte, wie z.B. der Schulnoten, getroffen wurde), und der dann mit Jugendlichen mit ähnlichen Erfahrungen (wir Deutschen) über die „raffgierigen Türken“ (sie, die Einwanderer) spricht. Der zu Grunde liegende Konflikt ist hier also das Gefühl der sozialen Benachteiligung zu Gunsten anderer.

Zur Erklärung der Entstehung von Vorurteilen gibt es unterschiedliche, unter anderem viele individualtheoretische Ansätze. So geht z.B. Allport unter anderem von der Existenz einer vorurteilshaften Persönlichkeit aus (Allport, 1971, S.397).

Adorno nimmt eine autoritäre Persönlichkeit als prädestiniert für die Bildung von Vorurteilen an (Adorno et al, 1950, zitiert nach Fischer/Wiswede, 2002, S. 277).

Des Weiteren gibt es die kulturellen Ansätze zur Erklärung von Vorurteilen (besonders der ethnischen). Hierzu sagt Allport u.a., dass besonders in einer homogenen Kultur die Gefahr besteht, dass Ausländern und Fremden misstraut wird. (Allport, 1971, S. 230)

Die für diese Arbeit interessierenden Ansätze zur Erklärung sind jedoch die der Intergruppenebene. Wie kommt es zu Vorurteilen zwischen Gruppen?

Für die Beantwortung dieser Frage sind u.a. die Theorien und Untersuchungen von Sherif und Sherif, deren Ansatz die „Theorie des realistischen Gruppenkonfliktes“[i] genannt wird, und die Untersuchungen in Ferienlagern mit Jugendlichen durchführten. Sie nahmen an (und konnten auch bestätigen), dass Vorurteile unter anderem das Ergebnis eines Wettbewerbs um seltene, knappe Ressourcen seien, deren Erlangen der einen Gruppe das Erlangen durch die andere Gruppe ausschließt. (Güttler, 2000, S.132).

Die andere, sehr wesentliche Theorie zur Erklärung von Gruppenkonflikten und Vorurteilen ist die Theorie der sozialen Identität (SIT) von Henri Tajfel. Eine der wesentlichsten Thesen Tajfels ist es, dass die jeweilige Gruppenmitgliedschaft und die Identifikation mit sozialen Kategorien wesentlich das Verhalten von Personen mitbestimmt. (Tajfel, 1979, zitiert nach Güttler, 2000, S. 147 ff.) Er unterscheidet (als theoretische Extreme) das „interpersonale“ Verhalten zwischen Individuen und setzt es in Kontrast zum „intergruppalen“ Verhalten von Individuen als sozialen Gruppenmitgliedern. Er geht in seinen Untersuchungen insofern weiter als Sherif und Sherif, als er annimmt, dass lediglich die Mitgliedschaft bzw. die soziale Kategorisierung schon eine notwendige und hinreichende Bedingung der Diskriminierung von Gruppen ist. (Güttler, 2000, S.152)

Nun macht er aber auch Aussagen über die hier zu untersuchende, differenzierte Fragestellung der Funktionen, die Vorurteile für Gruppen haben.

2.1. Funktionen von Vorurteilen für Gruppen:

2.1.1. Identitätsstiftende, abgrenzende Funktion

Grundsätzlich ist zur Funktion von Einstellungen (also auch von Vorurteilen als Teilklasse sozialer Einstellungen) gegenüber sozialen Objekten zu bemerken, dass die „Zur Schaustellung“ sozialer Einstellungen zum Aufbau persönlicher und sozialer Identität beiträgt.

Einstellungen ermöglichen es, den eigenen Standpunkt zu sozialen Sachverhalten auszudrücken.

Indem ich also meine Meinung über andere Gruppen darstelle und mich zu ihr positioniere, kann ich mir selbst, z.B. in meiner politischen Haltung, ein gewisses Profil geben. Ich sage z.B. über Amerikaner, sie seien alle zu dick und hätten keine Meinung zur augenblicklichen politischen Situation in ihrem Land und mache damit klar, dass ich nicht gerade mit den Einwohnern der USA, ob politisch oder in Ernährungsfragen, sympathisiere.

Ich kann z.B. in Diskussionen, also in Sozialkontexten, meine individuelle Ansicht darstellen und öffentlich machen.

Als alltägliches Beispiel sind besonders die Jahre des Erwachsenwerdens zu nennen, in denen es von besonderer Wichtigkeit ist, Einstellungen und Haltungen kund zu tun, um sich als Persönlichkeit wahrnehmen und kennen lernen zu können.

Zur abgrenzenden Funktion ist ein Zitat von Tajfel bezeichnend: „We are what we are, because they are not what we are“ (Tajfel, 1979, zitiert nach Güttler, 2000, S. 158). Hier wird sehr genau die Grenze zwischen Innen- und Aussengruppe gezogen und klar gemacht, dass „wir“ uns durch die wahrgenommene Andersartigkeit der anderen erst unserer individuellen Gruppenspezifika klar werden und von der Außenwelt damit abgrenzen können.

2.1.2. Aufwertung /Abwertung der Eigengruppe gegenüber der Fremdgruppe

Bezug nehmend auf den konflikttheoretischen Ansatz, besonders untersucht in den „Ferienlagerexperimenten“ von Sherif und Sherif kann die Entstehung von Stereotypen und Vorurteilen aus konkurrenz- und konflikthaften Gruppenprozessen erklärt werden. Im Kampf um vermeintlich wertvolle Güter (z.B. ein Messer als Belohnung für die siegende Gruppe), kam es zur extrem positiven Bewertung von Mitgliedern der eigenen Gruppe (mutig, ausdauernd, ordentlich) und zu Abwertung der Fremdgruppe (hinterlistig, unsauber, spielverderberisch) (Sherif und Sherif, zitiert nach Güttler, S. 138, 2000). Dies kann mit Sicherheit auch auf alltägliche wertvolle Güter, z.B. Ausbildungsplätze, bezogen werden.

Nach der Soziale–Identitäts–Theorie von Tajfel gelingt es den Mitgliedern einer Majorität, die eine Randgruppe abwerten, das eigene moralische Selbstbild kompensatorisch zu untermauern und in ein besseres Licht zu stellen. (Tajfel, 1979, zitiert nach Güttler, 2000, S. 147 ff.)

Eine Gruppe strebe danach, sich selbst in ihrer Identität als positiv wahrzunehmen, sich in der Folge überzubewerten und die Fremdgruppe abzuwerten.

Sherif und Sherif haben in ihren Experimenten nachweisen können, dass Interessenskonflikte zwischen Gruppen (wir können unser Ziel nur auf Kosten der Anderen bzw. nur einer von uns kann das Ziel – erreichen), zu Feindseligkeiten zwischen Gruppen sowie einer höheren Solidarität innerhalb der eigenen Gruppe führen. (vgl. Fischer/Wiswede,2002, S. 653-56)

Auch hier sind alltägliche Vergleichssituationen vorstellbar: z.B. im Kampf um bessere Bedingungen am Arbeitsplatz, der in der Auseinandersetzung zwischen der Gruppe der Geschäftsleitung und der Gewerkschaftsmitglieder ausgetragen wird.

Ziel der eigenen auf- bzw. fremdabwertenden Verhaltensweisen (den ausdrückenden Urteilen) ist also die positivere Selbstaufwertung und die höhere Solidarität innerhalb der eigenen Gruppe.

2.1.3. Aggressionsabbau einer Gruppe

Des Weiteren ergab die Untersuchung von Sherif und Sherif, (vgl. Güttler, 2000, S.140) dass interne Gruppenaggressionen, wie z.B. Rivalität, über eine Verlagerung nach außen, also z.B. auf die Fremdgruppe, abgeführt werden können. Ausgehend von der psychoanalytischen Sicht der sog. „Aggressionsverschiebung“ wird hierbei nicht gegen das eigentliche (ursächliche) Ziel der Aggressionsverursachung agiert, sondern gegen ein anderes Objekt (hier: Fremdgruppe). Laut der o.g. Untersuchung hat dies meist nicht nur das Auslagern der Aggressionen (und somit nicht mehr das Innergruppenklima störend) als positive Folge, sondern auch die Erhöhung der Kohärenz (des Gruppenzusammenhaltes, der Gesamtheit der gruppenzusammenhaltenden Faktoren) innerhalb der Gruppe.

Führt man diesen tiefenpsychologischen Gedankengang noch weiter, so können Fremdgruppen und deren Mitglieder auch als Projektionsobjekte betrachtet werden, auf die unbewusst eigene, nicht akzeptable Motive (abgewehrte), Bedürfnisse, Einstellungen, Persönlichkeitseigenschaften und dergleichen nach außen verlagert und auf diese Weise für den Betroffenen erträglicher, aber auch manipulierbarer, also bekämpfbarer, werden (vgl. Güttler, 2000, S.138).

Die Frustrations-Aggressionshypothese von Dollard et al.,1939, die besagt, dass auf Frustration stets Aggression folge und dass Aggression stets eine Folge von Frustration sei, hat sich in dieser Reinform nicht bestätigen lassen. Jedoch wird angenommen, dass Ärger auslösende bzw. aversive Stimuli das Auftreten aggressiven Verhaltens und somit auch Vorurteile, wenn man sie als aggressiven Akt betrachtet, erhöht. (vgl. Fischer, Wiswede, 2002, S.143).

Ziel der Vorurteile bzw. des feindlichen Verhaltens ist also die Erhöhung der Gruppenkohärenz, die Auslagerung der Aggressionen der Gruppe nach außen und die Möglichkeit der Bekämpfung eigener negativ wahrgenommener Anteile und Eigenschaften im Anderen.

3. Das Sündenbock-Phänomen

„Ein Sündenbock ist ein leicht abzuschießender Bock.“ (Allport, 1968, S. 60)

Ursprünglich stammt der Terminus Sündenbock aus einem hebräischen Ritual. Dieses Ritual wird in der Bibel im 3. Buch Mose beschrieben (16:20-22). Einem lebendigen Bock werden hier von Aaron die Hände aufgelegt und ihm werden symbolisch die Sünden des Volkes Israel übertragen. Danach wird er in die Wüste gejagt. Diesen Bock nannte man Sündenbock.

Die Gruppe der Israeliten wurde also von ihren eigenen Sünden befreit, indem man sie gebündelt auf eine symbolhafte Figur übertrug und diese dann verjagte (bzw. in der Wüste verdursten ließ).

Im heutigen Alltagssprachgebrauch finden wir weiterhin den Terminus des Sündenbocks, wir finden aber auch umgangssprachliche Beschreibungen wie Prügelknabe, Buhmann oder Feindbild.

Diese Synomyme weisen auf das „Alltagsphänomen Sündenbock“ hin.

Ein Beispiel ist die Gruppe der Juden, die im dritten Reich für die eingebildeten und realen Missstände in Deutschland verantwortlich gemacht wurden.

Zur „Auswahl“ des Sündenbocks weist Allport darauf hin, dass einige Gruppen, wie Juden oder Farbige, relativ global für erlebte Übel verantwortlich gemacht werden, während es für speziellere Zusammenhänge zu „Ad–hoc–Sündenböcken“ kommt, wie z.B. die Ärztevereinigung (vgl. Allport, S. 252, 1971).

In der unterschiedlichen, hier verwendeten Literatur zeigte sich, dass es i.d.R. Minoritäten waren, die zum Sündenbock erkoren wurden. Allport bezeichnet sie in seinem Buch als nicht lediglich faktische, sondern psychologische Minderheiten, die Gegenstand einer geringfügigen Herabsetzung (Vorurteile) seien, und deren „Steigerung“, die schon reale „Feindschaft“ auf sich ziehenden Sündenböcke seien. (vgl. Allport, S. 252, 1971).

Den o.g. „Sündenböcken für alles“ kommen laut Allport religiöse, ethnische oder rassische Gruppen am nächsten, da sie beständig überall vorhanden seien und man ihnen daher als Gruppe ein Stereotyp geben könne.

Im sozialwissenschaftlichen Kontext hat die Sündenbocktheorie ihren Ursprung in der Frustrations–Aggressions Hypothese von Dollard et al. (s.o.), und sollte ursprünglich als Erweiterung dieser These dienen. Diese Theorie ist jedoch weitgehend empirisch nicht bewiesen worden (vgl. Selg/Mees/Berg, 1997, S.24).

Jedoch gibt es viele nivellierte Formen, u.a. von Berkowitz, der sagt, dass es bei geeigneten „Hinweisreizen“ (sog. Cues), durchaus nach Frustrationen zu Aggressionen kommen kann, jedoch nicht immer, wie Dollard et al. ursprünglich annahmen.

(Selg/Mees/Berg,1997, S.24.)

Hiermit lässt sich daher nur begrenzt, das in der Realität, wie die Beispiele zeigen, häufig auftretende Sündenbockphänomen erklären, daher soll versucht werden, die unterschiedlichen Funktionen von Vorurteilen für Gruppen daraufhin zu überprüfen, ob sie zur plausibleren Erklärung des Sündenbockphänomens dienen können.

Allen „ausgewählten Sündenböcken“ gemein ist, dass sie Opfer von gesellschaftlichen Stigmatisierungen ohne Grund werden, also unschuldige Opfer sind (s. auch Allport, 1971, S.251).

3.1. Bezug der Funktionen von Vorurteilen auf die Erklärung des Sündenbockphänomens:

3.1.1. Identität, Abgrenzung

Mit den o.g. Funktionen des Wunsches nach Wahrnehmung einer eigenen Identität und Begrenzung nach außen, als „wir und sie“, als Gruppe lässt sich meines Erachtens nach nur begrenzt die Stigmatisierung einer Gruppe als Sündenbock erklären. Diese Funktion kann lediglich die Wahrnehmung anderer als „psychologische Minorität“ erklären, zu der Ablehnung in Form des Sündenbockphänomens hat sie nicht die ausreichende Reichweite bzw. Plausiblität.

Natürlich kann die Existenz dieser Funktion nicht geleugnet werden. Wenn z.B. Fußballfans sich über Anhänger anderer Vereine erheben, um sich als Gruppe über diesen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der Ablehnung der Anderen zu solidarisieren. Hier werden dann oft dieser Gruppe Merkmale zugeschrieben und sie wird unabhängig von ihrer Beteiligung für eigene Misserfolgserlebnisse verantwortlich gemacht.

3.1.2. Selbstaufwertung

Die Selbstaufwertung als Erklärung für das Sündenbockphänomen hat einige Plausibilität. Fühlen wir uns unterlegen, bzw. nehmen wir den anderen als stärker, kompetenter wahr, kann es bei uns zu dem Wunsch kommen, ihn ab- um uns aufzuwerten.

Historisch gesehen, so argumentiert Allport, kann z.B. bei der jahrhundert langen Verfolgung der Juden als historisches Beispiel für ein Sündenbockphänomen, davon ausgegangen werden, dass ein Grund Neid auf bestimmte wahrgenommene Eigenschaften dieser Gruppe war. (Allport, S. 258, 1971).

Als Beispiel im speziellen führt Allport die Gelehrsamkeit an:

„Der jüdische Intellektualismus erinnert an die eigenen Versäumnisse in Unwissenheit und Faulheit. Wieder einmal stehen die Juden symbolisch für unser Gewissen, gegen dessen Stachel wir uns wehren. Gegenüber den großen Anforderungen des zu lernenden fühlen wir uns verhältnismäßig minderwertig in unseren geistigen Bemühungen. Wenn die Juden uns (...) diese Minderwertigkeit bewusst machen, fühlen wir Neid. Indem wir ihre Schwächen und Sünden aufzählen, erlangen wir unser Gleichgewicht wieder. “ (Allport, S. 258, 1971).

Hier kommt deutlich das Gefühl der Minderwertigkeit bzw. der Defizite zum Vorschein, von dem wir uns befreien wollen, indem wir den, der es uns spüren lässt, bzw. vor Augen führt, leiden lassen.

Dies kann als „klassische Sündenbock – Situation“ betrachtet werden: der andere hat keinerlei Fehlverhalten begangen und wird für eine, hier bei uns selbst wahrgenommene, Sünde bestraft.

3.1.3. Aggressionsabbau, Frustrationen, Aversionen gegen Fremdgruppen

Diese Funktion ist die „klassische“ Erklärung des Sündenbockphänomens. Sie kann in der Realität unterschiedliche Formen annehmen. Entweder „primär“, z.B. wenn ein Unschuldiger, der gerade in der Nähe ist, nur ob dieser Anwesenheit im falschen Moment die Aggressionen „ab bekommt“. (vgl. Nolting, 1997, S. 145)

Als Beispiel für einen „sekundärer Aggressionsabbau“ kann man die tiefenpsychologische Theorie der Übertragung eigener abgelehnter Anteile auf eine andere Gruppe und die Möglichkeit der Bekämpfung, die sich damit bietet, betrachten, die wie oben beschrieben, eine Funktion von Vorurteilen für eine Gruppe sein kann.

Dies ist auch eine recht plausible Erklärung vom Sündenbockphänomen. Nicht nur im eigentlichen Sinn der Entstehung des Wortes in der Bibel war bereits diese Erklärung enthalten.

Indem wir also mit dem Finger auf etwas zeigen können und jemanden einer angenommenen oder begangenen Tat beschuldigen können, machen wir uns selbst erhaben über diese Eigenschaft und können in der Ablehnung diese, auch bei uns selbst existierende Eigenschaft, bekämpfen.

Ein alltägliches Beispiel für diese Methode ist die BILD–Zeitung oder die Yellow Press. Hier werden Eigenschaften von Individuen oder Gruppen angeprangert („dieses Land ist Weltmeister im Klauen“ „Bohlen küsst fremd - Freundin schwanger“), (Bild am Sonntag, 22.05.2005), die durchaus bei sich selbst als Impulse wahrgenommen und bei anderen als eindeutig abzuwertenden Charakterzug willkommener Gesprächsstoff sind.

Auch unbegründete Aversionen können zur Stigmatisierung zum Sündenbock führen. Im Nationalsozialismus wurde z.B. die Ablehnung gegen die Gruppe der Sinti und Roma bewusst geschürt. Ihnen wurde das Anrecht auf die Existenz abgesprochen, weil sie Nomaden sind und anders als „die Deutschen“ aussehen. Sie wurden zu Parasiten der Gesellschaft erklärt und damit wurde versucht, ihre Verfolgung zu erklären und nachvollziehbar zu machen. (vgl. Luckmann u. Luckmann, 2002, S. 67). Da auch hier die betroffene Gruppe unschuldig ist, kann meines Erachtens nach von einem Sündenbockphänomen gesprochen werden.

Das Ziel der Auslagerung der innergruppalen Aggressionen nach außen wird z.B. besonders im Arbeitskontext sichtbar. Wir nehmen Dissonanzen zu direkten Kollegen wahr und versuchen uns über die Feindschaft zu anderen (die Verwaltung, das Lohnbüro) wieder zu solidarisieren, bzw. die Aggressionen gegen den direkten Kollegen nicht den Arbeitsalltag belasten zu lassen.

4. Zusammenfassung / Schluss

In der vorliegenden Hausarbeit sollte dargelegt werden, welche Funktionen die Generierung und Erhaltung von Vorurteilen durch Gruppen gegenüber anderen Gruppen haben. Nicht dargestellt werden sollten andere Ebenen, die zu Stereotypen und Vorurteilen führen, wie die Individuelle oder die kulturelle Ebene.

Mit Hilfe einiger wesentlicher Theorien und Untersuchungen wurden einige Funktionen dargestellt, die Vorurteile für Gruppen haben.

Herausgearbeitet wurden besonders die Funktionen der Wahrnehmung der eigenen Identität und Abgrenzung als Gruppe, die Funktion der Selbstaufwertung per Stigmatisierung bzw. Abwertung anderer und die Folge der höheren Solidarität innerhalb der Gruppe sowie die Funktion der Aggressionsauslagerung von Gruppenaggressionen bzw. der Bekämpfung abgelehnter eigener Anteile im Fremden.

Nachdem das Phänomen des Sündenbocks dargestellt worden ist, wurden die o.g. Funktionen auf ihre Fähigkeit zur Erklärung dieses Phänomens auf der Intergruppenebene untersucht.

Mit Hilfe von alltäglichen und historischen Beispielen wurde versucht darzulegen, dass besonders die Aggressionsübertragung sowie die Selbstaufwertung auch eine realistische Erklärung für das Entstehen von Sündenböcken liefern.

Trotz der ursprünglich psychodynamischen und rein frustrationstheoretischen Erklärung des Sündenbockphänomens wurden auch andere Funktionen, die die Stigmatisierung anderer für Gruppen haben, gefunden.

Neben der Aggressionskomponente hatte besonders die Funktion der Selbstaufwertung einige Plausiblität.

Ein Stück unklar blieb, inwiefern auch den Funktionen/Motiven der Abwertung anderer zum Zweck der positiveren Selbstwahrnehmung eine aggressive Verhaltenskomponente zu Grunde liegt, da sie ja in der zitierten Untersuchung von Sherif und Sherif auf Intergruppenkonflikten basiert.

An dieser Stelle muss festgestellt werden, dass mit der Intergruppen–Ebene zur Erklärung von Vorurteilen und Sündenbockphänomen nur ein Ausschnitt innerhalb eines komplexen Themas dargestellt werden kann. Das Phänomen der Entstehung von Stereotypen, Vorurteilen und der Sündenbock–Erscheinung muss weiter als komplexes, multifaktoriell verursachtes Gesellschaftsproblem betrachtet werden. Im Zusammenhang der Bekämpfung solcher Tendenzen dürfen mit Sicherheit auch übergeordnete politische Zusammenhänge und Vorbedingungen nicht ausser Acht gelassen werden. Nichtsdestotrotz könnten auch die hier herausgearbeiteten Funktionen für Gruppen in der Bekämpfung - besonders ethnischer - Vorurteile zum genaueren Verständnis dieses komplexen Zusammenhangs berücksichtigt werden.

Gerade beim Thema Vorbeugung gegen neue extrem nationalistische Tendenzen, die andere Gruppen zu Feindbildern stilisieren, können z.B. die Ursachen „bei sich selbst wahrgenommene Defizite“ und „unbegründeter Neid“ zur Vermeidung der Entstehung von Sündenböcken wichtig zu berücksichtigen sein.

Gerade in benachteiligten und sozial schwachen Gruppen spielen meines Erachtens nach diese Faktoren nicht nur zur Erklärung von Vorurteilen, sondern auch zur Erklärung der Entstehung von realen Sündenbockphänomenen eine Rolle.

Dieser Zusammenhang könnte zu Prophylaxezwecken meines Erachtens noch weiter untersucht werden.

5. Literaturverzeichnis

Allport, Gordon: die Natur des Vorurteils. Köln: 1971: Kiepenheuer & Witsch

Güttler, Prof. Peter O.: Sozialpsychologie. Soziale Einstellungen, Vorurteile, Einstellungsänderungen. München: 2000: Oldenbourg

Luckmann, Benita, Luckmann, Thomas. Kurs 3154, Wissen und Vorurteil. Hagen: 2002: FernUniversität Hagen

Selg, Herbert, Mees, Ulrich, Berg, Detlef. Psychologie der Aggressivität. Göttingen: 1997: Hogrefe

Diverse Autoren: Die Bibel. Luthertext. Stuttgart: 1991: Deutsche Bibelgesellschaft

Fischer, Dr. Lorenz, Wiswede, Dr. Günter. Grundlagen der Sozialpsychologie. München: 2002: Oldenbourg

Nolting, Hans Peter: Lernfall Aggression. Hamburg: 1997: Rowohlt Taschenbuch Verlag

[...]


[i]Die Ferienlagerexperimente von Sherif und Sherif hatten zum Ziel, nachzuweisen, dass es beim Kampf um Ressourcen zwischen Gruppen mit inkompatiblen Zielen zu Feindseligkeiten und der Abwertung der anderen Gruppe kommt. In mehreren Phasen wurden bestimmte Gruppenprozesse provoziert: die Phase der Gemeinsamkeit, die Phase der Trennung, die Phase des Konfliktes, die Phase der Spannungsreduktion.

Innerhalb dieses Verlaufes konnten Sherif und Sherif nachweisen, dass auch zwischen Gruppen, die sich vorher nicht kannten, bzw. sogar z.T. aus getrennten Freundespaaren bestand, unter bestimmten äußeren Umständen Intergruppenaggressionen und Feindseligkeiten provoziert werden konnten.

(vgl. Güttler, 2000, S. 132 ff).

Ende der Leseprobe aus 9 Seiten

Details

Titel
Die Funktionen von Vorurteilen unter besonderer Berücksichtigung der Sündenbockfunktion
Hochschule
FernUniversität Hagen
Autor
Jahr
2005
Seiten
9
Katalognummer
V109573
ISBN (eBook)
9783640077533
ISBN (Buch)
9783640114313
Dateigröße
378 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine übersichtliche und dem Thema angemessene Gliederung und eine theoriebezogene Durchführung, mit überzeugender und plausibler Argumentation. Auf die notwendigerweise selektive Behandlung des Themas haben sie selbst hingewiesen.
Schlagworte
Funktionen, Vorurteilen, Berücksichtigung, Sündenbockfunktion
Arbeit zitieren
Katrin Hartung (Autor:in), 2005, Die Funktionen von Vorurteilen unter besonderer Berücksichtigung der Sündenbockfunktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109573

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