Individualisierung und Diversifizierung als Elemente des sozialen Wandels


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

36 Seiten


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Individualisierung als aktueller Untersuchungsgegenstand

2. Individualisierung und Diversifizierung als Elemente eines übergreifenden sozialen Wandels
2.1. Allgemeines zur Fragestellung
2.1.1. Die Entwicklung des Individualisierungsgedankens
2.1.2. Individualisierung: Ein postmodernes Phänomen?
2.2. Das Phänomen der Individualisierung
2.2.1. Zur Theorie
2.2.2. Begriffliche Klärung und Beschreibung
2.2.3. Ursachen und begünstigende Begleitumstände
2.2.4. Auswirkungen: Der ambivalente Charakter der Individualisierung
2.2.5. Individualismus – Eine Typologie
2.2.6. Ausgewählte Konzepte
2.2.6.1. Individualisierung und Modernisierung nach Beck
2.2.6.2. Die „Erlebnisgesellschaft“ von Schulze
2.2.6.3. Zusammenfassung
2.3. Individualisierung im räumlichen Kontext
2.3.1. Die Individualisierung und der Raum
2.3.2. Individualisierung und Freizeit
2.3.2.1. Die Nachfrageseite
2.3.1.1.1 Ein neuer Nachfrager-Typ
2.3.1.1.2 Die „neue Körperlichkeit“
2.3.2.2. Die Angebotsseite
2.3.2.2.1. Neue Herausforderungen
2.3.2.2.2. Reaktionen der Anbieter
2.3.2.3. Individual- und Massentourismus: Ein Spannungsfeld
2.3.3. Versuche der Erfassung: Motive, Milieus, Lebensstile
2.3.3.1. Motivationsgrundlagen
2.3.3.2. Milieubetrachtung
2.3.3.3. Das Lebensstilkonzept: Ein neuerer Ansatz

3. Zusammenfassung und Entwicklungstendenzen

1. Individualisierung als aktueller Untersuchungsgegenstand

Viel genannt ist der Begriff der Individualisierung als Schlagwort in unserer heutigen Zeit. Doch was ist damit gemeint? Entspricht die Thematisierung dieses Phänomens nur dem Zeitgeist oder ist es inzwischen überall so präsent, dass sich ihm keiner mehr zu entziehen vermag? Fest steht jedenfalls, dass der Begriff der Individualisierung seit den 80er Jahren, u. a. in Folge seiner Thematisierung in den Theorien des deutschen Soziologen Ulrich Beck, enorm an Popularität gewann. Mit Sicherheit kann man jedoch auch sagen, dass analog der gesellschaftlichen Entwicklung ein zunehmender Individualisierungsgrad feststellbar geworden ist. Doch wie kommt es dazu? Was sind die Ursachen und Auswirkungen? Dererlei Fragen sollen hier zumindest ansatzweise behandelt werden.

In dieser Arbeit sollen uns neben einigen theoretischen Grundlagen, die in großer Zahl vorhanden sind, vor allem die räumlichen Auswirkungen der Individualisierung interessieren, welche sich wohl am deutlichsten im Tourismus, aber auch in sonstigem Freizeitverhalten widerspiegeln.

Doch zunächst wollen wir bei der Individualisierung bleiben, die in ihren heutigen Ausmaßen vor allem (noch) als ein neuzeitliches Phänomen des okzidentalen Kulturkreises angesehen werden kann. In welchen gesellschaftlichen und entwicklungstheoretischen Kontext es eingebettet ist, soll im Folgenden beleuchtet werden.

2. Individualisierung und Diversifizierung als Elemente eines übergreifenden sozialen Wandels

2.1. Allgemeines zur Fragestellung

Wenn man von Individualisierung als einem Element des sozialen Wandels spricht, gilt es, vorab einige Dinge zu klären: Was hat man sich unter „übergreifendem sozialen Wandel“ überhaupt vorzustellen? Und welche Rolle spielt Individualisierung dabei? Seit wann kann man Individualisierung beobachten? Und weshalb hat sie gerade in der heutigen Zeit eine derartige Bedeutung?

2.1.1. Die Entwicklung des Individualisierungsgedankens

Die Denktradition in der der Individualismus steht ist nicht neu. Laut Ebers (1995 S. 34 ff.) lässt sie sich sogar bis in die griechische Antike zurückverfolgen: So stellte bereits in der Polis mit ihrer sich entwickelnden Bürgerklasse der Held das „Modell des aufsteigenden Individuums“ dar. Ebenso setzte man sich bereits in der Philosophie mit verschiedenen Aspekten des späteren modernen Menschenbildes auseinander. So stellt Platons „Staat“ unter anderem auch einen theoretischen Versuch dar, einen Einklang zwischen Individualität und den Idealen der Polis herzustellen. (Ebers 1995, S. 34) Als weitere Stationen in der Entwicklung des modernen universalistischen Menschenbildes nennt sie Christentum, Renaissance und Aufklärung. So trug das jüdisch-christliche Erbe des abendländischen Denkens dazu bei, die Einmaligkeit des Menschen herauszustellen und den freien Willen des Individuums zu betonen. In der Reformation schließlich wird das Individuum in eine direkte Beziehung zu Gott gesetzt und dabei die Kirche als Vermittlungsinstanz umgangen. In der Renaissance kamen dann die Selbstbehauptung des Ichs und die Entwicklung eines reflexiven Bewusstseins hinzu, was den Aufstieg des Individualismus als Gesellschaftstheorie einleitete. Erstmals trat die kollektive Identität zu Gunsten einer individuellen zurück. Diese Ansätze werden in der Aufklärung aufgegriffen, verfeinert und ausformuliert. (Ebers 1995, S. 35) So sehen beispielsweise die Vertragstheorien die Bildung eines Kollektivs aus Individuen auf einer freiwilligen Basis vor.

Auch in der Folge wurden diese Ideen bis auf den heutigen Tag immer weiter modifiziert und größeren Bevölkerungsgruppen zugänglich gemacht. Auch gegenläufige Modelle der Gesellschaftsordnung, so wie sie Kommunismus und Sozialismus vorsahen, konnten ihre eigendynamische Entwicklung nicht dauerhaft aufhalten (, obwohl sie ebenfalls wichtige Denkanstöße lieferten).

Individualisierung blickt also auf eine lange Denktradition zurück und war bereits früher feststellbar. Man kann jedoch erst in jüngerer Zeit eine rasante Verbreitung dieses Phänomens beobachten.

2.1.2. Individualisierung: Ein postmodernes Phänomen?

Wie das Thema dieser Arbeit bereits impliziert kann man einen sozialen Wandel, also eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse konstatieren, welcher mehrere Aspekte beinhaltet. Wie aber lässt sich dieser Wandel zeitlich einordnen? Als eher neuzeitliche Erscheinung fällt die Frage nach der Individualisierung in Zusammenhang mit der viel diskutierten Fragen, ob wir uns bereits in einer Postmoderne befinden, bzw. in wie weit man die Moderne bereits als überholt betrachten kann. Der Individualismus steht zwar an der Schwelle zur Neuzeit, welcher Epoche – der Moderne oder der Postmoderne – ist er aber zuzuordnen? Hierbei müsste man zunächst klären wie man diese beiden Epochen voneinander abgrenzen kann. Dies kann man zum einen historisch tun, indem man das Zeitalter der Industrialisierung der durch eine Dominanz des Dienstleistungssektors geprägten, aktuellen Gesellschaftsform gegenüber stellt. Um dies jedoch auf einer etwas abstrakteren Ebene zu tun, kann man die Theorie des Soziologen Vester heran ziehen, für den die Moderne von einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in relativ strikt voneinander abgetrennte Teilbereiche geprägt ist. Dies ist vor allem Folge einer zunehmenden Arbeitsteilung. Diese Differenzen werden nun im Zuge einer „Postmodernierung“ zwar keineswegs aufgelöst, sondern spielerisch genutzt. Die Ergebnisse hierbei sind Hybridkreuzungen, Rekombinationen und eine Reintegration des vormals entfremdeten. (Vester 1993) Der Individualismus als eine Art stationärer Prozess ist in der Lage, genau dies zu leisten. Er kann damit als essentieller Bestandteil der Postmoderne angesehen werden. Wenn Vester jedoch von einer Postmoderne spricht, meint er damit kein schlagartiges Ende der Moderne, sondern einen Übergang, der zwar noch nicht abgeschlossen ist, sich jedoch bereits deutlich jenseits von ihr befindet.

Die Individualisierung zunächst ist ein Phänomen das wohl bereits in der Moderne angelegt wurde. Wenn man aber nun davon ausgeht, wir befänden uns bereits in einer Postmoderne, so muss man feststellen, dass der vormals bloße Trend zur Individualisierung erst jetzt zu seiner Ausblühung gekommen ist und nach wie vor (noch) anhält. Zusehends treten jedoch auch Schattenseiten dieser Entwicklung zu Tage, die hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden sollen. Des Weiteren kann man nach wie vor bestimmte gesellschaftliche Schranken ausmachen, die sich einer allseitigen Ausbreitung des Individualismus entgegen stellen. Nicht zuletzt deswegen bleibt der „individualistische Lebensstil“ weitgehend den (post-) industriellen Staaten westeuropäischer Prägung vorbehalten.

Individualisierung wird, obgleich sie schon seit geraumer Zeit feststellbar ist, von den meisten Autoren in eine Verbindung mit neuzeitlichen Entwicklungen gebracht. Dies ist auch insoweit angebracht, als dass sie in unserer heutigen Zeit – genauer gesagt unter den Bedingungen der aktuellen Vergesellschaftung – förmlich zu expandieren scheint. Beck spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „historischen Kontinuitätsbruch“ (Beck 1994, S. 44), der dadurch zustande kommt, dass die zuvor durchgehend gültige, hierarchische oder zumindest streng gegliederte Gesellschaftsordnung erstmals durchlässig gemacht wird.

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hat die Individualisierung in vielen Staaten bereits den Status einer allgemein anerkannten Ideologie erreicht: Sie gilt als Desiderat und Voraussetzung für ein gelungenes oder gar glückliches Leben. Ja sie wird sogar als unabdingbar für das funktionieren demokratischer Prozesse (da dabei jeder das Recht haben und auch wahrnehmen muss, seine soziale Umwelt mitzugestalten) und des gesamten marktorientierten, also kapitalistischen Wirtschaftssystems angesehen. (Wobei diese Sichtweise gar nicht so falsch ist, wie wir später sehen werden.) Dass sie, worauf einige Autoren hinweisen, auch Gefahren und Risiken in sich bringt, begann erst mit dem Auftreten von Problemen, sowohl auf individueller, als auch auf gesellschaftlicher Ebene, langsam ins Bewusstsein zu sickern. Als Beispiele hierfür wären wachsende Ansprüche bei begrenzten Ressourcen und die daraus resultierende Frustration zu nennen.

2.2. Das Phänomen der Individualisierung

Um das Phänomen der Individualisierung besser zu verstehen, soll es zunächst in einer allgemeinen Form beschrieben werden. Anschließend sollen seine Ursachen und auch seine Auswirkungen dargestellt werden, um es dann später in eine Beziehung zum für die Geographie essentiellen Begriff des „Raumes“ bringen zu können. Eine vollständige Abhandlung ist jedoch nicht möglich, da es sich bei Individualisierung um einen hochkomplexen, vielschichtigen Sachverhalt handelt, und bereits die Theorien, in denen sie einen wichtigen Stellenwert einnimmt, sehr zahlreich sind.

2.2.1. Zur Theorie

Im Rahmen soziologischer Modernisierungstheorien haben sich bereits zahlreiche Theoretiker wie Karl Marx, Max Weber, Emile Durkheim, Georg Simmel und Norbert Elias und andere mit dem Phänomen der Individualisierung befasst. Dies deshalb, da sie den Prozess der Individualisierung als einen wesentlichen Bestandteil des Übergangs in die Moderne1 betrachten. Doch vor allem Ulrich Beck hat in besonderer Weise die objektiven Konsequenzen für den Einzelnen herauszustellen versucht.

Im Allgemeinen kann man in der Soziologie grob zwischen handlungs- bzw. akteurs- und systemtheoretischen bzw. funktionalistischen Ansätzen unterscheiden (neben dem Reduktionismus und der verstehenden Soziologie). Erstere agieren eher auf der mikrosoziologischen Ebene, wobei sie eher das Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Bei Zweiteren dominiert die Betrachtung der makrosoziologischen Ebene, wobei versucht wird, Gesetzmäßigkeiten aufzustellen, die von der gesamtgesellschaftlichen Ebene aus menschliches Handeln bestimmen. Freilich gibt es kaum theoretische Konzeptionen (mehr), die sich auf nur einen der beiden Ansätze in seiner reinen Form stützen. Sie sind also als eher idealtypisch zu betrachten, wobei – analog zu den gesellschaftlichen Entwicklungen – eine Schwerpunktverlagerung hin zum akteurstheoretischen Ansatz stattgefunden hat.

Der beste Weg liegt jedoch bekanntlich meist in der Mitte. So versucht beispielsweise auch Beck, sich in seinen Analysen zum Prozess der Individualisierung bewusst abseits großen Theorieströmungen zu halten: Er entwickelt keinen allgemeinen theoretischen Bezugsrahmen, der einer bestimmten theoretischen Tradition zuzuordnen wäre, obwohl er Anleihen bei mehreren namhaften Soziologen nimmt. (nach Ebers S. 264/265)

Nicht zuletzt deshalb, und weil er auf besondere Weise auf Prozesse eingeht, die die objektiven Lebenslagen betreffen, möchte ich hier exemplarisch besonders auf Becks theoretischen Ansatz der Risikogesellschaft und die Rolle der Individualisierung darin eingehen.

2.2.2. Begriffliche Klärung und Beschreibung

Von seiner lateinischen Wortbedeutung her bezeichnet der Begriff „Individuum“ eigentlich eine kleinste unteilbare Einheit. Diese ist zudem meist noch relativ unabhängig von ihrer Umwelt. Gemeint ist das, was der Prozess der Individualisierung aus dem Menschen macht.

In einem (etwas älterem) Wörterbuch der Soziologie wird der Individualismus, der eigentlich eine positive Einstellung zur Idee des Individuums bezeichnet, als Phänomen an der Schwelle zur Neuzeit beschrieben. Unter seinem Einfluss kam es zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und zur Auflösung der überkommenen Sozialstrukturen. Bei der Betrachtung des Individualismus kann man gewissermaßen mehrere Blickwinkel unterscheiden. Der anthropologische Individualismus bezieht sich auf die Einzelwesen, aus denen die Gesellschaft gebildet wird. Sie sind Träger staatlicher Rechte, besitzen persönliche Freiheiten und üben eine unbehinderte Selbstbestimmung aus. Individualismus als soziologisches System bezieht sich auf die Gesellschaftstheorie, in deren Mittelpunkt das Individuum mit seinen Motivationen, Bedürfnissen und Rechten steht. Der Individualismus als wirtschaftsphilosophisches System steht in einer engen Verbindung mit dem ökonomischen Liberalismus. Er beinhaltet ein freies Konkurrenzsystem, Privateigentum und Vertragsfreiheit und zielt auf ein Interessensystem im Gleichgewicht ab. Der Ästhetische Individualismus als letzte Facette meint eine Ich-Bezogenheit ohne sozial tätige Anteilnahme, also eine innere Distanz zur sozialen Umwelt. Trotzdem lehnen alle Befürworter des Individualismus einen Egoismus – in seinem negativen Sinne – kategorisch ab. Auffällig ist, dass im Individualismus das Wir-Gefühl so weit zurücktritt, dass soziale Eingliederung nur noch über Interaktionen stattfindet.

Esser bezeichnet die Einstellung des „Individualismus“ schlicht als die „Betonung des Wertes und der Einzigartigkeit der einzelnen Person (...) und das Zurücktreten von Kollektivgefühlen und auf das gesellschaftliche Ganze bezogenen Solidaritäten.“ (in Kron, 2000, S. 131)

Individualität bezeichnet in der Alltagssprache eigentlich diejenigen Eigenschaften, die eine Person von anderen abheben, also die sie zum Individuum machen. Da aber von jedem Menschen bereits im vornherein angenommen wird, er sei ein Individuum, besitzt der Begriff keine tiefere Bedeutung. So ist für Simmel Individualität ganz banal die Summe der sozialen Rollen, die ein Mensch innehat. Und folglich erfordert ein größere Rollendifferenzierung auch mehr Individualität. (nach Ebers S. 79)

Die Individualisierung schließlich beschreibt Schimank kurz und bündig als „selbstbestimmte Einzigartigkeit“. Ihm zufolge bedeutet Individualität im Alltagssprachgebrauch, dass eine Person „in ihrem Auftreten unverwechselbar und dadurch einzigartig auf andere und auf sich selbst wirkt.“

Die Individualität einer Person zeigt sich aber auch darin, dass sie „in ihrem Handeln trotz aller sozialen Einflüsse selbstbestimmt erscheint.“ (in Kron 2000, S. 107) Entscheidend ist also nicht die tatsächliche Einzigartigkeit, sondern der Eindruck, den man selbst wie auch die Umwelt darüber gewinnt. Anders gesagt: Nach objektiven Beurteilungskriterien müssen kaum – und schon gar keine gravierenden – Unterschiede zur Mehrheit des sozialen Umfelds vorliegen. Trotzdem erlaubt eine oft nur symbolische Abgrenzung in bestimmten Bereichen sowohl ein subjektives Gefühl, den Ansprüchen des Individualismus zu genügen, zu dem auch eine entsprechende Beurteilung durch die (subjektiven) Umwelt beitragen kann. Dabei sind graduelle Abstufungen über ein mehr oder weniger an Individualität möglich. Dies impliziert bereits den Anspruch, den sich eine Person in unserer heutigen Gesellschaft, ihre Individualität betreffend, ausgesetzt sieht: Einerseits an sich selbst, ein Individuum sein zu wollen, andererseits von Seiten der Gesellschaft, ein Individuum sein zu müssen.

„Individualisierung“ ist ein Phänomen, welches eine Vielzahl von Aspekten beinhaltet. Zum einen bezeichnet sie einen Bedeutungsverlust des Kollektivs bzw. der Gesamtgesellschaft zu Gunsten des einzelnen. Dies ist nicht unbedingt im Sinne eines wachsenden Egoismus in der Gesellschaft zu verstehen, sondern eher im Sinne einer wachsenden Emanzipation und Selbstbestimmung. So schreibt Aretz: „Mit dem Wertmuster des ‚institutionalisierten Individualismus‘ ist allerdings nicht ein utilitaristischer Egoismus und eine Glorifizierung des Ichs gemeint, sondern vielmehr das Individuum, welches als Person die ‚Menschheit‘ in sich trägt.“ (in Kron 2000, S. 92)

Individualisierung ist – zusammen mit anderen Phänomenen – Bestandteil eines gesellschaftlichen Umbruchs, oder – wenn man von einer Kontinuität ausgeht – einer schrittweisen aber grundlegenden Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Elias zu Folge ist Individualisierung nur ein Aspekt einer größeren gesellschaftlichen Transformation. Sie ist untrennbar von anderen Prozessen, wie z. B. zunehmende gesellschaftliche Differenzierung u. Beherrschung der außermenschlichen Naturkräfte (nach Ebers S. 185)

Diese Entwicklungen, die in den soziologischen Modernisierungstheorien beleuchtet werden, stehen immer miteinander in Verbindung. Deshalb ist die „Individualisierung“ stets in Zusammenhang mit anderen Entwicklungen zu sehen. So zum Beispiel bei Asper mit den Prozessen der Globalisierung und Demokratisierung. Er sieht die Individualisierung der Gesellschaft als „kein eigentliches Merkmal der Globalisierung“, da der Weg zur persönlichen Freiheit schon mit dem Demokratisierungsprozess begonnen habe. Es sei die liberale Marktwirtschaft, auf der Globalisierungsprozesse fußten, welche die Individualisierung begünstige. (Asper 1997, S. 46/47)

Ebenso stellt auch Aretz auf der Grundlage systemtheoretischer Betrachtungen fest, „dass entsprechende Prozesse der Individualisierung eng verwoben sind mit der Herausbildung der modernen Marktwirtschaft im ökonomischen System, den Demokratisierungsprozessen innerhalb des politischen Systems, der Etablierung freier sozialer Vereinigungen im sozial-gemeinschaftlichen System sowie mit verschiedenen modernisierten institutionellen Komplexen des sozial-kulturellen Systems (Wissenschaft, Kunst, professioneller Komplex etc.), forciert durch die Bildungsrevolution.“ (in Kron 2000, S. 91) Es bleibt also festzuhalten, dass Individualisierung keine komplett eigenständige Entwicklung, sondern stets im Zusammenhang mit den „Begleitumständen“ zu sehen ist.

Ein bißchen ähnelt die Frage, inwieweit die Moderne von der Individualisierung beeinflusst wurde und umgekehrt, der nach der Henne und dem Ei.

So bescheinigt auch Schimank der Individualität der Person, kein Nebenprodukt der Moderne zu sein, sondern sie aktiv mit beeinflusst zu haben. (in Kron 2000, S. 108)

Auch als gedankliche Konstruktion und Ideologie tritt der Individualismus in unserem westlichen Kulturkreis nicht gesondert auf. So sieht ihn beispielsweise Aretz „zusammen mit dem Rationalismus, Universalismus und Aktivismus“ als konstitutiven Bestandteil der okzidentalen Kultur. (in Kron 2000, S. 90)

2.2.3. Ursachen und begünstigende Begleitumstände

Ursächlich wurde die zunehmende Individualisierung durch eine Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen ausgelöst, bzw. begünstigt. Je nach Theorie können sie etwas differieren bzw. andere Akzente setzen. Als wichtigste zu nennen wären hierbei jedoch vor allem die Arbeitsteilung, die Etablierung der Geldwirtschaft (besonders in der Funktion als interaktives Tauschmedium), der technologische Fortschritt (moderne Transport- und Kommunikationsmittel), die Zunahme der Freizeit, die allgemeine Wohlstandssteigerung, die zunehmende horizontale und vertikale Mobilität, aber auch die Bevölkerungszunahme.

Die Arbeitsteilung hat vor allem auf Grund der starken Ausdifferenzierung der Erfahrungshorizonte einen großen Beitrag zur Individualisierung geleistet. Auch sorgte sie durch die Produktionssteigerung dafür, dass die materielle Welt und die damit verbundenen Möglichkeiten sich um einiges vielseitiger gestalteten.

Ebenso erweiterte die Einführung der Geldwirtschaft die Handlungsspielräume enorm, da sie alles nahezu beliebig verfügbar macht, wenn man nur den entsprechenden Gegenwert besitzt. Auch der Aufbau persönlicher Beziehungen spielt dafür keine Rolle.

Der technologische Fortschritt begünstigte die Individualisierung zum einen dadurch, dass er Möglichkeiten der Wertschöpfung steigerte, zum anderen, dass er den Austausch von Gütern, Menschen und Information erheblich vereinfachte.

Was eine Zunahme der Freizeit betrifft, muss man jedoch feststellen, dass diese in ihrer längerfristigen historischen Entwicklung betrachtet, nicht durch eine bedeutende Zunahme gekennzeichnet ist. Der wichtigere Aspekt der Freizeitentwicklung dürfte hier die Flexibilisierung der Arbeitszeit sein, welche die Freizeit besser verteilt hat. Dies hat ohne Frage die Entwicklung des Individualisierungsphänomens begünstigt, da verschiedene Menschen nun zur gleichen Zeit unterschiedlichsten Tätigkeiten nachgehen können.

Auch die Auswirkungen einer allgemeinen Wohlstandssteigerung können nicht geleugnet werden, da diese die Konsumchancen und Entfaltungsmöglichkeiten enorm verbessert hat. Trotzdem bleibt zu bemerken, dass Wohlstand immer auch eine Verteilungsfrage ist, und eine allgemeine Steigerung nicht zwangsläufig jeden erreicht. Außerdem sind gleichzeitig ebenso die durch die Lebensführung und gesellschaftliche Teilhabe gebundenen Kosten gestiegen.

Was unbestritten ist, ist der begünstigende Effekt der Mobilitätszunahme auf die Individualisierung. Gemeint ist hierbei vor allem die vertikale Mobilität, welche dem Einzelnen die Möglichkeit verleiht, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber auch die horizontale Mobilität lässt zwar nicht die Welt, jedoch ihre räumlichen Barrieren erheblich schrumpfen.

Die Bevölkerungszunahme zuletzt ist ebenfalls von einer essentiellen Bedeutung, da durch sie – vor allem historisch gesehen – die verfügbaren Ressourcen immer wieder beschränkt wurden, und der Einzelne – analog dem darwin’schen Nischenverhalten von Tierpopulationen unter ähnlichen Bedingungen – indirekt gezwungen war, seinen Platz in der Gesellschaft durch seine Einzigartigkeit und seine Fähigkeiten zu behaupten.

Durch diese Entwicklungen kam es allmählich zu einer erheblichen Rollendiversifizierung. Dabei ergibt sich nach Schimank die individuelle „Einzigartigkeit (...) aus der je besonderen Kombination von Rollen.“ Selbstbestimmung besteht zum einen in den Wahlfreiheiten hinsichtlich immer mehr Rollen, aber auch in Drohpotentialen gegenüber Konformitätszumutungen, also der Möglichkeit auszusteigen. (Kron 2000, S. 108)

Asper sieht die liberale Marktwirtschaft als eine der Hauptursachen der Individualisierung: Sie löst vor allem die traditionellen Beziehungen auf und untergräbt die Institutionen, was zur Isolierung des einzelnen Bürgers führt. Auch übernimmt der Staat (noch) Aufgaben, die früher der Familie vorbehalten waren. Deshalb kommt es in der Folge zu mangelnder Eigenverantwortung und zu zu großer Sorglosigkeit. Auf der anderen Seite wächst die persönliche Freiheit immer weiter. (Asper 1997, S. 47) Da diese Freiheit aber im Wesentlichen auf einer Marktbeteiligung basiert, bietet sie dem Einzelnen für seine Verfügbarkeit vor allem Konsumchancen, die dieser bereitwillig wahrnimmt.

So kann man mit Sicherheit die liberale Marktwirtschaft mit ihrer ungeheueren Eigendynamik als den Motor des aktuellen Individualisierungsschubs betrachten.

Für Simmel kam die Individualisierung folgendermaßen zustande. Durch wachsende Bevölkerung kam es mit der Zeit zu einer immer stärker werdenden Konkurrenzsituation. Wegen der wachsenden Konkurrenz kam es zu einer Art „Nischenverhalten“, ähnlich der Darwin’schen Evolutionstheorie, welches sich in zunehmender Arbeitsteilung und wachsender Differenzierung äußerte. Dies wiederum führte zu einem immer stärkeren Individualisierungs- und Abstraktionsgrad. (nach Ebers 1995, S. 75)

2.2.4. Auswirkungen: Der ambivalente Charakter der Individualisierung

Je nach Autor werden die Konsequenzen einer zunehmenden Individualisierung unterschiedlich gewertet. Man kann jedoch sowohl positive, als auch negative Aspekte ausmachen, die gewissermaßen aber nur zwei Seiten einer Medaille darstellen: Auf der einen Seite die Gefahr einer Desintegration und Gefährdung der sozialen Ordnung, auf der anderen Seite die mannigfache, wenngleich auch nicht so ausgeprägte, Integration in eine Vielzahl sozialer Subsysteme. Demnach ist Individualisierung eigentlich nur eine neue Form der Vergesellschaftung, wie auch Simmel behauptet. (nach Ebers 1995, S. 73)

Auch Aretz sieht, dass die zunehmende „Selbst-Reflexivität“ des Handelnden zu einer Auflösung der Großgruppengesellschaft führt. (in Kron 2000, S. 95) Andererseits werden die sozialen Beziehungen immer verzweigter.

Die strukturell erzeugte Verschiedenartigkeit der Einzelpersonen wird den Menschen immer bewusster und somit auch höher bewertet. Dadurch kommt es Elias zufolge zu einer stärkeren Betonung der Ich-Identität und einer Loslösung aus traditionellen Verbänden. Dem dadurch zustande kommenden Freiheitsgewinn steht eine zunehmende zwischenmenschliche Distanz gegenüber. Außerdem wird der Handlungsspielraum des einzelnen nach wie vor durch seine sozialen Kontakte beschränkt. (nach Ebers 1995, S. 185/186)

Allgemein beinhaltet Individualisierung so „den dialektischen Prozess der Herauslösung des Individuums aus traditionalen Gefügen und den damit verbundenen individuellen Freiheitsgewinnen einerseits und der Unterwerfung unter neue ‚Sachzwänge‘ andererseits“, wie Aretz meint. (in Kron 2000, S. 94)

Da Individualität in unserer heutigen Gesellschaft fast schon als Diktat gilt und jedem Wünschenswert erscheint, kann es zu einem Spannungsverhältnis zwischen dem Versuch entweder völlig einzigartig oder genau so wie alle anderen zu sein. Dabei sind jedoch „Individualität und ‚Massenmenschentum‘“, Schimank zu Folge, nur „zwei Pole eines Kontinuums, auf dem sich Personen bewegen können.“ (Kron 2000, S. 111) Da niemand in jeder Lebenslage seine Individualität unter Beweis stellen kann, muss man sich bestimmte Bereiche suchen, in denen man ein Mehr oder Weniger an Individualität auslebt. Darauf, dass gerade die Freizeit in besonderer Weise dafür geeignet ist, werden wir später noch kommen.

Entscheidend für ein mehr oder weniger an potentieller Individualität ist auch, wie groß der Personenkreis ist, dem man sich anschließt. Nach Simmel resultiert aus Zugehörigkeit zu einem größeren Personenkreis zwar ein Mehr an individueller Freiheit, aber weniger Eigenart als Teil des Ganzen. Dies bedeutet, dass die ganze soziale Gruppe im Endeffekt weniger individuell ist. Umgekehrt verhält es sich mit kleineren Gruppen. Hier wird zwar die persönliche Freiheit mehr begrenzt, die Gruppe als ganzes kann jedoch als individueller gelten. (nach Ebers 1995, S. 79) Dies deutet bereits an, dass Individuum und Gesellschaft eigentlich nicht von einander getrennt werden können, da sie immer gemeinsam auftreten. So sieht sie Elias gewissermaßen nur als Ergebnis zweier unterschiedlicher Blickwinkel an. (nach Ebers 1995, S. 168)

Auch was die unglaubliche Zunahme der Wahlmöglichkeiten in jüngerer Vergangenheit betrifft, darf man nicht vergessen, dass gleichzeitig mit ihnen auch ein Zwang sie zu nutzen entstanden ist.

Zu den eher negativen Auswirkungen der Individualisierung zählt zunächst einmal der Rollenstress, der dadurch entsteht, dass der Mensch zugleich einer Vielzahl verschiedener, an den Kontext gebundener Rollen gerecht werden muss. Diese Rollen können miteinander in Konflikt treten, falls Differenzen zwischen den Erwartungshaltungen auftreten, die an die verschiedenen Rollen gerichtet sind. Dies ist auch bei einer relativ freien Wahl der Rollen nicht zu vermeiden. So bemerkt auch Schimank in diesem Zusammenhang treffend, dass „der Genuss selbst bestimmter Einzigartigkeit (...) nicht kostenfrei und risikolos zu haben“ ist. (in Kron 2000, S. 109)

Auch hat, wie Aretz bemerkt, „die Realisierung universeller Vergemeinschaftung und Gleichheit“, welche eine individualisierte Lebenswelt zweifellos darstellt, „als nicht-intendierte Folgen oft eine verstärkte Partikularisierung, Vereinsamung, individuelle Benachteiligung und einen verschärften individuellen Wettbewerb zwischen den Gleichgemachten hervorgebracht.“ Damit klingen bereits weitere negative Aspekte an. So zieht nämlich die Befreiung vom Zwang geschlossener Gruppen, die Abhängigkeit von anonymen gesamtsystemischen Zuständen nach sich. (in Kron 2000, S. 93/94) Diesen Abhängigkeiten kann sich keiner entziehen und sie sind auch nicht mehr umkehrbar.

Simmel zufolge beginnt die Individualität, die unter anderem ein Produkt der Arbeitsteilung und der dabei notwendigen Rationalisierung ist, sich dadurch selbst zu beschränken. Die Bedrohung der Individualität und Entfremdung sind die Folgen, die zu Grunderfahrungen des menschlichen Lebens werden. (nach Ebers 1995, S. 151)

Auch Schimank kann bestimmte Bedrohungen der Individualität erkennen, da strukturelle Mechanismen der Entindividualisierung existieren. Die moderne Gesellschaft ist eine anonyme, standardisierte Massengesellschaft, die die individualistische Identität ihrer Mitglieder bedroht, da der Individualitätsanspruch keinesfalls in jeder Situation aufrechterhalten werden kann. Deshalb sind auch bestimmte Strategien zur Individualitätsbehauptung notwendig. (in Kron 2000, S. 111/112) Diese beinhalten v. a. „Individualitätsfiktionen“, welche durch eine permanente Reduktion der Umwelt und eine Überbewertung des eigenen Selbst aufrechterhalten werden.

Als positiv an der Individualisierung bleiben zunächst die unzähligen Wahlmöglichkeiten festzuhalten, die es einem erlauben, seine persönlichen Anlagen relativ frei zu entfalten. Beschränkungen hierbei entstehen bei begrenzten Mitteln allerdings sehr schnell.

Zudem stellt Schimank auch eine ordnende Funktion für die Moderne Gesellschaft fest.

„Eine individualistische Identität der Mitglieder der modernen Gesellschaft ist ein unerlässlicher Garant gesellschaftlicher Ordnung.“ (in Kron 2000, S. 109) Diesen Zusammenhang erkennt auch Aretz, indem er bemerkt, dass „gesteigerte Identität und Individualität (...) so mit Prozessen der Vergemeinschaftung Hand in Hand“ gehen. (in Kron 2000, S. 102)

Zusammenfassend lassen sich die Konsequenzen der Individualisierung als relativ zwiespältig charakterisieren, was nahelegt, dass es durch die Individualisierung tatsächlich zu einer neuen Form der Vergesellschaftung gekommen ist. Dadurch werden an die Individuen neue Anforderungen gestellt: Die Unsicherheiten zu bewältigen und die Wahlmöglichkeiten zu nutzen.

2.2.5. Individualismus – eine Typologie

Schimank (in Kron 2000, S. 115 ff.) unterscheidet in seiner Arbeit zur differenzierungs- und akteurstheoretischen Betrachtung der individualisierten Gesellschaft drei verschiedene Arten von Individualismus, die gewissermaßen eine Strategie darstellen, den ständigen Bedrohungen der Individualität in der modernen, anonymen und standardisierten „Massengesellschaft“ entgegenzuwirken. Diese „Identitätsanker“, zu denen der Leistungsindividualismus, der Anspruchsindividualismus und der Individualismus des sich Auslebens gehören, haben seiner Meinung nach „den Übergang zur Moderne und deren weitere Dynamik maßgeblich mitgetragen“. (in Kron 2000, S. 115) Im Rahmen des Leistungsindividualismus identifiziert sich das Individuum mit seiner Leistung und der dadurch zu erhaltenden sozialen Bestätigung. Da diese Form des Individualismus für lange Zeit in festen Berufsrollenstrukturen institutionalisiert war und teilweise immer noch ist, hat diese Form des Individualismus in unserer heutigen Gesellschaft nach wie vor Gültigkeit. Obwohl die Leistung immer noch einen gesellschaftlicher Zentralwert darstellt, nimmt ihre Bedeutung aktuell immer mehr ab, da nicht zwangsläufig dem, der große Leistungen erbringt, auch Erfolg beschieden ist. Dies ist dadurch zu erklären, dass der Markt nicht die tatsächlichen Bemühungen im Berufsleben, sondern die relative Seltenheit der Leistungsträger honoriert. Viel wichtiger ist aber, dass zunehmend „ein Individualismus des hedonistischen Sich-Auslebens um sich gegriffen hat“. Dadurch verlegen immer mehr Gesellschaftsmitglieder „das Zentrum ihrer Selbstverwirklichung von der Arbeit in die Freizeit.“ (in Kron 2000, S. 117) Als Grund für diese Entwicklung wird vor allem die Zunahme der Massenkaufkraft und die Reduktion der Arbeitszeit verantwortlich gemacht. Tatsächlich handelt es sich dabei aber eher eine allgemeine Wohlstandszunahme und vor allem um die Flexibilisierung der Arbeitszeit.

Einen zweiten Identitätsanker bildet der sogenannte Anspruchsindividualismus. Gemeint ist damit, dass das Individuum versucht die Diskrepanz zwischen „Sein und zum Sollen erhobenem Wollen“ (in Kron 2000, S. 118) zu überbrücken und sich mit diesem Vorgang identifiziert. Schimank kann dabei sowohl eine Zeitdimension ausmachen, welche die Ansprüche der Person auf die Zukunft projiziert, als auch eine Sozialdimension, die vor allem auf die Erfahrung der gesellschaftlichen Ungleichheit bei einem normativen Postulat von Gleichheit zurückgeht. Diese Art von Ansprüchen richtet sich also vor allem auf die Voraussetzungen der Chancengleichheit in der Leistungskonkurrenz. Für diese Art des Individualismus, der sich über Ansprüche definiert, gibt es in unserer heutigen Gesellschaft zahlreiche Anknüpfungspunkte. Die Entwicklung des Anspruchsindividualismus ging Hand in Hand mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates: Mit zunehmender Bedienung der prinzipiell grenzenlosen Ansprüche kommt es schließlich zu einer Anspruchsinflation. Zusammen mit dem Leistungsindividualismus, der ja auch auf wachsende Nachfrage angewiesen ist, bildet der Anspruchsindividualismus eine der Triebfedern der Marktwirtschaft. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist „die moderne Gesellschaft (...) also nicht zufällig auch eine Wachstumsgesellschaft.“ (in Kron 2000, S. 119)

Der letzten Individualitätsanker schließlich den Schimank anführt, ist der Individualismus des Sich-Auslebens. Er ist im Zusammenhang mit unserer Fragestellung von besonderer Relevanz. In seinem Rahmen gewinnen andere Ansprüche, wie etwa Konsumerwartungen, ihre Bedeutung. Zusammen mit dem Leistungsindividualismus kann der Individualismus des Sich-Auslebens nur funktionieren, wenn eine hinreichende Anspruchsbefriedigung gegeben ist.

2.2.6. Ausgewählte Konzepte

Im Folgenden werden die modernisierungs- und individualitätstheoretischen Betrachtungen von Schulze und Beck vorgestellt, da diese eine besondere Relevanz für die Ausprägung von Konsummustern, und davon ausgehend, für die geographische Fragestellung im Zusammenhang mit Fremdenverkehr und Freizeit besitzen. Zusätzlich beleuchten sie sehr anschaulich die Prozesse, denen sich das Individuum unter der aktuellen Form der Vergesellschaftung ausgesetzt sieht.

2.2.6.1. Modernisierung und Individualisierung nach Beck

Modernisierung

Beck entwarf seine Theorie vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte. Er geht von einer sogenannten „reflexiven Moderne“ aus die beständig ihre eigenen überkommenen Strukturen überholt: Die Moderne beginnt, sich selbst durchzurationalisieren. Dabei werden zunächst die vorindustriellen Traditionen wegrationalisiert, danach diese Rationionalisierungen wiederum ebenfalls. (nach Ebers 1995, S. 268/269) In der Kontinuität der Moderne findet dabei ein Entwicklungssprung statt, der den Übergang von der klassischen Industriegesellschaft zu einer industriellen Risikogesellschaft kennzeichnet.

Risikogesellschaft” deshalb, da die Logik der Reichtumsverteilung gegenüber der sich abzeichnenden Logik der Risikoverteilung zurücktritt: Die Gesellschaftsstruktur wird nicht mehr primär durch die Reichtumsverteilung, sondern durch die Risikoverteilung bestimmt. Dies läuft dem gesellschaftlichen Klassenschema zu wider, das davon besonders betroffen ist. Es kommt zu einer Individualisierung der Lebenslagen und Lebenswege der Menschen, sowie der Institutionen der klassischen Industriegesellschaft.

Die Moderne selbst wird durch die Aufhebung der Beschränkung durch Geburt und Eröffnung des Positionszuganges durch eigne Entscheidung und Leistung charakterisiert. Gerade auch das Leistungsprinzip, das zwar in der Moderne schon angelegt, aber noch nicht zur vollen Entfaltung gekommen war, wird nun universell gültig. Weil sie noch halb in der vorindustriellen Ständegesellschaft verankert ist, nennt Beck die klassische Industriegesellschaft (im Gegensatz zur industriellen Risikogesellschaft) auch halbierte Moderne. (nach Ebers 1995, S. 270)

Gründe für den Prozess der reflexiven Modernisierung sind für Beck der Ausbau des Sozialstaats nach dem 2. Weltkrieg, die Bildungsexpansion, Reallohnsteigerungen, soziale und geographische Mobilität, die Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit, der Anstieg der Scheidungsrate sowie die Flexibilisierung der Erwerbsarbeit. (nach Ebers1995, S. 271)

All diese Veränderungen setzen den Menschen frei aus den Lebensformen und Selbstverständlichkeiten der industriegesellschaftlichen Epoche.

Nach Ebers (1995, S. 272) bedeutet der Wandel im Zuge der reflexiven Modernisierung im Einzelnen: Die Dynamik von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft löst die Industriegesellschaft als lebensweltlichen Erfahrungszusammenhang auf. Die Menschen werden aus den industriellen Sicherheiten und Standardlebensformen freigesetzt. Eine Schere zwischen einem in den Institutionen geltenden Selbstbild, das die alten Sicherheiten und Normalitätsvorstellungen konserviert, und der Vielfalt lebensweltlicher Realitäten öffnet sich. Dadurch fallen unter anderem auch immer mehr Menschen durch die Maschen des sozialen Sicherungsnetzes. Gleichzeitig verlieren die Institutionen immer mehr ihre lebensweltlichen Grundlagen. Ebenso bleibt zwar die Industrieproduktion erhalten, aber ihre ursprünglichen Entstehungsbedingungen nicht. Die „reflexive Modernisierung ist für Beck also in dem Sinne ein Auflösungsprozess, als sie den bisher vorherrschenden Gemeinsamkeiten in der Industriegesellschaft die Basis raubt.“ (nach Ebers 1995, S. 237)

Individualisierung

Nach Beck (1994) haben mehrere Prozesse dazu beigetragen, in der BRD nach dem 2. Weltkrieg einen Individualisierungsschub von „bislang unbekannter Reichweite und Dynamik“ (Beck 1994, S. 44) hervorzurufen. Einer der wichtigsten, der hierbei zu nennen wäre, ist die allgemeine Wohlstandssteigerung. Die sozialen Ungleichheiten weisen zwar nach wie vor eine erstaunliche Stabilität auf, doch werden sie als solche weniger stark wahrgenommen. Dies ist so, da sie durch steigende Einkommen und Bildungsexpansion auf ein höheres Niveau gerückt wurden (, was man unter „ Fahrstuhleffekt “ versteht.) Deshalb stellt die Frage nach sozialer Ungleichheit heute auch keine „Klassenfrage“ mehr dar und wird deshalb auch politisch nicht mehr so stark thematisiert. Dies bringt Beck zu der Annahme, wir würden uns, zumindest vorübergehend, bereits „jenseits der Klassengesellschaft“ (ebenda, S. 44) befinden. Während die horizontale Schichtung zwar objektiv noch vorhanden sein kann, verliert sie ihre Bedeutung für das Handeln der Menschen. Stattdessen kann es zur Bildung vertikaler Klassenlagen durch neue Risiken kommen. Vor dem Hintergrund eines höheren Lebensstandards und größerer sozialer Sicherheit, welche (noch) durch die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen gewährleistet wird, kommt es zu einer Herauslösung des Menschen aus den traditionellen Klassenbindungen und familiären Versorgungsbezügen: Die Menschen werden immer mehr auf ihr individuelles Schicksal mit allen Chancen und Risiken verwiesen. Dieses entscheidet sich vor allem auf dem Arbeitsmarkt. So ist der Eintritt in den Arbeitmarkt ist mit weiteren Freisetzungen verbunden, welche ihn geradezu zu einem „Motor der Individualisierung“ (ebd., S. 46) machen. So verursacht er zum einen eine Verlängerung der schulischen Bildung. Dadurch kommt es beim Individuum zu einer zunehmenden Verbreitung universalistischer Ansichten, einer Verdrängung der traditionellen Orientierung und zu zunehmender Selbst-Reflexion, was den Individualismus fördert. Auch die nötige Mobilität als Voraussetzung für den Eintritt in den Arbeitsmarkt verstärkt die Individualisierung, da sie die traditionellen Bahnen der Lebensführung ändert. Aber vor allem der Konkurrenzdruck führt dazu, dass Individuen, die eigentlich prinzipiell ähnliche Voraussetzungen mitbringen, sich gezwungen sehen, die Einmaligkeit ihrer Person und Leistung auch weiterhin unter Beweis zu stellen. Es kommt also gewissermaßen zu einer „Individualisierung unter gleichen“. (ebd., S. 48) Abgesehen vom Arbeitsmarkt ebenfalls von Bedeutung für die Individualisierung ist das rechnerische Sinken der Erwerbsarbeitszeit und die damit verbundenen Entfaltungschancen.

Aber erst mit der Reduktion von Risiken, unter wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen beginnt sich das Kollektivbewusstsein der Klassengesellschaft richtig aufzulösen. So ist Individualisierung kennzeichnend „für die Dynamik von Arbeitsmarktprozessen und den Bedingungen wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratien“. (ebd., S. 44)

Aber auch ansonsten muss sich der Mensch selbst zum Zentrum eigener Lebensplanung und -führung machen. Dazu zählt auch der Wunsch nach einer „persönlich-biographischen Lebensführung“. (ebd., S. 46)

Genau besehen ist Individualisierung jedoch ein „historisch widersprüchlicher Prozess der Vergesellschaftung“. Widersprüchlich deshalb, da er kollektiv und standardisiert von statten geht. Dies vergisst man leicht, da durch die Individualisierung ein „sozialer und kultureller Erosions- und Evolutionsprozess“ (ebd., S. 45) ausgelöst wurde, welcher weitreichende Auswirkungen bis in alle gesellschaftlichen Bereiche hat und immer neue Formen hervorbringt. Ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht abzusehen: „Der Motor der Individualisierung läuft auf vollen Touren“, (ebd., S. 57) und die zur Beseitigung gesellschaftlicher Probleme notwendigen Neuerungen eröffnen der Individualisierung ebenfalls ganz neue Möglichkeiten.

Im Endeffekt ist Individualisierung eigentlich die Individualisierung sozialer Ungleichheit, die zuvor kollektiv getragen, nun das Problem jedes einzelnen ist. Beck konstatiert jedoch auch eine wachsende Unsicherheit im Gefolge des Individualisierungsprozesses.

2.2.6.2. Die „Erlebnisgesellschaft“ von Schulze

Schulzes (1993) Theorie stellt „eine Momentaufnahme unserer Gesellschaft im Prozess der Veränderung“ (Schulze 1993, S. 406) dar und setzt vor allem auf der Mikroebene an.

Ebenso wie Beck konstatiert auch Schulze einen Individualisierungsschub seit dem 2. Weltkrieg mit einem Übergang von den klassischen Schichten zu soziokulturellen Millieus.

Die Hauptprobleme nach dem Krieg waren zunächst das des Überlebens und das der Wiedergewinnung der normativen Orientierung. In Kopie der Denkmuster des 19. Jhdts., in denen die Arbeit den Sinn des Lebens darstellte, kam es in der Folge zu einer „Rangordnung von sozioökonomischen Schichten“. (ebd., S. 406)

Ein wichtiger Begriff bei Schulze ist der der Entgrenzung. Gemeint ist eine drastische Erweiterung der Handlungsspielräume, vor allem verursacht durch den wirtschaftlichen Aufschwung (ebd., S. 406), aber auch durch das sukzessive Wegfallen traditioneller Beschränkungen. Die Zunahme, sowohl von Handlungsmitteln als auch von Handlungsmöglichkeiten, hatte einen drastischen Anstieg des Konsumpotentials zur Folge. Deshalb sieht Schulze auch den „ Wählenden “ als „paradigmatische Gestalt“ der Gegenwart. (ebd., S. 407) Entscheidend war nicht mehr länger, wer jemand war, sondern was jemand aus seinem Leben machte. Während vormals, unter beschränkenden Bedingungen der Mensch gezwungen war, auf die Umwelt einzuwirken, um die gewünschten Resultate erzielen zu können, wird er unter den neuen Bedingungen auf die Rolle des Wählenden reduziert. (Auch hier steht den positiv zu bewertenden Möglichkeiten der strukturelle Handlungszwang gegenüber!) Als Beispiel führt Schulze den Nahrungserwerb an: Die Produktion steht der bloßen Auswahl im Supermarkt gegenüber.

Wenn es um Beeinflussung der Umwelt ging, waren Tat oder Resignation die beiden einzigen Optionen. Unter den neuen Bedingungen treten die Fragen nach den persönlichen Präferenzen in den Vordergrund. Die Situationsarbeit wird durch Situationsmanagement ersetzt. Unter diesen neuen Bedingungen des Wählens, die Schulze unter den Begriff „Erlebnisgesellschaft“ zusammenfasst, richtet sich der Fokus des Denkens von außen nach innen. (ebd., S. 408) Eigene Wünsche und Gefühle gewinnen dabei stark an Bedeutung.

Es genügt demnach nicht nur, ein begehrtes Objekt zu bekommen. Es muss auch richtig auf einen wirken, ansonsten wird es durch ein neues, geeigneteres ersetzt. Diese Modifikation des Innenlebens mit Hilfe äußerer Mittel bezeichnet Schulze als „Erlebnisrationalität“. (ebd., S. 409)

Durch die wachsende Innenorientierung kommt es zu einer Aufwertung des Seins gegenüber dem Haben. Dadurch macht man sich selbst zum Ziel seines Handelns und „verdinglicht“ sich gewissermaßen. Aber der Mensch kann sein Befinden nicht nach Belieben modifizieren, da er sich selbst nicht genügend kennt. Auch seine Möglichkeiten, sich zu ergründen sind äußerst unzureichend. Die Existenzform des Wählens stellt jedoch auch hohe Anforderungen, denen viele nicht gewachsen sind. Als negative Konsequenzen nennt Schulze hierbei Schwäche, Unsicherheit und Enttäuschung. (ebd., S. 411) Durch die zunehmende Entgrenzung tritt Schwäche auf, sobald keine Wahl mehr vorhanden ist. Auch kommt zwangsläufig Unsicherheit auf, sobald die Wahlmöglichkeiten zu zahlreich werden. Enttäuschung schließlich wird durch die Erfahrung, dass sich innere Prozesse nicht durch äußere Einflüsse beliebig modifizieren lassen, hervorgerufen.

Demnach bezeichnet „Erlebnisgesellschaft“ eine „Sozialwelt, deren Strukturen ungewöhnlich stark von erlebnisrationalem Denken beeinflusst sind.“ (ebd., S. 414) Sie befindet sich in einem beständigen sozialen Wandel. Lediglich die Mechanismen, die immer wieder neue kollektive Muster hervorbringen, sind relativ stabil. Darunter kann man v. a. den Markt, aber auch unser politisches System und Bildungswesen, rechnen.

Die Erlebnisrationalität hat dabei die klassische außenorientierte Rationalität verdrängt. „Der erlebnisorientierte Konsument sieht die objektive Qualität der Waren nur als Mittel zum subjektiven Zweck an.“ (ebd., S. 416) Er ist noch nicht am Ziel, wenn er die Ware hat, sondern erst, wenn sie entsprechend wirkt. Die Strategien von Anbietern und Nachfragern werden daran angepasst. So werden vornehmlich Waren ausgewählt, die den größten Erlebnisnutzen vermuten lassen. Deshalb werden die Produkte mit Attributen versehen, die an bestimmte „alltagsästhetische Schemata“ (ebd., S. 417) appellieren, also gewissermaßen zugeordnet werden können, positiv besetzt und bekannt sind. Des Weiteren tendieren die Nachfrager dazu, möglichst viel Unterschiedliches zu konsumieren, in der Hoffnung, dabei das richtige zu erwischen. Die Anbieter reagieren darauf mit einer regelrechten Flut an Produkten. Ebenso wird komplementär zur Variationsstrategie der Nachfrager eine Strategie der Produktabwandlung von Seiten der Konsumenten benutzt. Auch Täuschung ist eine oft angewandte Strategie. Der Konsument täuscht sich selbst und wird auch gerne getäuscht. Diesem Wunsch werden die Anbieter gerecht und der Kunde honoriert es. All diese Strategien lassen sich ohne weiteres auf den Markt touristischer und freizeitorientierter Produkte übertragen.

2.2.6.2. Zusammenfassung

Sowohl Beck als auch Schulze sehen den Menschen als Individuum auf Grund eines drastischen sozialen Wandels vor neue große Herausforderungen gestellt. Dazu gehört in einer selbst bestimmten Lebensführung Erfolg zu haben. Aber vor allem der richtige Umgang mit einem nie da gewesenen Angebot an Optionen gehört dazu. Als Triebfeder dieser Entwicklung sehen beide die Marktwirtschaft mit all ihren Implikationen. Beck hebt besonders die große Bedeutung der Herauslösung aus den traditionellen Bezügen und die damit verbundene Pluralisierung der Lebensstile hervor, während Schulze vor allem die Umorientierung des Menschen durch die Erweiterten Handlungsspielräume und deren Auswirkungen auf das Marktgeschehen in den Mittelpunkt stellt. Beide jedoch betonen die neue Unsicherheiten, mit denen sich das Individuum nun konfrontiert sieht und heben den Übergangscharakter der von ihnen skizzierten Verhältnisse (nicht der dazu führenden Prozesse!) hervor.

2.3. Individualisierung im räumlichen Kontext

Die Möglichkeiten, das Phänomen der Individualisierung mit dem Raum in Verbindung zu bringen, sind ähnlich zahlreich, wie die verschiedenen Wechselwirkungen, die zwischen Mensch und Raum bestehen. Im Folgenden sollen uns jedoch vor allen Dingen diejenigen Verknüpfungen interessieren, die in besonderer Weise die Freizeitgestaltung und den Fremdenverkehr betreffen.

Die Bedeutung des für die Geographie essentiellen Begriff des „Raumes“ ist im Wandel. Vor allem der rasante Ausbau moderner Transportverbindungen und die Innovationen in der Kommunikations- und Informationstechnologie erwecken den subjektiven Eindruck, dass er zu „schrumpfen“ begonnen hat. Diese weltweite Vernetzung lässt sich unter anderem auch durch die Betrachtung der starke Zunahme des internationalen Tourismus verdeutlichen. Zudem ist der Raum mehr den je „menschengemacht“: Fast überall auf der Welt finden sich bereits Spuren der Zivilisation in der ein oder anderen Form. Zudem setzt der Raum nicht mehr zwangsläufig den Rahmen für menschliches Handeln. Ist genügend Kapital im Spiel, lässt er sich fast beliebig modifizieren und spiegelt somit gewissermaßen menschliche Interessen wieder.

Außerdem werden sich auch die nicht-intendierten Folgen menschlichen Handelns immer mehr oder weniger deutlich im Raum abzeichnen.

Aber schon allein, dass von diesen Entwicklungen nicht alle Regionen gleichermaßen betroffen sind, deutet auf die nach wie vor vorhandene Relevanz des Raumes hin. Obwohl der Raum oft nicht mehr primär die Handlungen der Menschen bestimmt, wird er immer ein zu berücksichtigender Faktor bleiben. Dies deshalb, da er gewissermaßen die „Plattform“ aller menschlichen Handlungen bildet.

Tatsächlich spielen beim Prozess der Individualisierung ursächlich andere Faktoren eine verhältnismäßig größere Rolle als der Raum, wie wir unter Punkt 2.2.3. gesehen haben. (Abgesehen von der räumlichen Dominanz der „Individualisierung“ in okzidentalen Gesellschaften.) Dies mag die Betrachtung des Raumes als weniger bedeutungsvoll erscheinen lassen. Dennoch hinterlässt das Phänomen der Individualisierung zahlreiche, wenn auch oft indirekte Spuren in ihm. Umgekehrt wirkt aber auch der Raum bzw. dessen Wahrnehmung auf die Individuen zurück. Dies werden wir im Folgenden bei der Betrachtung der Auswirkungen des Individualisierungsphänomens im Zusammenhang mit der Freizeitgestaltung sehen.

2.3.1. Die Individualisierung und der Raum

Um dem für die Geographie relevanten Aspekt des „Raumes“ Rechnung zu tragen, muss man sich in Bezug auf die Individualisierung zunächst einige Fragen stellen: Wie wirkt sie sich auf das Verhalten des Menschen im Raum aus? Beeinflusst sie das Verhältnis des Menschen zum Raum? Und was sind die Folgen des in westlichen Gesellschaften seit dem zweiten Weltkrieg feststellbaren „Individualisierungssprungs“?

Im Folgenden soll nun die Bedeutung der Individualisierung im Raum mit Blick auf den Fremdenverkehr hervorgehoben werden. Dabei werden exemplarisch die vier von Wardenga (2002, nach Heineberg 2003) unterschiedenen Raumbegriffe herangezogen, welche in der Realität zusammenwirken: 1. Räume im Sinne von Containern, die alle betreffenden Ausstattungselemente der physisch-materiellen Welt enthalten und als Wirkungsgefüge natürlicher und anthropogener Faktoren zu verstehen sind; 2 . Räume als Systeme von Lagebeziehungen und deren Bedeutung für die Schaffung gesellschaftlicher Wirklichkeit; 3. Räume als Kategorien der Sinneswahrnehmung, die den Individuen dazu dienen, ihre Wahrnehmungen und Handlungen einzuordnen; 4. Räume als soziale Konstrukte, auch im Sinne interessengesteuerter Verbreitung von Raumvorstellungen.

Davon ausgehend kann man bei der räumlichen Betrachtung zum einen den Akteur in den Mittelpunkt stellen, zum anderen den Raum mit seinen Erscheinungsformen selbst.

Stellt man nun das Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung, kann man sehen, dass gerade in der Freizeitgestaltung und im Fremdenverkehr der Raum vom Einzelnen gezielt dazu benutzt wird, sein Innenleben zu beeinflussen (vgl. Schulze!). Der Raum gewinnt hierbei seine Bedeutung vor dem Hintergrund menschlicher Sinneswahrnehmung. So wirken sämtliche Ausstattungselemente des Raumes – von einer simplen Freizeiteinrichtung bis zum Gesamtbild einer ganzen Destination, aber auch zufällige und gewollte soziale Kontakte – auf das Individuum ein, welches sie mit Hilfe seiner kollektiv konstruierten Raumvorstellungen einordnet. In diesem Zusammenhang spielen vor allem die zum Einen kollektiv verfertigten, zum Anderen durch die Anbieter bewusst verbreiteten, geradezu romantisch verklärten räumlichen Konstrukte eine Rolle, auf die der Mensch seine Wünsche und Sehnsüchte projiziert. Jeder der fernsieht kennt die Wirkung einschlägiger Werbespots für bestimmte Destinationen, wie z. B. die Türkei oder Ägypten, welche teilweise mit gängigen Klischees arbeiten. Man stört sich jedoch weniger daran, sondern fühlt sich vielmehr angesprochen. Deshalb kann der Raum, vor allem wenn es um Fernreisen geht, als in hohem Maße sozial konstruiert gelten.

Wenn man nun den Raum selbst in den Mittelpunkt rückt, muss man ihn zunächst als ein System von Lagebeziehungen verstehen. Damit ist vor allem die Thematik von Destination bzw. Attraktion und Einzugsgebiet gemeint. Bei dieser Betrachtungsweise sind z. B. die Verkehrswege zu berücksichtigen. Für unser Thema sind jedoch vor allem auch die Motive und Beweggründe von Bedeutung, die den Einzelnen dazu bringen, seine Heimat zu verlassen, um sich seine Wünsche andernorts zu erfüllen.

Die allgemeinen Auswirkungen auf den Raum selbst sind hierbei einfach zu beschreiben. Je nachdem, wie die kumulierten Präferenzen der Individuen geartet sind, kommt es an bestimmten Standorten zu Veränderungen in der räumlichen Nutzung. Dies kann z. B. die Errichtung einer Ferienanlage sein, aber auch jede beliebige andere Form infrastruktureller Ausstattung, die versucht, dem Bedarf der menschlichen Freizeitgestaltung entgegenzukommen. Damit ist aber immer auch ein Kapitalfluss verbunden, der dabei wirtschaftliche Impulse für eine Region, oder auch nur ein sehr begrenztes Gebiet aussendet. Auch die Frage der Nachhaltigkeit ist in diesem Zusammenhang zu sehen.

Diesem Aspekt liegt eine Vorstellung des Raumes als Wirkungsgefüge zu Grunde.

Genauer betrachtet sind die Wechselwirkungen von Mensch und Raum aber sehr viel vielfältiger.

Im Folgenden sollen nun die Konsequenzen des „Individualisierungssprunges“ zunächst für Freizeit und Fremdenverkehr und davon ausgehend für das Marktgeschehen erläutert werden.

2.3.2. Individualisierung und Freizeit

Es liegt auf der Hand, dass der Mensch durchaus dazu gewillt und in der Lage ist, die ihm durch die zunehmende Individualisierung (und den sich parallel dazu entwickelnden Möglichkeiten der Modernisierung) zugekommenen Freiheiten und Wahlmöglichkeiten auch zu nutzen. Dies tut er selbstverständlich inzwischen bereits bei der Wahl seines Wohnortes und Berufs. Doch wodurch könnte er sich besser verwirklichen als durch die individuelle Nutzung der Zeit, die ihm neben seiner Berufstätigkeit und Lebenserhaltung zusätzlich noch frei zur Verfügung steht?

Im Folgenden wollen wir nun versuchen, den oben erläuterten Prozess der Individualisierung in Zusammenhang mit der menschlichen Freizeitgestaltung bringen.

Die dem Menschen frei zur Verfügung stehende Zeit kann unterschiedlich geartet sein. Freie Zeit steht dem Menschen beispielsweise Feierabends, am Wochenende und im Urlaub zur Verfügung, wobei im Wesentlichen nur im Urlaub die Möglichkeit besteht, eine weitere Reise zu machen.

In unserem Fall braucht man daher nur eine grobe Unterscheidung zwischen Urlaubsreisen und sonstiger Freizeitnutzung, sofern sie mit dem Individualisierungsphänomen in Zusammenhang zu bringen ist, zu treffen.

2.3.2.1. Die Nachfrageseite

Das Reisen mit Individualisierung allgemein in Verbindung zu bringen ist zwar nicht schwer, denn jeder hat seine persönlichen Beweggründe, eine Reise zu unternehmen und sich obendrein für eine bestimmte Form des Reisens zu entscheiden. Doch auch bei einer genaueren Betrachtung wirkte sich der jüngste Individualisierungsschub in der Welt der Freizeitgestaltung und des Tourismus aus.

Allgemein erfuhr die Arbeit im Zuge der Individualisierung einen relativen Bedeutungsverlust gegenüber der Freizeit. Viele Mitglieder der Gesellschaft verlagerten daraufhin das Zentrum ihrer Selbstverwirklichung. Zunehmender Wohlstand und die Flexibilisierung der Arbeitszeit taten ein Übriges und begünstigten diese Entwicklung. So ermöglichte der Wohlstandsgewinn zusammen mit dem „Fahrstuhleffekt“ eine Beteiligung immer größerer Bevölkerungsgruppen am Fremdenverkehr und aufwendigerer Freizeitgestaltung. Deshalb, und auf Grund eines Bedeutungsgewinns eines Individualismus des „Sich-Auslebens“, sowie der Zunahme bzw. Flexibilisierung der Freizeit, hat die Reisehäufigkeit und –intensität stark zugenommen. Doch keiner will genau das Gleiche, wie jeder andere erleben. Zumindest nicht zur selben Zeit am selben Ort.

Trotzdem liegt Verreisen nach wie vor, oder sogar mehr denn je, im Trend. Zudem wird die Suche, sowohl nach Pauschalreisen, als auch nach dem „individuellen“ Erlebnis, stark durch die Nutzung elektronischer Buchungssysteme vereinfacht, durch welche man momentan bei der Vermarktung auf dem Gipfel der Effizienz angelangt ist. Hierbei wird besonders erfolgreich das Baukastenprinzip angewandt, durch das sich jeder seine individuellen Reisen aus standardisierten Angebotselementen gewissermaßen „zusammenstückeln“ kann. Die komplett eigenständige Organisation einer Reise, oder gar Spontanreisen werden vergleichsweise sehr selten unternommen. So wählt der Kunde lieber, wie alle anderen auch, aus einem reichhaltigen Angebot. Denn es zählt ja ohnehin vor allem der Eindruck des Individuellen, welchen der Reisende von sich, und seine Umwelt (zumindest die seines regulären Lebensumfeldes) von ihm haben soll.

Auch bringt ein zunehmender Individualismus die Menschen dazu, für ihre Freizeit immer neue Formen der Gestaltung zu suchen. Sobald durch eine bestimmte Gruppengröße (oder Touristenmenge) eine ausreichende Individualität nicht mehr gewährleistet ist, werden Alternativen der Freizeitgestaltung gesucht. Das Selbe gilt auch in räumlicher Hinsicht. Ist der Ferienort überlaufen, bekommt der Urlaub einen faden Beigeschmack. Um diese Erfahrung künftig zu vermeiden, sucht man sich weiter entfernte, bzw. weniger besuchte Destinationen. Dieser Drang nach Exklusivität treibt die Menschen in die entlegendsten Winkel der Erde, ja inzwischen sogar ins All.

Oft spielt aber der Individualismus beim Reisen keine übergeordnete Rolle. So dient das Reisen ja bekanntlich meist anderen Zwecken als nur der Selbstprofilierung und Abgrenzung gegen andere. Nehmen wir zum Beispiel den der Erholung. In diesem Zusammenhang wäre eine psychologische Entlastungsfunktion des Reisens denkbar, die der ansonsten diffusen Rollenstruktur, welche auf Dauer Rollenstress hervorrufen kann, die Standardrolle des „Touristen“ entgegensetzt.

Entscheidend wird der Individualismus aber oftmals für die Wahl von Destination und Form der Reise.

2.3.2.1.1. Ein neuer Nachfrager-Typ

Vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Phänomene ist es kaum erstaunlich, dass sich im Laufe der Zeit neue Schwerpunkte in der Nachfrage herausgebildet haben, welche neben den ökonomischen, politischen, und sozialen Rahmenbedingungen auch aus dem veränderten Selbst- und Weltbild des Konsumenten resultieren.

Der neue Nachfrager touristischer und freizeitorientierter Produkte ist mehr denn je individualisiert und erlebnisorientiert. Ersteres äußert sich in einem gewissen Abgrenzungsbedürfnis von der „Masse“ der anderen Konsumenten, welches sich sowohl in immer neuen Formen der Freizeitgestaltung, als auch in einer Pluralisierung der Urlaubsstile äußert. Die zunehmende Erlebnisorientierung wird aus einer immer größeren Zahl entsprechender Angebote ersichtlich, die auch angenommen werden. Dazu zählen beispielsweise Abenteuerreisen, aber auch immer exotischere Fernziele. Auch das Aufkommen einer großen Zahl vielfältiger Individualsportarten spricht dafür. Was aber letztendlich als Erlebnis zu gelten hat, hängt in hohem Maße von der Einschätzung des Einzelnen selbst ab.

Nicht zuletzt steht hinter diesen Entwicklungen ein starker Wunsch nach Selbstverwirklichung, welchen der Einzelne entsprechend seiner Möglichkeiten zu verwirklichen sucht. Da diese besser sind den je, und auch die Erfahrungshintergründe der Konsumenten sehr vielfältig, entstand analog zur Nachfrage ein sehr differenziertes und reichhaltiges Angebot, wodurch der Kunde immer mehr zu einem multioptionalen, hybriden Nachfrager, der nur noch aus dem reichhaltigen und vielfältigen Angebot auswählt, wurde.

Zusätzlich prägend für den individuellen Nachfrager touristischer Produkte ist auch die neue Unsicherheit. Er ist sich selbst nicht ganz darüber im Klaren, was er eigentlich haben möchte und warum er es möchte.

2.3.2.1.2. Die „neue Körperlichkeit“

Auch der Bezug zum Körper hat sich im Rahmen der allgemeinen Individualisierungstendenzen inzwischen gewandelt. Egner (2002) beschreibt dies im Rahmen ihrer Untersuchung zu den von ihr als „Natur- und Erlebnissportarten“ bezeichneten Freizeitbetätigungen, die man auch unter dem Begriff Individualsportarten zusammenfassen könnte. Zur Erklärung dieses Phänomens verwendet Egner den systemtheoretischen Ansatz von Luhmann, auf den hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Demnach kann auch der Körper in den Mittelpunkt der mit der Individualisierung verbundenen Selbstschau und Selbstinszenierung rücken. Gerade bei körperorientierten Freizeitbeschäftigungen, vor allem Sportarten kann man dies beobachten, da hier der Körper als eines der auffälligsten Merkmale gilt. Der Körper wird in vielen Bereichen unserer Gesellschaft vernachlässigt und findet dort kaum Beachtung. Dieser partiellen Abwertung des Körpers und der formal zunehmenden Körperdistanzierung steht jedoch seine Aufwertung in anderen Bereichen gegenüber. Einen besonders dafür geeigneten Kontext stellt definitiv die Freizeit dar. Immer jedoch ist der Körper der Mittler der Eigenschaften einer Person und besitzt eine gewisse Natürlichkeit. Deshalb stellt die Betonung des Körpers im Endeffekt einen Rückgriff auf die Nahwelt dar, die dem Menschen Sicherheit verleiht, da sie dazu beiträgt, Komplexität zu reduzieren. Aus diesem Grunde wird der Körper in bestimmten Kontexten auch als Mittel zur Individualisierung und zur Minderung von Unsicherheiten eingesetzt. Zugleich hat man auch ein Natürlichkeitserlebnis beim Einsatz des Körpers, dem auch der Einsatz immer aufwendigerer Technik keinen Abbruch tut. Dies deutet bereits eine Zunahme stärker körperbetonter Freizeitbeschäftigungen und Urlaubsformen an. Auch zeigt die Untersuchung von Egner, dass gerade die Trend- und Natursportarten der gesteigerten Erlebnisorientierung der Individuen Rechnung tragen, die von zunehmender Risikobereitschaft begleitet wird. So bieten sie eine ausgezeichnete Möglichkeit, Individualität zu beweisen und sich von anderen Abzugrenzen. Zudem differenzieren sie sich beständig aus: So können sie kombiniert werden, die Ausrüstung und das Material können verbessert werden und der Körpereinsatz gesteigert. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Gruppengröße zu stark angewachsen und so keine ausreichende Individualität mehr gewährleistet ist.

2.3.2.2. Die Anbgebotsseite

Im Laufe der um sich greifenden Modernisierung und Individualisierung kam es zu einem radikalen Wandel des Tourismusmarktes von einem Angebots- zum Nachfragemarkt. In Folge dieser Entwicklung kam es auch zu einer Marktausweitung und einer immer weiterreichenden Differenzierung und Diversifizierung des Angebotes. Verantwortlich für diese neuen Gegebenheiten waren vor allen Dingen die zunehmende Innen- und Erlebnisorientierung, der um sich greifende Trend zur Selbstverwirklichung und die neue Körperlichkeit.

2.3.2.2.1. Neue Herausforderungen

Die Angebotsseite sieht sich in der Folge des Individualisierungsschubs vor zahlreiche Herausforderungen gestellt. Sie soll die relativ unvorhersehbaren Wünsche der Kunden antizipieren, nicht mehr nur erwecken. Die Anbieter sind gewissermaßen gezwungen, bereits auf die Wünsche der Kunden einzugehen, bevor diese sich überhaupt selbst erst darüber klar geworden sind. Dies wird dadurch erschwert, dass mit der Ausweitung des Marktes für touristische und freizeitorientierte Produkte auch der Konkurrenzdruck stark zugenommen hat. Unter diesen Bedingungen erlangt auch die Konsumforschung eine immer größere Bedeutung für die Anbieter. Diese soll einerseits auf die neue Qualität des Nachfragers reagieren, andererseits bereits frühzeitig neue Trends ausmachen, die ja in beständigem Wandel sind. Gleichzeitig sind flexible Reaktionen auf unvorhergesehene Änderungen der Rahmenbedingungen notwendig. Dazu können beispielsweise auch Naturkatastrophen zählen, wie der Tsunami im Indischen Ozean am 26.12.2004.

2.3.2.2.2. Reaktionen der Anbieter

Da das Verhalten der potentiellen Kunden durch die zunehmende Individualisierung sehr schwierig vorauszubestimmen ist, reagieren viele Anbieter touristischer Produkte mit ähnlichen Strategien, wie sie Schulze (1993, siehe Punkt 2.2.6.2.) beschreibt. Sie beginnen, ihre Angebotspalette zu erweitern. Dabei konfrontieren sie den Kunden mit einer zunehmenden Produktvielfalt, in der Hoffnung, er werde schon das passende auswählen. Außerdem bieten sie ihm die Möglichkeit zur persönlichen Modifikationen. In der Werbung (z. B. Fernsehwerbung für bestimmte Destinationen) setzen sie inzwischen eher darauf, bereits latent vorhandene Wünsche und Sehnsüchte aufzugreifen, als sie erst zu erwecken. In diesem Zusammenhang wird in gewisser Weise auch versucht, die im Zuge der Individualisierung entstandene Unsicherheit und Orientierungslosigkeit beim potentiellen Kunden auszunutzen.

Obwohl die Angebotsseite auf dem Tourismusmarkt bereits langjährige Erfahrungen sammeln konnte, sind diese nur bedingt verwendbar, weil auf Grund der immer noch zunehmenden Individualisierung und dem nach wie vor stattfindenden Prozess des gesellschaftlichen Wandels andauernd neue Konsummuster und neue Trends entstehen. Da sich so die Nachfrage beständig ändert, ist die Konsumforschung für touristische Anbieter enorm wichtig geworden. Trotzdem genügt es inzwischen nicht mehr, den Kunden nur zufrieden zu stellen, man muss ihm schon ein einmaliges Erlebnis bieten können, möchte man ihn behalten: Auch wenn ihm etwas gefällt, woher soll er die Sicherheit haben, dass etwas anderes seinen Ansprüchen nicht besser genügen würde? Aus diesem Grunde ist es heutzutage sehr schwer, auf dem Tourismusmarkt eine Kundenbindung zu erzielen. Da zudem auch der Konkurrenzdruck auf dem touristischen Markt bereits sehr groß ist, hat die Anbieterseite einen relativ schweren Stand. So ist es auch zu erklären, dass gerade die Tourismuswirtschaft in einem relativ hohen Maße von großen Konzernen dominiert wird.

Von besonderer Bedeutung für die Angebotsseite ist auch die Nutzung moderner Kommunikationstechnologien, um den Kunden möglichst schnell erreichen zu können.

2.3.2.2.3. Individual- und Massentourismus: Ein Spannungsfeld

Durch das zunehmende Bedürfnis nach Abgrenzung und Selbstverwirklichung öffnet sich zusehends ein „Spannungsfeld“ zwischen Individual- und Massentourismus. „Auf der einen Seite wird Reisen immer mehr zum Massenphänomen, auf der anderen möchte der Tourist mit zunehmender Emanzipation möglichst individuell reisen und auch als Einzelreisender behandelt werden.“ (Asper 1997, S. 148/149) Wie es dem Tourismus generell widerfahren ist, wird in zunehmendem Maße auch der Individualtourismus dabei zum Massenphänomen in unserer Gesellschaft. Dies führt ihn dabei auf gewisse Weise ad absurdum. Doch eine derartige Entwicklung wird durch das Individuum selbst nicht so stark wahrgenommen: Der Kunde meint individuell zu reisen, stellt sich jedoch seine Reise nur aus vorgefertigten, standardisierten Angebotselementen zusammen. Die touristischen Produkte werden zwar im Endeffekt als Massenware erzeugt, haben jedoch nicht ihr Image. Dadurch entsteht der Eindruck des Individuellen, obwohl es sich dabei wiederum um ein Massenphänomen handelt.

2.3.3. Versuche der Erfassung von Individualität im Fremdenverkehr: Motive, Milieus, Lebensstile

Wie bereits erwähnt, rückt der Focus sozialwissenschaftlicher Betrachtungen unwillkürlich immer näher an das Individuum heran. Dies ist nötig, da die übergeordneten Lebensbedingungen nur bedingt noch Aufschluss über das tatsächliche Handeln geben können. So muss man nun versuchen, die diffusen persönlichen Handlungsmotivationen der Menschen möglichst genau zu erfassen. Damit befasst sich in besonderer Weise auch die Konsumforschung.

2.3.3.1. Motivationsgrundlagen

Kaspar (1986, S. 40) unterscheidet hierbei fünf Motivationsgruppen, die bestimmten Gruppen von Fremdenverkehrsarten den Vorzug geben: Die physischen, die psychischen, die interpersonellen, die kulturellen und die Status- und Prestigemotivationen. So zieht eine Physische Motivation, deren Ursache ein Bedürfnis nach Erholung, Heilung oder Sport ist, entsprechend den Erholungs-, Kur- oder Sporttourismus nach sich. Die Psychischen Motivationen, welche Zerstreuung, Erlebnisdrang und Ausbruch aus der alltäglichen Isolierung sein können, sind die Ursachen des eigentlichen Erlebnistourismus, wie er im Bildungs-, Erholungs- und Klubtourismus vorkommt. Interpersonelle Motivationen, wie sie hinter dem Besuch von Freunden und Bekannten und dem Wunsch nach Geselligkeit bzw. dem Knüpfen sozialer Kontakte stehen, haben Verwandtentourismus, aber auch Klub- oder Erlebnistourismus zur Folge. Auch der Eskapismus, der nach Kaspar gewissermaßen eine Flucht vor einem allzu zivilisierten Alltag darstellt, fällt in diese Kategorie. Er kann z. B. die Motivationsgrundlage für einen Campingurlaub bilden. Die kulturellen Motivationen, wie der Wunsch nach dem Kennenlernen anderer Länder, ihrer Sitten, Gebräuche und Sprachen, sowie Kunstinteresse oder Reisen aus religiösen Gründen, gelten hier als Ursachen des Bildungstourismus. Unter Status- und Prestigemotivationen nennt Kaspar zum einen den Wunsch nach Persönlicher Entfaltung im Sinne einer Aus- und Weiterbildung, der sich Geschäfts- und Kongresstourismus niederschlägt, aber auch den Wunsch nach Anerkennung und Wertschätzung, wie bei den sogenannten Renomierreisen der Fall, die Erlebnistourismus, aber auch wiederum Kongresstourismus beinhalten können.

Diese Motivationen können zudem durch soziale wirtschaftliche Einflussfaktoren in ihrer Umsetzung modifiziert werden.

Doch bereits Kaspar weist auf Schwierigkeiten mit dieser Unscheidung nach Motivationsgruppen hin. Demnach würden diese sich oft auch überschneiden und gemeinsam ein Verlassen des Wohn- und Arbeitsortes bewirken. Zudem weist er, indem er Krippendorf zitiert auf tiefgreifende, bevorstehende Wandlungen im Tourismus hin, darunter auch wachsender Widerstand gegen die totale Anonymisierung in der Masse. (Kaspar 1986 S. 41) Darin deuten sich bereits wieder der Trend zur Individualisierung und die Erforderlichkeit neuer Möglichkeiten der Erfassung an.

2.3.3.2. Milieubetrachtung

Schulzes (1993) theoretische Betrachtung der „Erlebnisgesellschaft“ basiert in erster Linie auf der Annahme von soziokulturellen Milieus. Milieus bezeichnet Schulze als „Selbsthilfegruppen kognitiver Stabilisierung, in denen man sich gegenseitig versichert, dass die Wirklichkeit so sei, wie sie scheint.“ (Schulze 1993, S. 415) Sie sind das Element des Kollektiven, das sich in alle Lebensbereiche hinein auswirkt und neue Erfahrungen von vornherein beeinflusst. Milieus dienen der Verminderung von Unsicherheit und erarbeiten „Projektentwürfe[n] des schönen Lebens“ (Schulze 1993, S. 416), welche Schulze auch als „Erlebnisparadigmen“ bezeichnet. In seiner „Erlebnisgesellschaft“ beschreibt Schulze (2000) unter anderem fünf verschiedene Milieus, darunter das Niveaumilieu, das Harmoniemilieu, das Integrationsmilieu, das Selbstverwirklichungsmilieu und das Unterhaltungsmilieu.

2.3.3.3. Das Lebensstilkonzept: Ein neuerer Ansatz

Lebensstile sind nach Lüdtke „unverwechselbare, relativ stabile Muster der Lebensführung und der Lebensorganisation privater Haushalte, die als Mischeffekte von rationaler Wahl und Habitualisierung entstehen und die, da symbolisch im sozialen Verkehr dargestellt und sanktioniert, sich zu kollektiven Typen aggregieren und insofern eine Form der Vergesellschaftung darstellen.“ (Lüdtke 2000, S.10) Dieser Ansatz versucht, gerade den neuartigen Differenzierungs- und Individualisierungsprozessen Rechnung zu tragen, wie sie in jüngerer Zeit in Deutschland auftreten. Dabei spielt es keine übergeordnete Rolle, auf welche Weise man diese herleitet. Dies ist notwendig, da die älteren Schicht- und Klassentheorien oftmals keine Erklärungen mehr bieten können. Des Weiteren haben die Bildungsexpansion und das sich differenzierende Ausbildungssystem, sowie die damit verbundene Qualifizierung und Informalisierung der Gesellschaft, dazu beigetragen, dass die kulturellen Verfeinerungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Ungleichheit erheblich zugenommen haben. Dabei wurden auch Mediengebrauch, Freizeit und kulturelle Praxis immer bedeutender. Während ältere Theorien eher von der Makroperspektive ausgingen und Individuen hauptsächlich über ihre „soziale Platzierung im System sozialer Ungleichheiten“ (Lüdtke 2000, S. 11) betrachtet wurden, werden beim Lebensstilkonzept verstärkt die Akteursperspektive und handlungstheoretische Erweiterungen mit einbezogen. So erschließt der Lebensstilansatz eher die „horizontalen“ Aspekte sozialer Ungleichheit, wie z. B. Alter, Geschlecht, Region, Subkultur etc., als die „vertikalen“, wie Geld, Macht und Sozialprestige, obwohl man durchaus die Wechselwirkungen der beiden Dimensionen untersucht.

Zur begrifflichen Abgrenzung zitiert Lüdtke Hradil, indem er zunächst „soziale Lagen“ als Kontexte objektiver Ressourcen und Zwänge bezeichnet. Daran anschließend sind Milieus Kontexte subjektiv bewerteter und nach innen kommunizierter Ressourcen bzw. Instrumente. Subkulturen schließlich stellen Kontexte objektiver Werte und Normen dar. Die Lebensstile schließlich werden als Kontexte von konkreten Handlungen, das heißt der wertgesteuerten Umsetzung verfügbarer Ressourcen, beschrieben.

3. Zusammenfassung und Entwicklungstendenzen

Wie wir nun gesehen haben, handelt es sich beim Phänomen Individualisierung tatsächlich um einen tiefgreifenden Prozess, der die soziale Ordnung der Gesellschaft von Grund auf verändert hat und nach wie vor verändert. Die treibende Kraft die hinter dieser Entwicklung steht ist die Marktwirtschaft. Aus ihr resultiert auch der Wohlstand, der die unbedingte Voraussetzung für eine Individualisierung solchen Ausmaßes ist. Die Frage nach der Zukunft des Individualismus ist immer auch die Frage, ob dieser bei einer Zunahme der Arbeitslosigkeit und einer weiteren Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich selbst in unserer Gesellschaft dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Denn Individualismus war schon immer eher ein Privileg der Wohlhabenden. Unter diesem Aspekt stellt sich auch die –angesichts der riesigen globalen Disparitäten – zu bezweifelnde Frage, ob Wohlstand prinzipiell für alle möglich ist. Selbst wenn man diese Frage von einer ideologischen Warte aus bejahen würde, müsste man trotzdem zugeben, dass es ein unwahrscheinlich langer und schwieriger Weg dorthin wäre. Oder ist es andererseits vielleicht möglich, dass der Individualismus als Form der Vergesellschaftung nicht mehr revidierbar ist und sich auch bei abnehmendem Wohlstand fortentwickelt? Oder wird er am Ende gar zu einer Kraft, die die Marktwirtschaft weiter voran treibt und neuen Wohlstand generiert? Auf jeden Fall ist er ein Phänomen, das die Wirtschaft sehr dynamisch gestaltet und die Entwicklung von Angebot und Nachfrage sehr eng miteinander verknüpft hat. Was die Freizeitgestaltung betrifft, scheint die Individualisierung auf jeden Fall nach wie vor ein erstaunliches Potential zu besitzen, was sich an entsprechenden Zahlen verdeutlichen lässt. Einmal davon abgesehen, dass die Individualisierung trotz struktureller Krisen wirtschaftlicher und sozialer Natur immer noch auf dem Vormarsch ist und weitere Konsumwillige rekrutiert, erschließt sie auf diesem Gebiet immer neue Bereiche. Zwar werden alte Formen des Tourismus und der Freizeitgestaltung teilweise verdrängt, die Zahl der neu hinzukommenden übertrifft sie jedoch nach wie vor. So hat die Individualisierung auch in diesem Bereich einen nicht zu unterschätzenden Wachstumsmarkt geschaffen.

Literatur

- Asper, Adrian: Globalisierung von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und die Auswirkungen auf den Tourismus, St. Gallener Beiträge zum Tourismus und zur Verkehrswirtschaft, Bd. 32; Bern/ Stuttgart/ Wien 1997
- Beck, Ulrich und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten – Individualisierung in modernen Gesellschaften; Frankfurt 1994
- Egner, Heike: Freizeit als Individualisierungsplattform; in: Geographische Zeitschrift, Bd. 90; Stuttgart 2002
- Ebers, Nicola: Individualisierung – Georg Simmel, Norbert Elias, Ulrich Beck; Würzburg 1995
- Heineberg, Heinz: Einführung in die Anthropogeographie, Humangeographie; Paderborn/ München 2003
- Kaspar, Claude: Die Fremdenverkehrslehre im Grundriss, St. Gallener Beiträge zum Fremdenverkehr und zur Verkehrswirtschaft; 1986 Bern/ Stuttgart
- Kron, Thomas (Hrsg.): Individualisierung und soziologische Theorie; Opladen 2000
- Kraft, Susanne: „Individualisierung“ und „Modernisierung“; Regensburg 1992
- Küblböck, Stefan: Urlaub im Club – Zugänge zum Verständnis künstlicher Ferienwelten, Eichstätter Tourismuswissenschaftliche Beiträge Bd. 5; München/ Wien 2005
- Lüdtke, Hartmut: Zeitverwendung und Lebensstile; Münster 2000
- Schulze, Gerhard: Entgrenzung und Innenorientierung – Eine Einführung in die Theorie der Erlebnisgesellschaft in: Gegenwartskunde 4; Opladen 1993
- Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart; Frankfurt/ New York 2000
- Uttiz, Pavel: Freizeitverhalten im Wandel; Erkrath 1985
- Vester, H.-G.: Soziologie der Postmoderne; München 1993

[...]


1 Die Frage nach einer Postmoderne stellte sich oftmals noch nicht.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Individualisierung und Diversifizierung als Elemente des sozialen Wandels
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Veranstaltung
Hauptseminar Theorien, Modelle und Konzepte im Tourismus. Interdisziplinäre Erklärungsansätze zum Thema Urlaub und Reisen
Autor
Jahr
2005
Seiten
36
Katalognummer
V110195
ISBN (eBook)
9783640083718
ISBN (Buch)
9783656770626
Dateigröße
514 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Zwar wurde diese Hausarbeit (beziehungsweise der ausgestellte Schein) nicht benotet, jedoch nach den Empfehlungen des Dozenten freiwillig verbessert, so dass sie auch inhaltlich gewissen Qualitätsstandards entsprechen müsste.
Schlagworte
Prozesse, Individualisierung, Diversifizierung, Elemente, Wandels, Theoretische, Erklärungskonzepte, Befunde, Relevanz, Hauptseminar, Theorien, Modelle, Konzepte, Tourismus, Interdisziplinäre, Erklärungsansätze, Thema, Urlaub, Reisen
Arbeit zitieren
Martin Drischmann (Autor:in), 2005, Individualisierung und Diversifizierung als Elemente des sozialen Wandels, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110195

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