Was Globalisierung so alles anrichtet
IM TAL DER CYBER-WEIBER
Neulich unterhielt ich mich mit einer jungen Frau über ihre Stelle in einem Marketingunternehmen, die sie erst vor kurzem angetreten hatte und erfuhr, sie sei durch und durch ein «globaler Mensch» geworden — sozusagen globalisiert. Toll, dachte ich. Nur, was um Himmels Willen ist eine globalisierte Frau?
Wollte sie mir mitteilen, dass sie ein weiteres Attribut besitze, ähnlich einer verheirateten Frau, einer flambierten oder einer sterilisierten Frau? War sie jetzt, als globalisierte Frau eine moderne Nomadin geworden - und, wer oder was hatte sie dazu gemacht? Ich verabschiedete mich recht bald; unsicher und noch immer unwissend. Aber ich habe mich inzwischen schlau gemacht, schliesslich will frau nicht dumm sterben.
Wie die Metapher der Postmoderne, habe ich gelernt, transportiert auch der Begriff Globalisierung ein diffuses Bewusstsein über eine gesellschaftliche Erscheinung, eine Vielfalt von Entwicklungen in den Bereichen Finanzen, Informationsnetz, Kultur, Unternehmenspolitik, Umwelt und so weiter.
AM ANFANG WAR DAS WORT
Der Begriff «Globalisierung» hat eine geradezu erstaunliche Karriere hinter sich, Ist er ursprünglich Mitte der achtziger Jahre im Managementbereich internationaler Konzerne entstanden, war er bereits 1996 in den Top Ten der «Worte des Jahres» der Gesellschaft für Deutsche Sprache angekommen. Seither scheint alles global zu sein — oder zumindest auf dem Weg dorthin. Aber der Prozess der Globalisierung erscheint im alltagssprachlichen Gebrauch auch als eine Entwicklung, die Ängste und Unsicherheiten vermittelt. Globalisierung gefährdet den Sozialstaat. Heisst es. Globalisierung drückt die Löhne und gefährdet Arbeitsplätze. Heisst es. Der Begriff, häufig gepaart mit «Weltmarkt» und «Standort», ist inzwischen im rhetorischen Repertoire von Politikern ebenso Zuhause wie bei Publizisten und Journalisten. Nicht zuletzt wegen dieser häufigen Verwendung bleibt der Begriff in der Alltagssprache seltsam diffus und zuweilen bedrohlich.
Dabei stand am Beginn der Entwicklung die enthusiastische Vorstellung, dass Staaten davon profitieren, wenn sie sich wirtschaftlich untereinander austauschen, statt sich abzukapseln und auf sich selbst zu konzentrieren. Die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) definiert Globalisierung als “Prozess, durch den Märkte und Produktion in verschiedenen Ländern immer mehr voneinander abhängig werden. Dank der Dynamik des Handels mit Gütern und Dienstleistungen und durch die Bewegung von Kapital und Technologie». Somit ist Globalisierung zweifellos ein in starkem Masse ökonomisches Phänomen. Es ist mit ihm ein Prozess gemeint, der bis in die Anfänge der Industrialisierung zurück reicht. Sprunghaft beschleunigt wurde die weltweite Öffnung der Märkte durch eine Reihe unterschiedlicher Faktoren. So konnten beispielsweise nicht zuletzt auf der letzten Messe Cebit die neuesten innovativen Entwicklungen im Bereich der Mikroelektronik bestaunt werden. Die Gewinnung, Übertragung und Speicherung von Informationen (Optoelektronik) entwickelt sich derart rasant, dass wir kaum noch hinterherkommen. Und das sekundenschnelle Übertragen von komplizierten Konstruktionsplänen für Maschinen an jeden Ort der Welt ruft schon lange keine Begeisterungsstürme mehr hervor.
GLOBAL WIDER WILLEN
Aber der Begriff meint nicht nur Öffnung der Märkte. Auch das Geld überwindet inzwischen nahezu alle Grenzen. Längst — wenn auch nicht immer bewusst — verhalten sich Konsumentlnnen genauso global wie Unternehmen, suchen nach preiswerten Produkten und nutzen so die kostengünstigen Herstellungsbedingungen anderer Staaten. Das trifft nicht für Sie zu? Dann werfen Sie doch mal einen Blick auf das Etikett Ihres letzten «supergünstigen» Pullovers oder auf die Spielsachen im Kinderzimmer...
Während die einen, wie offenbar auch meine sympathische Gesprächs-partnerin, beim Thema Globalisierung in eine regelrechte Aufbruchstimmung geraten und bereits die «Befreiung aus engen und überholten Grenzen» am Horizont erblicken, fühlen sich die Kritiker der Entwicklung ausgeliefert und sehen keine Chance der Kontrolle und des Eingreifens mehr. Für sie scheint sich die Globalisierung geradezu wie eine gewaltige Lawine über ihnen zusammenzubrauen. Sie sind es auch, die in den Globalisierungstendenzen eine kulturelle Nivellierung sehen. Dies vor allem dann, wenn aus ökonomischen Interessen heraus einheitliche Standards weltweit festgelegt oder mit grossem Werbeaufwand kulturelle Werte international durchgesetzt werden. Somit wird im Endeffekt häufig ein Lebensstil geprägt, dessen Bedeutung dann weit über das Ursprungsland — häufig die USA — hinausreicht.
Ist «globalisiert zu sein» demnach fremdbestimmt, ansteckend oder in irgendeiner Form nachteilig? Ich möchte im Folgenden einige Bereiche des alltäglichen Lebens näher betrachten und die Auswirkungen von
Globalisierung für den/die Einzelne(n) skizzieren.
WER BIN ICH?
Wenn ich über mich selbst nachdenke und versuche anderen ein Bild von mir zu geben, kann dies über Eigenschaften geschehen, die ich für mich als eigentümlich betrachte, in denen ich mich von anderen unterscheide. Ich kann mich aber auch über eine bewusst gewählte oder erlebte Zugehörigkeit definieren. Dann sage ich z.B. über mich, dass ich eine Frau, eine Schweizerin, eine Protestantin bin — und eben kein Mann, kein Ukrainer, kein Atheist. In allen diesen Fällen mache ich eine Identität geltend, die ich mit anderen gemeinsam habe und die mich zugleich von anderen unterscheidet. Was aber geschieht nun, wenn durch Globalisierung ein neues Selbstverständnis entsteht? Wenn sich die «globale Frau» nicht mehr in ein Kultursystem integriert sieht, da die Unterschiede mehr und mehr verschwimmen? Kommt es zu einer Gesellschaft von Gleichen? Voraussetzung wäre hier, dass Schutz und Recht universal zugänglich, der Status des Fremden aufgehoben wäre — die Universalisierung der Menschenrechte. Insofern ist der beliebte Autoaufkleber «Jeder ist ein Ausländer — fast überall» die Kurzform der globalisierten Gesellschaft par excellence.
WOHIN GEHE ICH?
Unsere Grossmütter und Mütter —wenn sie nicht auf Grund von Vertreibung oder Krieg dazu gezwungen waren — wussten, wohin sie gehen beziehungsweise nicht gehen. Das Leben bestand aus räumlicher Kontinuität; sie wurden gross, arbeiteten und starben an ein und demselben Ort oder in unmittelbarer Nähe von ihm. Heute kann fast niemand mehr davon ausgehen, dass sie nicht mehrere Male in ihrem Leben die Koffer packt — vor allem, wenn sie erwerbstätig ist. «Wanderungsbewegung» nennen das die Soziologen und meinen damit allgemein die Entwicklung, dass wir an unterschiedlichen Orten heranwachsen, lernen, arbeiten und unseren Lebensabend verbringen.Aber mit dem Umzug ist es nicht getan. Mit jeder örtlichen Veränderung wechseln wir auch die Bezugspersonen, die Orientierung und unter Umständen die Sprache.
WORÜBER UND WIE VERMITTLE ICH MICH?
Welche Möglichkeiten habe ich, mich jemandem mitzuteilen? Ich kann ihr schreiben, sie anrufen oder — und hier sind wir mitten im Prozess der Globalisierung — ihr mailen. Die Entwicklung von neuen lnformations- und Kommunikationstechniken — und hierzu gehört vor allem das Internet —hat nicht nur dazu geführt, dass schätzungsweise 60 bis 90 Millionen Menschen heute rund um den Globus in Sekundenschnelle kommunizieren können. Diese Art des Austausches hat auch dazu geführt, dass in grossen Unternehmen weniger Teamsitzungen abgehalten werden und dafür Informationen «durch das Netz» rauschen. Globalisierung trägt also auch dazu bei, persönliche Kontakte zu Gunsten von Zeiteinsparungen durch elektronische Kontakte zu ersetzen.
SCHADE
Hatte ich neulich, nach diesem interessanten Gespräch mit der jungen Frau noch das flaue Gefühl im Magen, etwas ganz Aussergewöhnliches verpasst zu haben, atme ich inzwischen insgeheim auf. Meine Gesprächspartnerin tut mir ein bisschen leid: Wollte sie mir doch offensichtlich mit ihrer Selbstbeschreibung vermitteln, dass sie nicht mehr so ohne weiteres ihre Identität und ihren «Heimathafen» identifizieren kann und in ihrer neuen Firma häufiger per Mail als von Angesicht zu Angesicht mit den KollegInnen spricht...
- Arbeit zitieren
- Dr. Sabrina Böhmer (Autor:in), 2000, Im Tal der Cyberweiber, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110341