„Personen, deren Lernverhalten wesentlich hinter der auf das Lebensalter bezogenen Erwartung zurückbleibt und durch ein dauerndes Vorherrschen des anschauend-vollziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten und eine Konzentration des Lernfeldes auf direkte Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet ist (...) bei einem Intelligenzquotienten von unter 55/60 ...“ (Bach in Hentsel, S.133)
1 Allgemeines
1.1 Definition: Was ist eigentlich „Geistige Behinderung“?
„Personen, deren Lernverhalten wesentlich hinter der auf das Lebensalter bezogenen Erwartung zurückbleibt und durch ein dauerndes Vorherrschen des anschauend-vollziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten und eine Konzentration des Lernfeldes auf direkte Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet ist (...) bei einem Intelligenzquotienten von unter 55/60 ...“ (Bach in Hentsel, S.133)
- Entwicklungsstand
- Lernverhalten
- Kognitiv
Geistig behindert sind „(...) Personen bei denen infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist.“ (§ 47 BSHG in Hentsel, S. 135)
- Soziale Kompetenz
- Gesellschaftl. Aspekt
Merk fasst die Dimensionen von Behinderung gemäß der WHO zusammen:
- „Impairment“: Aus medizinischer Perspektive, also auf organische Schädigung bezogen
- „Disability“: Die konkreten, „individuellen Auswirkung der Schädigung hinsichtlich der Fähigkeit gewisse Fertigkeiten auszuführen“
- „Handicap“: Der gesellschaftliche Aspekt von Behinderung: Durch die Behinderung können gesellschaftliche Nachteile entstehen. (Merk 2000, 8f)
Inzwischen werden statt Disability – Activity (limitation) und statt Handicap – Participation (restriction) verwendet. Ferner wurde eine 4. Dimension ergänzt:
- „Kontextfaktoren“: „milieuabhängige sowie personelle Bedingungen, Lebensumstände und Umwelten“ (Bleidick 1999. S.18f)
1.2 Ein Blick auf die Anthropologie
Menschliche Fähigkeiten:
- Komplexe Kommunikation (Sprache, Schrift)
- Bewusstsein (seiner selbst – Umwelt – Raum – Zeit)
- Aktive Umweltveränderung, -gestaltung
- Offenes Verhaltensrepertoire (Umweltanpassung, Umweltlernen)
Mensch ist ein:
- Mängelwesen - Unangepasstheit (Portman)
- Geisteswesen – Vernunft als Daseinsbewältigung (Platon)
- Triebwesen - Sublimierung von Sexualität in Kultur (Freud)
- Sozialwesen – Sozialität als Lebensbedingung und Aufgabe (Aristoteles)
In Bezug zu Geistiger Behinderung
- Doppelte Mängelhaftigkeit – Keine/Geringe Kompensationsmöglichkeit!
- (Stark) eingeschränkte Geistigkeit!
- Sublimierung möglich?
- Soziabilität kann womöglich weder als Bedingung noch als Aufgabe erfüllt werden?
Der australische Bioethiker Singer (in Mühl 1997, S.30): Menschsein, Personsein ist abhängig von Fähigkeiten; z.B. Kommunikation, Bewusstsein u.ä.
Hieraus folgert er in seiner Abhandlung „Praktische Ethik“ (dt. 1984), da diese Fähigkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht vorhanden sind, dass bei diesen (und deren Angehörigen) das Leiden die Lebenssituation überwiegt.
Einem utlilitaristischen (das Glück vieler ist dem Glück des einzelnen vorzuziehen) Ansatz folgend, stellt er die These, dass die Tötung behinderten Lebens sowohl prä- als auch postnatal vorzuziehen sei.
Aber: An welchen Maßstäben macht er dieses Leiden fest. An der subjektiv empfundenen Norm!
Er scheint sich nicht mit dem subjektiv empfundenen Lebensgefühl von behinderten Menschen tiefer auseinandergesetzt zu haben.
Man muss sich der „Anthropologischen Differenz“ (z.B. Kamper in Bleidick 1999, S.132) bewusst sein; so ist „der Schwerstbehinderte nicht eine abwegige Missbildung der menschlichen Natur, sondern im Gegenteil eine exemplarische Erscheinungsform menschlichen Seins.“ (Schleich 1966, S.38; in Hensle 2002, S.330)
„Menschsein ist Zuwendungsbedürftigkeit, der ein gewisses Maß an Zuwendungsbereitschaft entsprechen muss.“ (Mühl 1997, S.30)
Wobei den geistig behinderten Menschen (nur diesen?) eine „lebenslange Hilfsbedürftigkeit“ (Fornefeld 2000, S.75) auszeichnet.
1. Wandel im Umgang mit (geistig) behinderten Menschen in der „Westlichen Welt“ 1.1. Bis zur 2. Hälfte des 20. Jhdt.
„Idioten und Imbezille sind nicht bildungs- und deshalb nicht einmal hilfsschulfähig“ (Villinger 1952)
Die Situation geistig Behinderter Menschen war geprägt durch
- Pädagogik: keine Bildbarkeit; defektorientiertes Bild der Entwicklung und der Lernbedingen des Behinderten
- Wohnsituation: geschlossene Anstalten; abgelegene, dezentrale Lage (möglich nicht in Siedlungsnähe); möglichst homogene Gruppen
- Lebenserwartung: niedrig, v.a. durch sehr hohe Kindersterblichkeit (fehlende med. Kenntnisse)
- Selbstbild der Betreuenden: Pflegend, Mitleidvoll
Sprache: Idiot, Schwachsinnige, Krüppel, Hilfsschule, Pfleger
1.3 Heute
- Sprache: Klient, Menschen mit geistiger Behinderung -> Menschen mit einer Lernschwierigkeit, (Lebens-)Praktisch Bildbare, Schulen zur individuellen Lebensbewältigung, Assistent
- Selbstbild der Betreuenden: Assistierend, Dolmetschend (siehe 3.3.)
- Lebenserwartung nahezu normal (allerdings etwas höhere Kindersterblichkeit)
- Pädagogik: Paradigmenwechsel: Defektorientierter -> interaktional-strukturaler Erklärungsansatz von Behinderung: „Unser Erklärungsansatz einer instrumentellen, akzidentiellen Abweichung menschlicher Lebensweise im Falle einer geistigen Behinderung legt es nahe, von Übereinstimmungen im Prozess menschlicher Entwicklung auszugehen, und das im Detail Abweichende individuell zu bestimmen“ (Speck 1997, S.93)
„Es geht nicht mehr um Gewöhnung und Anpassung des behinderten Menschen an routinierte Erwartungen, sondern um ein Hineinführen in unser kulturell-gesellschaftliches Leben, auf der Grundlage subjektiver Weltdeutung und –erfassung.“ (Fornefeld 2000, S. 163)
- Wohnsituation: Kaum noch Heimunterbringung; häufigste Wohnform in WG, aber auch betreutes Wohnen; in Städten, dort wo Menschen sind
2 Bildung und Erziehung zur Selbstbestimmung
2.1 Grundsätzliches
Bedeutsame Entwicklungen, trotzdem hinkt die Geistigbehindertenpädagogik der Allgemeinen Pädagogik hinterher; eben auch, was die Emanzipation anbelangt: Das Wort Emanzipation existiert nicht (Also in den 60er/70er Jahren kein Einzug in die GBP.
Seit den 1990er Jahren findet Selbstbestimmung auch verstärkt hier Zugang in Theorie und Praxis
Vorausgegangen sind
- Normalisierungsprinzip
- Integrationsforderung
Das neue Schlagwort ist Empowerment (Emanzipation von gesell. Randgruppen)
Vorsicht: Selbstständigkeit ist hilfreich, aber nicht gleichzusetzen mit Selbstbestimmung
1.2. Probleme
- Infantilisierung – in div. Formen, z.B. Themen i.d. Erwachsenenbildung; Duzen von Erwachsenen durch Öffentlichkeit (und meist auch Fachleute)
- Gewöhnte Abhängigkeit (wechselseitig) von den Eltern: Emotional, Entscheidungen, Familienstruktur, ...
- Gewöhnte Abhängigkeit von Pädagogen
- Verhaltensgewohnheiten
- Unterschätzung der Fähigkeiten des behinderten Menschen
- Kommunikationsprobleme: Teufelskreis: Probleme beim Verständlichmachen -> Verständnislosigkeit der Umwelt
1.3. Der Pädagoge/Die Pädagogin
(Lebenspraktische) HelferInnen werden zu „AssistentInnen“; Niehoff (1994) vergleicht ihre Arbeit mit der von Dolmetschern
(Rohrmann, 1994, S. 22:) Hoher Anspruch an
- Selbstreflektion
- Zurücknahme der eigenen Bedürfnisse und Wünsche
- Phantasie
- Wahrnehmung
- Kommunikationsfähigkeit
Hauptaufgabe besteht in der Organisation von
- Alltag
- Arbeit
- Behördenkontakt
- Lernumgebungen
3 Orte / Aufgaben einer auf Selbstbestimmung zielenden Pädagogik (Impulse – Gedanken)
3.1 Der Ursprung: Die Eltern
Der elterliche Erziehungsstiel prägt natürlich.
Eltern sollten so weit wie möglich bzw. nötig einbezogen werden.
Prinzipiell: Vorsicht vor dem Rückfall in alte Abhängigkeit
1.4. Schule
In der mir vorgefundenen Literatur nur selten thematisert;
Erziehungs- und Bildungsziel sind hier vorherrschend Lebenspraktische Fähigkeiten. Bach (95, S.94) führt immerhin an 13. Stelle „Mündigkeit und Selbstvertrauen“ an;
Thema ist hier vor allem noch das Thema Integration
Beispiel für Unterricht mit geistig behinderten Kindern, der auf selbstbestimmten Lernen basiert, wäre der von Montessorischulen:
3.2 Die eigenen vier Wände: Wohnung
Grundsätzlich: Wo will der/die betroffene Wohnen? Wahlfreiheit
Alltag: Organisation und Gestaltung von ebendiesem,
- Wann/Was Essen;
- Was anziehen;
- Wie ist das Zimmer eingerichtet;
- Welches Fernsehprogramm;
- Welche Pflegeartikel / Konsumartikel
- ...
1.5. Sexualität – Partnerschaft – Freundschaft
- Freundschaften scheitern oft an Kommunikationsproblemen; Partnerschaften kommen eben dadurch oft gar nicht zustande
- Freundschaften, die sich nicht in der unmittelbaren Lebensumgebung befinden, können nicht aufgesucht werden (Immobilität: kein Führerschein, Überforderung durch ÖNV)
- ...
„Junges Pflänzchen“ Sexualität:
- Heranführen an Sexualität
- Sterilisation von / und Abtreibung bei behinderten Menschen??? (Diskussion, siehe oben „Singer“)
3.3 Broterwerb: Arbeit
- Wahlfreiheit zur Arbeit
- Spaß an der Arbeit
- Angemessener Lohn
- Gestaltungsmöglichkeit bei der Arbeit
- Betriebsrat
- ...
3.4 Und danach: Freizeit/Erwachsenenbildung
- Wie sieht die Freizeitgestaltung aus
- Wie sieht das Angebot / deren Angemessenheit / deren Erreichbarkeit aus?
- ...
EWB: Die Institution um Selbstbestimmung bewusst zu thematisieren
3.5 Öffentlicher Raum Bewegen in der Gesellschaft
- Orientierungssinn
- Konsumfähigkeit
- Kommunikationsfähigkeit
- ...
1.6. Politische Aktivitäten – Blick ins Ausland
Kongresswesen (thematisch u. förmlich z. Th. Selbstbestimmung)
- Kongress in Duisburg 1994
- Kongress in Alsterdorf 2001
- Straubing 2003 „Mitdenken – Mitreden – Mitwirken“
Internationale Vergleichsmöglichkeit (gerade auf Kongressen):
D: gute Einkommensmöglichkeit
Aber keine selbstorganisierte übergreifende Lobby
USA/GB Gründung d. „People First“ (International – „Zuerst mal sind wir Menschen“ - Wir haben Namen)
GB: Commitee: Self-Advocacy: Abschaffung von “Little Steven” (Kind – traurig – schwach – mitleiderregend --------- lebenslustig – selbstbestimmt)
S: JedeR wird als „BürgerIn“ angesehen, nicht als Patient, Klient
Entinstitutionalisierung: Gesetz schafft Heimunterbringung ab (1999)
„Grunden“, auf Elterninitiative -> Menschen mit Behinderung im Vorstand
NL: Selbstbestimmte Vergabe v. (Betreuungs-)Budgets; Mensch mit Behinderung als ArbeitgeberIn
Eigenes Fernsehprogramm
Modell zur Förderung der Kommunikation => Stärkung d. Selbstbestimmung
Trennung v. Alltagsbetreuer / Prozessbegleiter
„Onderling Sterk“ (Gem. sind wir stark): Mitsprache an polit. Entscheidungen – eigene Zeitung
4 Literatur:
Bach, H. (1995): Sonderpädagogik im Grundriss. Berlin: Marhold
Bleidick, U. (1999): Behinderung als pädagogische Aufgabe
Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e.V.(2004): Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Hamburg: Selbstverlag
Elmke, H.J.: Spiel und Theater. In Geistige Behinderung 98/3 S. 238ff
Fornefeld, B.(2000): Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik. München: Ernst Reinhardt
Hahn, Martin Th.: Selbstbestimmung im Leben, auch für Menschen mit geistiger Behinderung. In: Geistige Behinderung 1994/2. S. 81-94
Hensle, U. & Vernooij, M. (2002): Einführung in die Arbeit mit behinderten Menschen. Wiebelsheim: Quelle & Meyer
Kleine Schaars, W. & Petereit P.: Menschen mit geistiger Behinderung haben das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. . In: Geistige Behinderung 2004/3. S. 233-244
Knust-Potter: Self-Advocacy – oder: Wir sprechen für uns selbst. In: Selbstbestimmung – Kongressbeiträge. Marburg: Lebenshilfe. S.519-534
Merk, S. (2000): Professionelle Theaterarbeit mit Schauspielern mit geistiger Behinderung in Bezug auf das Theater Augenblick, Fachbereich Theater der Mainfränkischen Werkstätten. Unveröffentlichte Magisterarbeit Würzburg
Mühl, H. (1997): Einführung in die Schulpädagogik bei geistiger Behinderung. Oldenburg Universitätsverlag
Müller-Hohngen, J.: Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentwicklung. . In: Geistige Behinderung 1994/3. S. 171-18
Niehoff, U.: Wege zur Selbstbestimmung. In: Geistige Behinderung 1994/3. S. 186-201
Nouwens, P: Bericht aus den Niederlanden – Übergang von einer traditionellen Anstalt zur Community Care Einrichtung. In: Community Care (2001) Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (Kongressdokumentation).
Rohrmann, E.: Integration und Selbstbestimmung für Menschen, die wir geistig behindert nennen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 1994/1. S. 19-27
Speck, O. (1997): Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Erziehung. München: Reinhardt
www.eucrea.de Netzwerk für KünstlerInnen mit Behinderung
5 Referat: Selbstbestimmung und Geistige Behinderung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Arbeit zitieren
- Jörn Killinger (Autor:in), 2004, Selbstbestimmung und Geistige Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110567