Vergleichende Analyse von Christian Felix Weißes "An die Bücher" und Christian Adolf Overbecks "An meine Bücher"


Hausarbeit, 2005

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Chr. Felix Weisses „An die Bücher“: ein aufklärerisches Kindergedicht
1.1. Ein spezifisches Kindergedicht
1.2. Literatur des Großbürgertums
1.2.1. Bücher als Zeichen von Wohlstand
1.2.2. Vermittlung bürgerlicher Tugenden

2. Chr. Adolf Overbecks „An meine Bücher“: Ein Kindergedicht des Sturm und Drang?
2.1. Ein Kindergedicht?
2.1.1. Kindgemäßheit und Authentizität
2.1.2. An wen ist das Gedicht adressiert?
2.2. Frizchen als Originalgenie?

3. Die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede

4. Zusammenfassung

Vergleichende Analyse von Christian Felix Weisses „An die Bücher“ und Christian Adolf Overbecks „An meine Bücher“

0. Einleitung

Die vorliegende Arbeit analysiert und vergleicht die beiden thematisch ähnlichen, aber inhaltlich divergierenden Gedichte „An die Bücher“[1] (1769) von Christian Felix Weiße und „An meine Bücher“[2] (1781) von Christian Adolf Overbeck.

Dazu arbeitet sie zunächst die für die jeweilige Epoche charakteristischen Merkmale heraus. Anschließend werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt.

1. Chr. Felix Weisses „An die Bücher“: ein aufklärerisches Kindergedicht

Christian Felix Weißes Gedicht „An die Bücher“ zählt zur kindgemäßen Erziehungs­literatur mit funktionalem Literaturverständnis[3]. Im Folgenden werden die Charakteristika dargelegt, die es als typisch für die Aufklärung auszeichnen.

1.1. Ein spezifisches Kindergedicht

Die Aufklärung wird als Geburtsstunde der Kinder- und Jugendliteratur angesehen. Wichtiger noch als die stark wachsende Zahl an eigens für Kinder und Jugendliche produzierten Büchern ist das neue Bewusstsein, die Literatur (und Sachtexte) den Fähigkeiten und Interessen ihrer jungen Leser anzupassen. Zur Auswahl intentionaler Kinderliteratur, die es schon vor der Aufklärung gab, kommt nun erstmals die Akkommodation erwachsenenliterarischer Texte und Gattungen und das Verfassen spezifischer Kinderliteratur[4], für die Weißes Werk wegweisend ist.[5] Sie wird als geeignetes Mittel angesehen, aufklärerische Ideen so aufzubereiten, dass gerade Kinder diese verstehen, verinnerlichen und in letzter Konsequenz auch umsetzen können.

Zur spezifischen Kinderliteratur gehört auch Weißes Gedicht „An die Bücher“. Zwar ist das Thema „Lesen und Lernen“ nicht allein für Kinder relevant, jedoch würde es einem erwachsenen Adressaten, wenn es um die Nützlichkeit des Lesens geht, kaum in Gedichtform präsentiert werden. Auch handelt es sich nicht um ein Gedicht über Kindheit, denn das lyrische Ich ist kein Erwachsener, der anderen Erwachsenen seine kindlichen Lektüreerfahrungen schildert, sondern ein etwa zehn- bis zwölfjähriges Kind, das seine Bücher direkt anspricht (Vv. 1, 6, 7, 31). Diese stilistische Akkommodation wird schon im zum Paratext gehörenden Titel sichtbar. Er lautet „An die Bücher“ und nicht etwa „über die Bücher“, „meine Bücher“ o. Ä. Bücher können nur Kindern noch „Spielwerk seyn“ (V. 32), das im „Bücher­ schränkchen [Hervorhebung D. G]“ (V. 2) steht, nur sie werden noch unterrichtet, (V. 5), um „Geschmack und Licht“ (V. 34) zu erhalten.

Für sich genommen können diese einzelnen Elemente bzw. Merkmale auch in erwachsenenliterarischen Werken vorkommen. Erst diese Kombination von Gattung (Lyrik), Thema (Lesen und Lernen), Stil (Anrede von Gegenständen) und Inhalt (Nutzen der Bücher, letztlich auch Nutzen der Aufklärung) markiert das Gedicht als eindeutig nur an Kinder gerichtetes Werk. Es liegt eine gattungsmäßige Akkommodation[6] vor. Der Erwachsene ist hier nur Mitleser[7], er liest dieses Gedicht als Vermittler, nicht jedoch als eigentlicher Leser. Dies signalisiert ihm auch die sprachliche Kind- und Jugendgemäßheit: Es überwiegt, bis auf einige Relativsätze (Vv. 1 f., 25 – 28) und einen Einschub (V. 27), ein parataktischer Stil. Dass das Gedicht jedoch nicht für ganz junge Kinder geschrieben ist, wird deutlich durch die vielen Enjambements (Vv. 1 f., 3 f. 15 f., 17 f., 19 f., 21 f.) und die Verwendung einiger Metaphern (Vv. 9, 11, 28 – 30).

Die Bücher, die das lyrische Ich beschreibt, werden den neuen Forderungen nach Kindgemäßheit[8] gerecht, sie enthalten lehrreiche und spannende faktuale und fiktionale Texte (Geschichte: Vv. 13 – 18, Naturwissenschaft: Vv. 19 – 24, Literatur: Vv. 25 – 30). Somit findet sich die für Lyrik typische Selbstreflexivität auch in Weißes Kindergedicht, das ebenfalls kindgerecht und lehrreich sein soll.

1.2. Literatur des Großbürgertums

1.2.1. Bücher als Zeichen von Wohlstand

Die Literatur der Aufklärung, und mit ihr die neu entstandene Kinder- und Jugend­literatur[9], ist in erster Linie eine Literatur des (Groß-)Bürgertums.[10] Das liegt zum einen am immer noch weit verbreiteten Analphabetismus[11], zum anderen an den immensen Buchpreisen, die es dem Großteil der Bevölkerung nicht erlauben, Bücher zu kaufen.

Das lyrische Ich in Weißes Gedicht besitzt nicht nur als Kind schon ein ganzes Schränkchen voller Bücher, sondern erhält zudem Unterricht, gehört demnach dem reichen Bürgertum an. So ist durch das Thema des Gedichts der Kreis der potenziellen Rezipienten auf Kinder dieser Schicht eingegrenzt.[12]

1.2.2. Vermittlung bürgerlicher Tugenden

Die literarische Öffentlichkeit, die sich im 18. Jahrhundert bildet, ist vor allem eine bürgerliche Öffentlichkeit.[13] Bei der intensiv geführten Diskussion über das Selbstverständnis des Bürgertums und seine Positionierung in der sich wandelnden Gesellschaft bilden sich nach und nach bürgerliche Verhaltenweisen, Normen, Werte und Formen des Denkens aus. Dazu zählen auch bestimmte Verhaltensregeln, oder, um es mit dem zeitgenössischen Begriff auszudrücken, Tugenden. Zu ihnen gehören Sparsamkeit, Arbeitsamkeit sowie die Bereitschaft zu Leistung und Bildung[14] ebenso wie Großmut, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und Dankbarkeit.[15]

Diesen Tugenden kommen verschiedene, einander teilweise widersprechende Funktionen zu. So gelten sie einerseits alle als konkrete Ausprägung der „als allgemeines Prinzip gedachten Vernunft“[16], welche letztlich zum Glück des Einzelnen und der Gesellschaft führen soll.[17] Sie werden Maßstab für die Beurteilung der Menschen aller Schichten.[18] Das Bürgertum leitet den Anspruch ihrer Allgemein­gültigkeit auch aus der Tatsache ab, dass die neuen Tugenden teilweise von anderen Gruppen, insbesondere vom Landadel, übernommen werden.[19]

Andererseits grenzt sich das Bürgertum gerade durch die Ausbildung und Kultivierung bestimmter Tugenden sowohl vom Adel als auch von der bäuerlichen Bevölkerung und den klein- und unterbürgerlichen städtischen Schichten ab.[20]

Es fixiert damit die Ungleichheit der Ständegesellschaft, obwohl es sich der Tatsache bewusst ist, dass der Überlebenskampf der Armen nicht immer Raum lässt für tugend­haftes Verhalten.[21]

Bei der Ausbildung, Kultivierung und Verbreitung der Tugenden spielt die Literatur eine zentrale Rolle; sie wird zu einem „immer wichtiger werdenden Medium der Erziehung“[22] im Sinne von Vermittlung aufklärerischer Ideen. Diese utilitaristische Funktion kennzeichnet nicht nur Kinderliteratur, sondern die aufklärerische Literatur schlechthin.[23]

Welche Tugenden vermittelt nun Weißes lyrische Ich als Identifikationsfigur und Vorbild seinen Lesern? Es hat Freude am Lesen und dem damit verbundenen Lernen (besonders deutlich in Vv. 5 und 31 – 36), die Bereitschaft zu Leistung und Bildung wird vorgeführt.

Ganz im Sinne der Aufklärung liegt der Sinn der Lektüre nicht bloß in deren Unterhaltungswert (Vv. 3 f., 33) und Nutzen für die Gegenwart, sondern auch in ihrer Brauchbarkeit zur Gestaltung der Zukunft[24] (V. 11). Dass das lyrische Ich sich das Wissen anderer aneignet, um es später allein zum eigenen Nutzen anzuwenden, lässt sich m. E. so nicht aus dem Gedicht ableiten.[25] Ebenso gut möglich ist es, und gleichfalls nicht direkt aus dem Gedicht abzuleiten, dass das Wissen zum Nutzen der Allgemeinheit erworben werden soll.

Neben Wissbegierde und umsichtiger Voraussicht werden Ehrfurcht vor Gott und der Schöpfung (Vv. 19 ­– 24), Streben nach Tugendhaftigkeit (Vv. 25 – 30) sowie Dankbarkeit (Vv. 35 f.) als Tugenden genannt. Schließlich weiß das lyrische Ich um die eigene Unwissenheit, die es zu beseitigen versucht (Vv. 7 – 12, 34). Es liest und lernt nicht, weil Erwachsene ihm dies vorschreiben, sondern reflektiert selbst, warum Lernen von Nutzen ist (Vv. 6 – 12).

Indirekt wird im Gedicht auch das tugendhafte Kontrollieren der (kindlichen) Triebe – Laufen, Schreien, impulsives Handeln und Lustgewinn durch körperliche Aktivitäten beim Spiel im Freien – vorgeführt. Das Lesen scheint in Weißes Gedicht nicht lediglich Ergänzung zum eigenen Erleben zu sein, sondern dieses vollständig zu ersetzen. Kein Wort verliert das lyrische Ich darüber, den „Menschen“ (V. 17) und der „Natur“ (V. 20) direkt gegenüberstehen zu wollen, geschweige denn, selbst zu dichten (Vv. 25 – 30) oder Geschichte (Vv. 13 – 18) nachzuspielen. Obwohl das Kind beim Lesen im Haus bleibt, „flieg[t] [es] über Land und Seen“ (V. 14) und „steig[t]zur Gottheit selbst hinan“ (V 24). „Bücher … holten die ‚Welt‘ ins Haus.“[26] „Bürgerliche Kindheit war Haus-Kindheit… Mehr als zuvor wurde das Haus … Ort des Lernens und des Spielens.[27]

2. Chr. Adolf Overbecks „An meine Bücher“: Ein Kinder­gedicht des Sturm und Drang?

2.1. Ein Kindergedicht?

2.1.1. Kindgemäßheit und Authentizität

Ebenso wie in Weißes „An die Bücher“ liegt auch in Overbecks „An meine Bücher“ eine sprachliche Kindgemäßheit[28] vor:

Es herrscht ein parataktischer Stil vor. Aber auch dieses Gedicht kann erst von älteren Kindern verstanden werden. Neben eingeschobenen Sätze (V. 3 f.), und Enjambements (Vv. 18 f.; 26 – 28) finden sich Metaphern (Vv. 37 – 39) sowie zwei Synekdochen[29] (V. 32 „Latein“ statt Wissen, V. 56 „Cicero“ statt guter Redner oder auch gelehrter Mensch). Eine stilistische Kindgemäßheit[30] ist darin zu sehen, dass das lyrische Ich seine Bücher anspricht.

Das Neue und Revolutionäre an Overbecks Gedicht ist jedoch die Kind­gemäßheit der Wertungen.[31] Overbeck schrieb seine Lieder „als Gegenentwurf“[32] zu Weißes Kinderliedern. In der Vorrede zur Sammlung „Frizchens Lieder“, der das besprochene Gedicht entstammt, sagt er:

In diesen Liedern hab’ ich versuchen wollen, wie weit ichs etwa im Kinderton treffen könte … In [Weißes] Liedern für Kinder hört man den herablassenden Lehrer, zwar meist im Ausdruck der Kinder, aber doch mit den Ideen eines Erwachsenen. Hier spricht, wenn ichs gut gemacht habe, wirklich ein Kind.[33]

Und mit Overbecks Frizchen spricht tatsächlich ein Kind: ein meist frommes, fröhliches und vernünftiges, aber manchmal eben auch ein verliebtes, trotziges und impulsives Kind. Overbeck sagt in seiner Vorrede selbst, worin sich seine Sammlung von der Weißes unterscheidet, und die beiden besprochenen Gedichte sind ein gutes Beispiel hierfür: Overbecks Frizchen spricht als Kind und nicht mit den Ideen eines Erwachsenen[34]: Er artikuliert seine Unlust am Lernen, seinen Verdruss darüber, wie schnell er vergisst, was er mühselig hat lernen müssen (Vv. 45 – 47), er sieht (noch) keinen Nutzen in dem, was er lernen muss (Vv. 41 – 44). Statt allein in seiner Stube zu lernen möchte er viel lieber mit Lotte im Garten spielen (Vv. 17 – 24, 25 – 32).

Ob Frizchen generell nicht gerne lernt oder nur in dem Moment, in dem er spricht, ist nicht völlig eindeutig.[35] In beiden Fällen liegt aber Kind- und Jugend­gemäßheit der Wertungen vor, die das Gedicht als authentisch, d. h. aus der Sicht des Kindes, erscheinen lassen.

Weißes Kind hingegen behauptet, dass Lesen und Lernen grundsätzlich eine nützliche und spannende Beschäftigung sei. Aber selbst das wissbegierigste und lese­hungrigste Kind kennt, wie auch Erwachsene, Augenblicke, in denen die Lektüre nur deshalb erfolgt, weil sie unumgänglich ist. Diese Glorifizierung des Lesens lässt das Gedicht unauthentisch wirken.

2.1.2. An wen ist das Gedicht adressiert?

Kinderlyrik, und dazu zählt auch das Kindergedicht, meint „sämtliche in gebundener, großenteils gereimter Sprache … für Kinder … verfassten und von diesen rezipierten … Texte.“[36] Das besprochene Gedicht ist – im Gegensatz zu vielen anderen Gedichten aus Overbecks Sammlung – aber weder für Kinder geschrieben noch wurde es von ihnen rezipiert.

Der Verfasser selbst bittet in seiner (zum auktorialen Peritext gehörenden) Vorrede[37] die erwachsenen Vermittler darum, den Kindern nicht alle Gedichte der Sammlung zu lesen zu geben[38], und man kann davon ausgehen, dass diese „zensierten“ Gedichte auch nicht zur nicht-intendierten[39] Kinderlektüre gehörten. Overbeck unterbricht hier nicht etwa eine kinderliterarische Kommunikation, er lässt sie überhaupt nicht erst zustande kommen.[40]

Ines-Bianca Vogdt versteht die Overbeck’sche Gedichtsammlung vollständig als für Erwachsene geschriebene Gedichte über Kindheit.[41] Wenn dies auch für die unzensierten Gedichte Overbecks strittig sein mag, so trifft es für die zensierten sicherlich zu.[42] „An meine Bücher“ ist demnach ein für Erwachsene geschriebenes Gedicht über Kindheit.[43] Es ist gerade die Kind- und Jugendgemäßheit der Wertungen, die dieses Rollengedicht zu einem Gedicht für Erwachsene macht. Aus heutiger Sicht wäre es aber sicher möglich, das Gedicht auch Kindern vorzulegen und es so in das Korpus der intentionalen Kinderliteratur aufzunehmen.

2.2. Frizchen als Originalgenie?

Weißes Kinder bleiben als „Bruder“ und „Schwester“ oder als lyrisches Ich ohne Namen stets Stellvertreter für Kinder schlechthin. Sie repräsentieren einen Typus, nämlich den des tugendsamen, wissbegierigen, aufgeklärten Kindes. Die Figuren sollen Vorbild für die kindlichen Leser sein; die Gedichte dienen der Kindererziehung.

Frizchen dagegen gewinnt allein aus der Tatsache, dass sein Name genannt wird und er seine Freunde (Lotte, Gust) mit Namen anspricht, ein Stück Individualität. Auch repräsentiert er nicht einen bestimmten Typus von Kind. Stattdessen wird das einzigartige, unverwechselbare Kind Frizchen um seiner selbst willen vorgeführt. Erstmals erscheint die kindliche Lebenswelt so, wie sie ist, interessant genug, um Gegenstand eines literarischen Werks zu sein. Es geht nicht darum, das Kind, seine Welt oder seine Wahrnehmung derselben verändern zu wollen.

Die Helden des Sturm und Drang sind „Originalgenies“:

Nicht mehr der denkende, sittlich vollkommene, von allen Trieben geläuterte Mensch steht im Vordergrund, sondern unverbildete, nach Freiheit strebende Helden, die empfindsam fühlen, entschlossen handeln und Grenzen durchbrechen, auch wenn sie sich dabei in Schuld verstricken.[44]

Auch wenn die erwachsenen Helden des Sturm und Drangs (wie beispielsweise Werther oder Karl Moor) diesen Forderungen auf viel radikalere Art genügen, so zeigt auch Frizchen Züge eines Helden des Sturm und Drang: Er schimpft (Vv. 16, 18), er springt auf und läuft in das Zimmer seiner Mutter (V. 25) und er wünscht sich, mit Lotte im Freien spielen zu dürfen statt allein im Haus lernen zu müssen (Vv. 17 – 32). Sein Verhalten ist somit konträr zu dem von Weißes Kind. Frizchens Impulsivität spiegelt sich sprachlich in den Interjektionen (Vv. 18, 22, 26) wieder. Anders als noch in der Empfindsamkeit, die schon eine Überwindung der einseitig an der Ratio orientierten Aufklärung ist, werden nicht nur Frizchens edle Gefühle dargestellt, sondern Frizchen wird gezeigt, wie er seine „unedlen“ Gefühle auslebt.

3. Die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Trotz der genannten Unterschiede teilen die besprochenen Gedichte dennoch einige Gemeinsamkeiten: Bei beiden handelt es um sich komplexere Gedichte. Der kürzere und weniger komplexe, an das Kleinkind adressierte Kinderreim kommt erst in der Romantik auf.

Auch ermöglicht erst die Romantik ihren kindlichen Helden Reisen in eine phantastische Welt, während sowohl Overbeck als auch Weiße ihre Figuren noch in deren gewöhnlicher Umgebung bei alltäglichen Handlungen zeigen. Das lyrische Ich ist beide Male ein bürgerliches Kind im Alter von ungefähr zehn Jahren.

Auf ihre Art nehmen beide Gedichte das Kind ernst. Weiße spricht ihm Vernunft, Wissen und Tugendhaftigkeit sowie die Fähigkeit, durch eigene Reflexion zu Erkenntnis zu gelangen, zu: Das Kind liest nicht, weil es dazu gezwungen wird, sondern gelangt durch eigenes Überlegen zu der Erkenntnis, dass Lesen und Lernen nützlich sind. Es strebt, ebenso wie ein Erwachsener, von sich aus nach Wissen und Tugendhaftigkeit. Auch wenn dieses Kindheits- und Menschenbild heute als unrealistisch und idealisierend angesehen wird, so bleibt doch festzuhalten, dass Weiße nur einen graduellen, aber keinen strukturellen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen sieht.[45]

Dies gilt auch für Overbeck, nur gesteht dieser seinem Frizchen auch „unedle“ Gefühle wie Unlust, Impulsivität, Verdruss und Verliebtheit zu. Erstmals ist ein Kind es wert, dass seine Gefühle, Gedanken und Erlebnisse in ihrer Vielfalt artikuliert werden. Und zwar nicht, um andere Kinder damit zu erziehen, sondern weil die kindliche Erlebniswelt selbst interessant genug für die Literatur erscheint. Literatur zum Vergnügen − in der Aufklärung schwer vorstellbar.

4. Zusammenfassung

Die Verknüpfung ein und desselben Themas („Lesen und Lernen“) mit den konträren Inhalten „Lob und Freude“ bzw. „Verdruss“ spielt für die Einordnung der Gedichte in die jeweilige Epoche wenn auch nicht die einzige, so doch eine zentrale Rolle.

Weißes „An die Bücher“ ist ein typisches Kindergedicht der Aufklärung. Als spezifisches Kindergedicht führt es Kindern aufklärerisches, an bürgerlichen Tugenden orientiertes Verhalten vor und dient so zur Erziehung der Kinder. Die aufklärerischen Tugenden werden dem kindlichen lyrischen Ich nicht aufgezwungen, sondern es gelangt selbst zu der Erkenntnis, wie wertvoll tugendhaftes Verhalten, und dazu zählt auch das Lernen, ist.

Overbecks „An meine Bücher“ ist kein Kindergedicht, sondern gerade aufgrund der Kindgemäßheit der Wertungen ein Kindheitsgedicht. Die erwachsenen Leser als eigentliche Leser sollen die Literatur unterhalten werden.[46] Frizchen könnte man als einen „gemäßigten“ (und den einzigen kindlichen) Helden des Sturm und Drang bezeichnen: Neben seinen tugendhaften Gefühlen[47] wird auch seine kindliche Impulsivität sowie seine Verliebtheit in Lotte vorgeführt. Es fehlt jedoch die Radikalität der erwachsenen Helden des Sturm und Drang. Aber genau wie diese wird Frizchen als Individuum gezeigt.

Primärliteratur

Christian Felix Weiße: An die Bücher

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Christian Adolf Overbeck: An meine Bücher

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Christian Felix Weiße: An die Bücher, in: ders.: Lieder für Kinder. Vermehrte Auflage. Mit neuen Melodien von Johann Adam Hiller, Leipzig 1769, S. 116 ff.

Christian Adolf Overbeck: An meine Bücher, in: ders.: Frizchens Lieder, Hamburg 1781, S. 66 ff.

Forschungsliteratur

Theodor Brüggemann: Kinder- und Jugendliteratur 1498 bis 1950. Kommentierter Katalog der Sammlung Theodor Brüggemann, 3 Bände, Osnabrück 1986 bis 2005, Band 2 Eintrag 614 „Overbeck, Christian Adolf: Frizchens Lieder. Herausgegeben von Christian Adolf Overbeck. – Hamburg: Bohn 1781. 142 S., 1 ungez. Bl. 8°“.

Klaus Doderer: Kinderlyrik, in: ders. (Hrsg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. In vier Bänden, Weinheim/Basel 1975 bis 1982, zweiter Band (I–O), S. 197 f.

Hans-Heino Ewers (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung. Eine Textsammlung, Stuttgart 1980.

Ders.: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in grundlegende Aspekte des Systems Kinder- und Jugendliteratur. Mit einer Auswahlbibliographie Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft, 1. Auflage inkl. überarbeiteter, aber noch unveröffent-lichter Kapitel (Stand Februar 2005), München 2000.

Kurt Franz: Kinderlyrik, in: Kurt Franz/Günter Lange/Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon, Meitingen 1995 ff. (Loseblattsammlung, 8. Ergänzungslieferung 1999, S. 1 bis 42.)

Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel/Frankfurt am Main 1995.

Bettina Hurrelmann: Christian Felix Weiße, in: Klaus Doderer (Hrsg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. In vier Bänden, Weinheim/Basel 1975 bis 1982, dritter Band (P–Z), S. 782 – 784.

Klaus Langer, Sven Steinberg: Deutsche Dichtung. Literaturgeschichte in Beispielen für den Deutschunterricht, München 1998.

Dieter Richter (Hrsg.): Kindheit im Gedicht. Deutsche Verse aus acht Jahrhunderten, Frankfurt am Main 1992.

Ines-Bianca Vogdt: Wunderhorn und Sprachgitter. Geschichte der intentionalen Kinderlyrik seit dem 18. Jahrhundert, München 1998.

Reiner Wild (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart 1990.

[...]


[1] Christian Felix Weiße: An die Bücher, in: ders.: Lieder für Kinder. Vermehrte Auflage. Mit neuen Melodien von Johann Adam Hiller, Leipzig 1769, S. 116 ff.

[2] Christian Adolf Overbeck: An meine Bücher, in: ders.: Frizchens Lieder, Hamburg 1781.

[3] Hans-Heino Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in grundlegende Aspekte des Systems Kinder- und Jugendliteratur. Mit einer Auswahlbibliographie Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft, 1. Auflage inkl. überarbeiteter, aber noch unveröffentlichter Kapitel (Stand Februar 2005), München 2000., Kapitel VI, Schaubild 14 .

[4] Vgl. Hans-Heino Ewers (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung. Eine Textsammlung, Stuttgart 1980., S. 7 ff.

[5] Vgl. Bettina Hurrelmann: Christian Felix Weiße, in: Klaus Doderer (Hrsg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. In drei Bänden (A–Z) und einem Ergänzungs- und Registerband, dritter Band

(P–Z), Weinheim/Basel 1975 bis 1979, S. 782 - 784, S. 783.

[6] Ewers Einführung, Kap. VII, Expl. 58.

[7] Ebd., Kap. III, Expl. 42.

[8] Vgl. KJL Aufklärung, S. 10 f.

[9] Hurrelmann Lexikon der KJL Bd. 3, S. 783.

[10] Reiner Wild (Hrsg.) Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart 1990, S. 46.

[11] „Noch 1770 waren über 80 % der Bevölkerung Analphabeten.“ Klaus Langer, Sven Steinberg: Deutsche Dichtung. Literaturgeschichte in Beispielen für den Deutschunterricht, München 1998, S. 86.

[12] Es könnte auch dem (Land-)Adel angehören, dieser orientiert sich jedoch bzgl. der neuen Tugenden am Bürgertum.

[13] Wild, S. 46.

[14] Wild, S. 47.

[15] Ebd., S. 50.

[16] Ebd., S. 51.

[17] Ebd., S. 51.

[18] Ebd., S. 50.

[19] Ebd., S. 47.

[20] Ebd., S. 47f.

[21] Ebd. S. 50.

[22] Hurrelmann Lexikon der KJL Bd. 3, S. 783; Wild, S. 46. (Zur Wissensvermittlung werden Sachbücher [damaliger Terminus: Lehrbücher] eingesetzt.)

[23] Deutsche Dichtung, S. 81; Ines-Bianca Vogdt, Wunderhorn und Sprachgitter. Geschichte der intentionalen Kinderlyrik seit dem 18. Jahrhundert, München 1998, S. 42.

[24] Vgl. auch: Weiße Lieder für Kinder: Der Vorsatz.

[25] So Vogdt, S. 39.

[26] Dieter Richter (Hrsg.), Kindheit im Gedicht. Deutsche Verse aus acht Jahrhunderten, Frankfurt am Main 1992, S. 679.

[27] Ebd.

[28] Ewers Einführung, Kap. VII, Expl. 55.

[29] Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu eine Stilistik des Lesens, Basel/Frankfurt am Main 1995, S. 213.

[30] Ewers Einführung, Kap. VII, Expl. 56.

[31] Ebd., Kap. VII, Expl. 62. Eine Kind- und Jugendgemäßheit der Wertungen kann m. E. auch dort bestehen, wo die Wertungen Erwachsener mit denen von Kindern (und/oder Jugendlichen) übereinstimmen. Daher müssen nicht nur die zensierten Gedichte eine Kind- und Jugendgemäßheit der Wertungen aufzeigen, sondern dies ist grundsätzlich auch bei nicht zensierten Gedichten möglich.

[32] Theodor Brüggemann: Kinder- und Jugendliteratur 1498 bis 1950. Kommentierter Katalog der Sammlung Theodor Brüggemann, 2 Bände, Osnabrück 1986 bis 1996, Eintrag 614 „Overbeck, Christian Adolf: Frizchens Lieder. Herausgegeben von Christian Adolf Overbeck. – Hamburg: Bohn 1781. 142 S., 1 ungez. Bl. 8°“ Dass Overbeck von Weiße noch stark beeinflusst war, zeigen schon die Titel seiner Gedichte, die einen intertextuellen Bezug zu Weißes Werk deutlich werden lassen, z B. Overbecks „An den May“, „An ein Veilchen“, „An den Tod“ und „Der arme Mann“, dagegen Weißes „Der May“, „Das Veilchen“, „Der Tod“ und „Der arme Mann“ in den Liedern für Kinder (1767).

[33] Frizchens Lieder, Vorrede des Herausgebers.

[34] Dusan Sostaric: Geschichte der Kinderlyrik, Grundkurs an der Johann Wolfgang Goethe-Universität im SS 2005, Dozent: Hans-Heino Ewers, Protokoll der Sitzung vom 17.05.2005, S. 1.

[35] So können die Verse 6 – 8 sowohl so verstanden werden, dass Frizchen grundsätzlich gerne liest (Die Bücher verdrehen ihm den Kopf, weil das Gelesene spannend ist) oder dass das viele Lernen ihn gänzlich verwirrt.

[36] Klaus Doderer: Kinderlyrik, in: ders. (Hrsg.) Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. In drei Bänden (A–Z) und einem Ergänzungs- und Registerband, zweiter Band (I–O), Weinheim/Basel 1975 bis 1979, zweiter Band, S. 197 f.; Kurt Franz: Kinderlyrik, in: Kurt Franz/Günter Lange/Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.) Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Teil 5: Literarische Begriffe/Werke/Medien, Meitingen 1999, S. 1. (Man könnte parallel zur intendierten Kinder- und Jugendlektüre, [vgl. Ewers Einführung, S. 19.] hier auch von intendierter Kinderlyrik sprechen.)

[37] Ewers Einführung, Kap. III, S. 106.

[38] Frizchens Lieder, Vorrede des Herausgebers und Inhaltsverzeichnis: Gedichte, die nicht durch einen Stern markiert sind, sollen Kindern nicht in die Hände gegeben werden.

[39] Ewers Einführung, S. 19.

[40] Vgl. ebd., Kap. III, Expl. 38.

[41] Vogdt, S. 51.

[42] Es handelt sich m. E. bei den unzensierten Gedichten sowohl um Gedichte über Kindheit für Erwachsene als auch um Kindergedichte, bei den zensierten Gedichten um Gedichte allein für Erwachsene. Damit wäre die Sammlung (wie auch aus der Vorrede klar wird) mehrfach adressierte Kinderliteratur (s. Ewers Einführung, Kap. III, Expl. 43), die teils einsinnig (s. Ewers Einführung, Kap. III, Expl. 44) (z. B. „An meine Bücher“, „An den May“, „An Gust“, „Klagen“) und teils doppelsinnig (s. Ewers Einführung, Kap. III, Expl. 45) (z. B. „An ein Veilchen“) ist. Bei den einsinnigen Gedichten ergibt sich das Lektüreverbot für Kinder gerade aus der Tatsache, dass die zensierten Gedichte Kindern keine andere Lektüre als Erwachsenen anbieten. Die doppelsinnigen Gedichte sind dagegen oft erotische Lyrik.

[43] Diesen zwar präziseren, aber sperrigen Terminus werde ich in im Weiteren durch den Terminus „Kindheitsgedicht“ ersetzten.

[44] Deutsche Dichtung, S. 105.

[45] Vgl. auch Vogdt, S. 194.

[46] Frizchens Lieder, Vorrede des Herausgebers.

[47] Frizchens „edle“ oder tugendhafte Gefühle treten zwar in diesem Gedicht nicht sehr deutlich hervor, auf die gesamte Gedichtsammlung gesehen überwiegen sie aber. Man merkt jedoch auch im vorliegenden Gedicht, dass Frizchen keineswegs bösartig ist.

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Details

Titel
Vergleichende Analyse von Christian Felix Weißes "An die Bücher" und Christian Adolf Overbecks "An meine Bücher"
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Geschichte der Kinderlyrik
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
20
Katalognummer
V110694
ISBN (eBook)
9783640088560
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Analyse, Kinderlyrik, Kinder- und Jugendliteratur, Aufklärung, Vergleich, Christian Felix Weiße, Christian Adolf Overbeck, Kindergedicht
Arbeit zitieren
Dorothea Goeth (Autor:in), 2005, Vergleichende Analyse von Christian Felix Weißes "An die Bücher" und Christian Adolf Overbecks "An meine Bücher", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110694

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