Direkte Demokratie in der Schweiz und Deutschland im Vergleich


Hausarbeit, 2018

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Hinführung
2.1. Begriffsdefinitionen
2.1.1. Direkte Demokratie
2.1.2. Repräsentative Demokratie
2.2. Methodische Vorgehensweise

3. Direkte Demokratie in der Schweiz

4. Direkte Demokratie in Deutschland

5. Vergleich und Diskussion

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

AfD: Alternative für Deutschland

BIP: Bruttoinlandsprodukt

bspw.: beispielsweise

BVerfG: Bundesverfassungsgericht (Deutschland)

bzw.: beziehungsweise

GG: Grundgesetz (Deutschland)

SP: Sozialdemokratische Partei (Schweiz)

SVP: Schweizerische Volkspartei

USA: United States of America/Vereinigte Staaten von Amerika

1. Einleitung

Vielfach ist heutzutage von einer Krise der repräsentativen Demokratie die Rede, beispielsweise (bspw.) bei Hadamitzky (2016: 7). Eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2009 ergab, dass sich 68 Prozent der deutschen BürgerInnen mehr direkte Demokratie auf Bundesebene wünschen (vgl. Kirchgässner/Feld/Savioz 2010: 1; Schiller 2012: 14), was eine eindeutige Mehrheit darstellt. Und auch europaweit gewinne sie an Beliebtheit (vgl. Linder 2012: 375), immer mehr Staaten integrieren sie in ihre politischen Systeme (vgl. Christmann 2012: 22). Verwiesen wird dabei oft auf die Schweiz, die mit ihrem ausgebauten direktdemokratischen System als Vorbild gilt (vgl. Brunetti/Straubhaar 1996: 8; Christmann 2012: 26). Direkter Demokratie wird die Fähigkeit zugesprochen, die Demokratiequalität eines Landes verbessern zu können, vor allem das Prinzip der Volkssouveränität zu bewahren und als „Sicherheitsnetz der Demokratie“ zu fungieren (vgl. Schiller 2012: 7). Allgemein gilt sie als Lösung für Politikverdrossenheit (vgl. Brunetti/Straubhaar 1996: 8).

Die Licht- und Schattenseiten direkter Demokratie stoßen in der Wissenschaft auf breites Interesse. Als Standardwerke können die Texte von Brunetti/Straubhaar (1996), Kirchgässner (2010) und Kirchgässner/Feld/Savioz (2010) gelten. Christmann (2012) liefert eine ausführliche Analyse zu dem Spannungsverhältnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit einem Fokus auf die Schweiz. Eine vielzitierte Darstellung und Analyse der direkten Demokratie in der Schweiz liefert Möckli (1991). Weiterhin gilt Linders (2012) umfangreiches, mehrfach aufgelegtes Werk zur schweizerischen Demokratie als Standardwerk. Schließlich behandelt Schiller (2012) Möglichkeiten der Ausgestaltung direkter Demokratie in Deutschland.

Die Fragestellung, der in der vorliegenden Arbeit nachgegangen wird, lautet, inwiefern die Demokratiequalität eines Landes steigt, wenn es Möglichkeiten zur direktdemokratischen Partizipation gibt. Die unabhängige Variable sind hierbei die Möglichkeiten, direktdemokratisch partizipieren zu können und die abhängige Variable ist die Demokratiequalität. Dabei sollen zwei Hypothesen verifiziert beziehungsweise (bzw.) falsifiziert werden, wovon die erste lautet: Wenn BürgerInnen viele Möglichkeiten zur direktdemokratischen Partizipation haben, ist die Demokratiequalität hoch. Die zweite lautet: Es ist zu erwarten, dass die Demokratiequalität in Deutschland steigt, wenn es Möglichkeiten zur direktdemokratischen Partizipation auf Bundesebene gibt. Angesichts der oft formulierten Forderung, in Deutsch-land auf Bundesebene direktdemokratische Elemente einzuführen, erscheint die Überprüfung dieser Hypothese als sehr relevant.

Zuerst werden ‚direkte‘ und ‚repräsentative Demokratie‘ definiert, um deren Unterschiede genau zu kennen. Darauf folgt die Darstellung der methodischen Vorgehensweise in der vorliegenden Arbeit, in der auch die Messung von Demokratiequalität geklärt wird. Anschließend werden der methodischen Vorgehensweise entsprechend die direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten in der Schweiz aufgrund ihrer Rolle als Vorbild sowie in Deutschland dar-gestellt und im nächsten Kapitel miteinander verglichen. In diesem wird auch diskutiert, ob direkte Demokratie zwangsläufig zu einer Steigerung der Demokratiequalität eines Landes führt. Im abschließenden Fazit wird geklärt, ob die Hypothesen verifiziert oder falsifiziert werden können.

2. Theoretische Hinführung

Um eine Grundlage für die Diskussion um Funktionen und Wirkungen direkter und repräsentativer Demokratie zu schaffen, werden diese Begriffe zuerst definiert. Anschließend erfolgt die Darstellung der methodischen Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit.

2.1. Begriffsdefinitionen

2.1.1. Direkte Demokratie

Der Ursprung des Begriffs ‚Demokratie‘ liegt im Altgriechischen und setzt sich aus dem Substantiv dēmos (das Volk, die Menge, die Vielen) und dem Verb kratein (herrschen) zusammen (vgl. Hadamitzky 2016: 39). Schultze (2005: 124) beschreibt, dass in einer Demokratie die Herrschaft aus dem Volk hervorgehe und durch dieses selbst und in seinem Interesse ausgeübt werde. Die attische Demokratie gilt dabei als „Vorbild moderner Demokratietheorien“ (Hadamitzky 2016: 40). Heutzutage treffe das Volk in Ländern mit direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten die abschließende Entscheidung über alle Verfassungsfragen im Land und über Entscheide des Parlaments (vgl. Vatter 2014: 343). Kirchgässner/Feld/Savioz (2010: 4) zufolge ergeben sich die Möglichkeiten der Initiative und des Referendums zur direkten Mitwirkung, von denen es verschiedene Arten gibt. Auf alle einzugehen, überstiege den Rahmen dieser Arbeit. In Deutschland wird bei direkter Demokratie von Volksbegehren und -entscheid gesprochen, die der Initiative zuzuordnen sind (vgl. Kirchgässner/Feld/Savioz 2010: 4).

Möckli und Schiller schreiben direkter Demokratie eine innovative Kraft zu. Nach Möckli (1991: 40) kann sie dazu dienen, andere Strukturelemente des Systems zu verändern. Initiativen haben ihm zufolge eine Signal- und Artikulationsfunktion. Sie können politische Probleme signalisieren und dadurch Handlungsbedarf anzeigen. Gruppierungen ohne politischen Entscheidungsanteil ermöglichen sie es, ihre Anliegen zu artikulieren und gegen den Willen der Staatsorgane Volksentscheide herbeizuführen. Initiativen können somit Entscheidungsprozesse in der Politik anregen, aber genauso Entscheidungen rückgängig machen (vgl. Möckli 1991: 42). Schiller (2012: 6 f.) sieht die Vorteile direkter Demokratie gegenüber repräsentativer etwa in der Themenzentrierung, der Stärkung politischer Gleichheit durch das Stimmrecht in Sachfragen, im Einfluss der BürgerInnen auf die politische Tagesordnung, in der Mobilisierung der BürgerInnen für demokratische Partizipation sowie in dem Ermöglichen politischer Kontrolle und Innovation durch Debatten und Abstimmungen. Allerdings kann direkte Demokratie auch Gefahren bergen, wie Christmann (2012: 66) verdeutlicht. Sie merkt die fehlende Verantwortlichkeit im Zuge dessen an, dass keine Rechtfertigung der Abstimmungsentscheidung verlangt wird. Auf die problematischen Aspekte direkter Demokratie wird in 3. und 5. genauer eingegangen.

Elemente direkter Demokratie werden heutzutage in sogenannten halbdirekten Demokratien umgesetzt. Dies sind repräsentative Demokratien, in denen spezifische Entscheidungen den BürgerInnen zur Abstimmung vorgelegt werden. Es gilt als faktisch unmöglich, außer in sehr kleinen Gemeinwesen, alle politischen Entscheidungen direkt zu treffen (vgl. Kirchgässner/Feld/Savioz 2010: 2). Brunetti/Straubhaar (1996: 9 f.) zufolge müsste im Sinne des demokratischen Ideals einer umfassenden Volkssouveränität eine permanente Landsgemeinde, etwa wie die Volksversammlung in der attischen Demokratie, die Funktion der Legislative übernehmen, wodurch kein Parlament nötig wäre. In größeren Gemeinschaften lässt sich dies jedoch aufgrund der hohen Transaktionskosten, die bspw. bei der Einberufung der Landsgemeinde entstünden, nicht umsetzen.

2.1.2. Repräsentative Demokratie

Auch Hadamitzky (2016: 42) bemerkt, dass direkte Demokratie in großflächigen Nationalstaaten nicht praktikabel sei. Bereits die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) John Adams und James Madison waren der Ansicht, dass staatliche Aufgaben von kompetenten, klugen und verantwortungsvollen Volksvertretern übernommen werden sollten, da das Volk als schlecht informiert galt und dessen irrationale Regungen sowie der Missbrauch demokratischer Rechte gefürchtet wurden (vgl. Linder 2012: 367). In den Demokratisierungswellen des 20. Jahrhunderts ist die repräsentative Demokratie der global verbreitete Typus geworden, dessen Erfolg nach Linder (2012: 368) mit dem Instrument der Wahl zusammenhängt. Dieses erscheine mit seinem Potential des Machtwechsels und der zeitlichen Begrenzung politischer Macht als ausreichend, um politische Stabilität und die Legitimation der Regierung zu gewährleisten. Zwischen der Regierung und dem Volk herrscht nach Christ-mann (2012: 66) eine Prinzipal-Agent-Beziehung. Dabei muss sich der Agent (die Regierung) vor dem Prinzipal (dem Volk) verantworten und sein Handeln rechtfertigen. Entsprechen Handeln und Erklärungen der Regierung nicht den Präferenzen des Volks, kann es durch Wahlen eine neue Regierung bestimmen. So entscheiden die Wahlberechtigten selbst, von wem sie regiert werden. Die hinreichende Bedingung für die demokratische Qualität des Repräsentationsprinzips sei nach Hadamitzky (2016: 43) die Orientierung des Handelns der RepräsentantInnen am Interesse der Wahlberechtigten, was als Responsivität bezeichnet wird. Freie, gleiche und periodische Wahlen sollen gewährleisten, dass die RepräsentantInnen diesen Interessen gegenüber verantwortlich handeln, was accountability genannt wird. Insgesamt bezeichnet Hadamitzky (2016: 44) Repräsentation als „fundamentale[n] Bestandteil und konstitutives Element moderner demokratischer Herrschaft“, womit er ihr eine hohe Relevanz in der heutigen Welt zuschreibt. Übereinstimmend mit der Repräsentationskrise ist bei Schiller (2012: 6) von einem Legitimationsdefizit der repräsentativen Demokratie zu lesen, das sich bspw. in zu selten stattfindenden Wahlen, in einem diffusen, personalisierten Image von KandidatInnen und Parteien, in nur begrenzter Sachkompetenz von Abgeordneten sowie darin zeigt, dass sich politische Eliten der Parteiendemokratie von den BürgerInnen entfremden und vice versa. Vor diesem Hintergrund können auch die Forderungen nach mehr direkter Demokratie in Deutschland verstanden werden.

2.2. Methodische Vorgehensweise

Um die Hypothesen zu überprüfen, werden zunächst die Möglichkeiten zur direktdemokratischen Partizipation in der Schweiz (3.) und in Deutschland (4.) dargestellt. Beide Länder gelten als konsensual-föderal (vgl. Vatter 2014: 555), weshalb sie sich für einen Vergleich eignen. Um Aussagen darüber treffen zu können, in welchem Land die Demokratiequalität höher ist, werden sie in 5. anhand dreier Demokratieindizes miteinander verglichen:

Der Freedom House-Index gilt als das weltweit bekannteste Demokratiemaß. Es gibt Aufschluss über politische und individuelle Freiheitsrechte in einem Land, gemessen an der Fairness von Wahlen, am politischen Wettbewerb, an der Regierungskorruption, der Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz auf Grundlage von Experteneinschätzungen. Die Skala geht dabei von 0 (schlechteste Demokratiequalität) bis 1 (optimale Demokratiequalität) (vgl. Vatter 2014: 548).

Weiterhin wird das Democracy Barometer herangezogen. Es stützt sich auf Merkmale des liberalen und partizipatorischen Demokratiemodells. Demnach beruht Demokratie auf drei fundamentalen Prinzipien: Freiheit (Garantie individueller Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Öffentlichkeit), Kontrolle (kompetitive Wahlen, Gewaltenkontrolle, Regierungs- und Implementierungsfähigkeiten) und Gleichheit (Transparenz, Partizipation und Repräsentation). Diese Funktionen müssen in ein optimales Gleichgewicht gebracht werden, da es nicht möglich ist, sie alle gleichzeitig bestmöglich umzusetzen. Von 1990 bis 2007 wurden 30 etablierte Demokratien untersucht und auf einer Skala von 0 bis 100 (optimale Demokratiequalität) eingeordnet (vgl. Vatter 2014: 548 f.).

Schließlich wird das Democracy Ranking verwendet, das die Politikwerte von Freedom House übernimmt und um quantifizierbare Leistungsindikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf und die Lebenserwartung zur Untersuchung der Leistungen in nicht-politischen Dimensionen (Gender, Wirtschaft, Wissen, Gesundheit und Umwelt) ergänzt.

3. Direkte Demokratie in der Schweiz

Die Schweiz gilt als das „Mutterland der direkten Demokratie“ (Brunetti/Straubhaar 1996: 8; Christmann 2012: 26), was ihre Vorbildfunktion unterstreicht. Ihr einzigartiges politisches System kombiniert ausgebauten Föderalismus, eine starke direkte Demokratie und ausgeprägte Konkordanz (vgl. Vatter 2014: 29). Im Sinne einer halbdirekten Demokratie hat das Parlament, die Bundesversammlung, feste Aufgaben, die es ohne Befragung der BürgerInnen erledigt. Zahlreiche Sachfragen werden diesen aber zur Abstimmung vorgelegt (vgl. Brunetti/Straubhaar 1996: 10). Direkte Demokratie hat in dem Land eine lange Tradition: Seit 1848 gibt es das obligatorische Verfassungsreferendum (vgl. Möckli 1991: 34). 1874 wurden das fakultative Gesetzesreferendum und 1891 die Volksinitiative eingeführt (vgl. Vatter 2014: 347). Im Laufe des 20. Jahrhunderts transformierte sich das Land von einer Referendums- zu einer Verhandlungs- und Konkordanzdemokratie durch erlernte Kooptationsstrategien der politischen Elite, um die Risiken direkter Demokratie zu minimieren (vgl. Vatter 2014: 374). Der Diskurs im Vorfeld einer Volksabstimmung wird von vier Eigenschaften bestimmt: Die Vorlagen, über die abgestimmt werden soll, werden immer mit den Alternativen, meist dem Status quo, verglichen. Zudem wird der Diskurs umso intensiver geführt, je stärker sich die BürgerInnen von einer Vorlage angesprochen fühlen. Am Diskurs beteiligen sich Organisationen (Parteien, Verbände) wie Einzelpersonen und er wird auf verschiedensten Niveaus der Gesprächskultur ausgetragen. Außerdem findet zumindest bei Teilen der Bevölkerung ein Lernprozess im Zuge der Konfrontation mit verschiedenen Argumenten statt (vgl. Kirchgässner/Feld/Savioz 2010: 8 f.). Bis Ende 1990 wurden in der Schweiz 379 Urnenentscheide durchgeführt und die Annahmequote betrug 47,2 Prozent (vgl. Möckli 1991: 38). Dabei fallen 42 Prozent aller Urnenentscheide seit 1848 in die Zeit von 1970 bis 1990 (vgl. Möckli 1991: 38), wodurch sie als Hochphase direkter Demokratie in der Schweiz erscheint.

Als mächtiger Vetospieler gilt das fakultative Gesetzesreferendum. Es kann Regierungsentscheidungen verhindern und den Handlungskontext der Exekutive entscheidend beeinflussen (vgl. Vatter 2014: 384). Innerhalb von 100 Tagen müssen 50.000 Unterschriften gesammelt werden, damit über ein Bundesgesetz abgestimmt werden kann (vgl. Vatter 2014: 46). Es bezieht alle größeren Organisationen in den politischen Entscheidungsprozess ein, was dazu führt, dass Konflikte bereits im vorparlamentarischen und parlamentarischen Prozess so vermittelt werden, dass es letztlich relativ selten zu Abstimmungen kommt. Dies resultiert in einem stabilen politischen System (vgl. Brunetti/Straubhaar 1996: 19). In der Forschungsliteratur wird von unterschiedlichen Wirkungen von Referenden und Initiativen gesprochen: Vatter (2014: 376) zufolge erhalten erfolgreiche Referenden eher den Status quo und bewirken Policy-Stabilität, während Initiativen innovativ seien und Policy-Wandel bewirken, worin er mit Möckli (1991: 43) übereinstimmt.

Christmann (2012: 59) und Vatter (2014: 374) schreiben Initiativen einen Agenda Setting-Effekt zu, denn nach dem systemtheoretischen Input-Output-Modell von David Easton werden die Forderungen der Initiatoren als Input ins politische System eingebracht, mit denen sich die Parteien und Politiker auseinandersetzen müssen. Die Befürwortungsquote von Initiativen lag bis Anfang der 2000er Jahre bei fünf bis sieben Prozent und stieg von 2004 bis 2013 auf über 25 Prozent (vgl. Vatter 2014: 350). Dabei wurden in der Vergangenheit die Ziele von Initiativen im Laufe des Umsetzungsprozesses reduziert oder gar nicht umgesetzt. Es darf Vatter (2014: 352) zufolge nicht davon ausgegangen werden, dass angenommene Initiativen automatisch in entsprechende Anpassungen jeweiliger Gesetze resultieren. Der lange Umsetzungsprozess müsse bei der Lancierung unbedingt mitbedacht werden. Schon bei Möckli (1991: 43) ist von der schweren Steuerung direktdemokratischer Prozesse und von deren oft ungewissen Ausgang zu lesen. Überprüft wird eine Vorlage von der Bundesversammlung. Sie achtet auf die Einheit der Form und der Materie sowie auf die Einhaltung des zwingenden Völkerrechts, wobei es als umstritten gilt, welche Normen genau darunter fallen. Der Internationale Gerichtshof zählte 1970 das Verbot von Angriffshandlungen, Genozid, Verletzung grundlegender Menschenrechte, Abschiebung, Sklaverei und Rassendiskriminierung dazu (vgl. Christmann 2012: 90 f.). Es gibt also im Initiativprozess keine juristische, sondern lediglich eine legislative Vorprüfung, die Schweiz besitzt kein umfassendes Verfassungsgericht (vgl. Christmann 2012: 26). Weiterhin kommen Initiativen nach Linder (2012: 287) häufig von den politischen Rändern und der Abstimmungserfolg sei nicht immer entscheidend. Auch gescheiterte Initiativen können Veränderungen in der Politik bewirken (vgl. Christmann 2012: 90), grundsätzlich reiche schon der Druck der Initiative, um Regierung und Parlament zu entsprechenden Handlungen zu bewegen. Zudem komme es vor, dass das Parlament Teile von gescheiterten Initiativen in spätere Gesetze aufnimmt, was mit rund einem Drittel der Initiativen geschehe. Als bedeutendes Beispiel gilt der Verfassungsartikel zur Gleichstellung der Frau. Er wurde als Gegenvorschlag zu einer Initiative 1981 angenommen und 1995 folgte das Gleichstellungsgesetz auf Bundesebene, womit alle diskriminierenden Regelungen aus der Rechtsordnung von Bund und Kantonen abgeschafft wurden (vgl. Linder 2012: 288). Dies verdeutlicht die in der Schweiz gesellschaftlich sehr relevante Funktion der Initiative.

Gerade weil das Referendum und die Initiative allen BürgerInnen als Möglichkeiten, die Mehrheitsmeinung in Frage zu stellen, offenstehen, gelten sie laut Kirchgässner (2010: 74) als wichtige Instrumente zum Schutz von Minderheiten. Vatter (2014: 377) bemerkt jedoch zu Recht, dass Volksentscheide in der Schweiz insgesamt eher minderheitenfeindlich ausfallen. Themen seien vermehrt ‚Asyl‘ und ‚Ausländer‘, was an der starken rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei (SVP) liege (vgl. Christmann 2012: 90), die bei den letzten Parlamentswahlen 2015 29,4 Prozent der Stimmen und 65 Mandate im Nationalrat erhielt, was sie dort zur stärksten Kraft macht (vgl. Bundesamt für Statistik Schweiz 2015). Bei den großen (vor allem bei der SVP und der Sozialdemokratischen Partei (SP)) wie bei den kleinen Parteien (Schweizer Demokraten und Grüne) fungieren Initiativen oft als Wahlhelferinnen und dienen zur internen Mobilisierung und Selbstinszinierung. Initiativen zur Reduktion des Ausländerbestands, von denen es einige gab, dienten der Profilierung populistischer Parteien und mobilisierten Protestwähler auf Dauer (vgl. Linder 2012: 289). Vatter (2014: 384 f.) beobachtet, dass in den vergangenen Jahren in der Schweiz die Opposition gegenüber den Behörden gewachsen sei, was die steigende Zahl erfolgreicher Volksbegehren signalisiere. Dies zeige, dass sich die Politik in dem Land zunehmend polarisiere und die ausgleichenden Konkordanzkräfte an Einfluss verlieren. Es kann von einem Wandel gesprochen werden, der sich in der Schweizer Politik vollzieht.

[...]

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Direkte Demokratie in der Schweiz und Deutschland im Vergleich
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Politische Partizipation und bürgerschaftliches Engagement
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
21
Katalognummer
V1109066
ISBN (eBook)
9783346478757
ISBN (Buch)
9783346478764
Sprache
Deutsch
Schlagworte
deutschland, schweiz, direkte demokratie, politische systeme, politisches system, volksentscheid, vergleich, volksbegehren, demokratie, repräsentative demokratie, repräsentation, polis
Arbeit zitieren
Viktoria Woronin (Autor:in), 2018, Direkte Demokratie in der Schweiz und Deutschland im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1109066

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