Rousseau und Lenz als depressive Menschen


Essay, 2021

65 Seiten


Leseprobe


Rousseau und Lenz als depressive Menschen

“Wir sind nun entschlossen, Lenz ins Tollhaus nach Frankfurt zu bringen“. Schlosser, (Goethes Schwager) 1778

Der Titel dieser kleinen Studie mag Unbehagen hervorrufen – oh, was für ein Auftakt! - deutet er doch unterschwellig das Vorhaben an, schwerkranke Menschen, die sich nicht mehr selbst zur Wehr setzen können, zur Schau zu stellen, sie in Zeiten des Internetzes sozusagen vor den mittlerweile digital gewordenen Augen der Weltöffentlichkeit in eine die Persönlichkeit verletzende Pose zu setzen. Im Fall Rousseaus kann ich als Rechtfertigung vorbringen, dass er eine Autobiografie mit dem Titel ‘Bekenntnisse’ in der Absicht eines totalen, tief ichbezogenen Exhibitionismus ohne Galle und Verstellung geschrieben hat, er wolle sich der Menschheit in aller Wahrheit der Natur zeigen. Er hätte es also so gewollt. Er verstehe sein Herz und er kenne die im Widerstreit mit sich selbst liegenden Menschen. Der Einwand, die ‘Bekenntnisse‘ sollten seinem Wunsch gemäß nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht werden, verfängt nicht, es war die Gefahr einer Verhaftung, die diese Zurückhaltung begründete. Es liegt uns nach Angaben Rousseaus eine negative Autobiografie vor, in der er seine bösen Seiten mehr hervorgehoben habe als seine guten. Er hütet sich vor Schönfärberei und will ein wahres Gemälde seines Charakters und die wahren Beweggründe seiner Handlungsweisen hinterlegen. Der Monomane zieht sich vor sich selbst in einer Offenheit aus, die Pestalozzi als Skandal, Krafft-Ebing als empörend empfand. Es ist jedoch zu beachten, dass allein die totale öffentliche Offenheit ihm die Authentizität von 1789 bis heute gesichert hat. Offene Freiheit, offene Gleichheit, offene Brüderlichkeit. Er war offen, an ihm kann das Scheitern der Revolution nicht gelegen haben. Im Falle von Lenz kann ich auf Georg Büchner verweisen, der ebenfalls von den Dämonen der Depression verfolgt wurde, hinzu kam ein “Anfall von Hirnhautentzündung“. Sein Bruder berichtet: Er sprach selten, aß wenig und zeigte immer eine verstörte und stiere Miene. 1833/34 leidet er unter einer psychosomatischen und philosophischen Krise. Büchner hat lange vor mir im Jahr 1835 eine merkwürdig unvollendet gebliebene Novelle über die tragische Krankheit von Lenz zu Papier gebracht, veröffentlicht posthum 1839, die diesen hochsensiblen Dichter, der sich in der Tradition Petrarcas sah, in seinen schizophrenen Zügen völlig entblößt. Büchner und Lenz waren wie Rousseau von einer inneren Unruhe heimgesucht und wie dieser ausgiebige Wanderer. Beim Umherschweifen in der Natur stößt man auf keine Türen, auf keine Mauern, auf keine Grenzen. Die Natur ist unendlich, wenn sie aufblüht, denkt man nicht ans Grab oder ans Fixierbett in der Anstalt. Rousseau, Büchner und Lenz, diese Gestalten lebten vor, was in uns als Tendenz. Von dieser Novelle ‘Lenz‘ wird der schriftstellerisch rege Arzt Alfred Döblin am 22.November 1948 in einem Brief an den Literaturwissenschaftler Grothe schwärmen, so sehe “das Originale“ aus. 1. Büchners literarische Schilderung einer schizophrenen Psychose hält auch dem kritischen Urteil der modernen Fachmedizin stand. Goethe und Büchner unterscheiden sich in der Einschätzung von Lenz, Goethe nannte ihn ‘whimsical‘, d.i. grillenhaft, einen vorübergehenden Meteor; Büchner nahm ihn ernster, wesentlich ernster. In diesem Dichter habe sich die Krise des modernen Menschen zusammengeballt. Goethes Werke sind von tausend Lichtern durchleuchtet worden, Lenz ist ein unerschlossener Brocken, an dem die Meißelhand schwerer und schwerer wird. Der russische Schriftsteller Karamsin, ein Bekannter aus Lenzens letzten Tagen. schrieb über Lenzens Krankheit: “Eine tiefe Melancholie, die Folge vieler Leiden, hatte ihn wahnsinnig gemacht, aber selbst in seiner Geistesgestörtheit überraschte er uns zuweilen durch seine poetischen Ideen und rührte uns durch seine Herzensgüte und Geduld“. 2. Ich werde hier einen Text entwickeln und unterbreiten, den man nicht unter die fröhliche Wissenschaft wird einreihen können, Rousseau starb völlig vereinsamt 1778 in der Nähe von Paris, Lenz wird 1792 in einem alten, zerrissenen Mantel auf offener Straße in Moskau tot aufgefunden, von niemanden vermisst.

Nicht selten, so Immanuel Kant, sei Rousseau seiner sowohl als der Welt überdrüssig gewesen 3. Er, Kant, habe den Pöbel, der nichts weiß, verachtet, ‘Rousseau hat mich zurechtgebracht‘. Fast alle großen Texte des Gesetzgebers und Volkserziehers Rousseau, der in seinem Leben zu oft zu nachgiebig war, sind von einer zeitweisen verzehrenden Melancholie nicht zu trennen, wie van Gogh, ebenfalls sehr nachgiebig, nicht von seinen späten, im halben Wahn aufs Papier geworfenen Bildern. Ulrike Meinhof wurde durch ihre Melancholie in den Tod getrieben. Sie hatte gegen die weiße, vorrangig auf die Seele abzielende Gefängnisfolter in Stuttgart-Stammheim keine Chance. Doch zurück zu Rousseau: Auch der Friedensphilosoph St. Pierre hatte im Gesicht Rousseaus Züge einer Seelenfinsternis entdeckt. Voltaire hatte scharfsinnig erkannt, dass Rousseau schreibe, um zu schreiben, als Therapie, als Trost, so wie es die Briefe für Werther waren, nicht wie er, um die Welt zu verändern. Und doch hat Rousseau trotz seiner Idiosynkrasien in der Gesellschaft mehr bewegt als sein großer Gegenspieler, der ihn als “Scheusal“ verunglimpfte und dem Nietzsche, seit 1878 Voltairianer, im Inkriminieren Rousseaus 1889 folgte: “Idealist und canaille in Einer Person … krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung … Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelegt hat“. 4. Das äußert der Mann in der Götzendämmerung, der seinen Maßstab an die Welt legte und diese zu klein fand. Der Stil dieser Canaille aus Genf ist eruptiv und seine Texte sind widerspruchsbeladen, Kunstwerke, Kompositionen, Skizzen, Gemälde aus Worten. Rousseau ist Theoretiker durch und durch, als Praktiker aber hat er zwei linke Hände. Eine der Quellen seiner Depression finden wir darin, dass sich seine Theorie zu seinen Lebzeiten in der Praxis nicht ausleben konnte. Erst nach seinem Tod setzte der große politische Schub ein. Hinzu kommt eine vordergründig androzentrische geschlechterindifferente Position Rousseaus, auf die noch einzugehen sein wird. Auch den Prosatexten von Lenz mangelt es an Stringenz, sie sind auf eigentümliche Art nicht abgerundet, weshalb sie nicht die Beachtung erhielten wie seine Dramen und Gedichte. Die Anregung Kants, Lenz solle Rousseau studieren, hat Früchte getragen. In der Erzählung ‘Der Landprediger‘, die den theologischen Konflikt zwischen Vater und Sohn thematisiert, als auch Eigenerlebtes, geht Lenz sozialkritisch auf die materiellen Probleme der Bauern ein. Seine Prosatexte sind querdenkerisch, dieses Wort nicht im heutigen pejorativen Sinn genommen, und dieses Wirre ist auch seinen Depressionen geschuldet. War es eine Zeit lang geboten, Texte stets personenbezogen zu interpretieren, so ist das Pendel zur anderen Seite ausgeschlagen, Texte ohne biografische Notiz anzugehen. Es liegen in der Sekundärliteratur Texte über Lenz vor ohne Erwähnung seiner Depressionen, stattdessen wird das Wirre durch den Begriff ‘Intertextualität‘ zugedeckt und einem sich selbst störenden Erkennen sowie einem ständigen Unterbrechen der eigenen Argumentation zugeordnet zu Lasten einer Ganzheitskonzeption. 5. Es fehlt die abschließende Synthese, eine Achse, um die sich der ganze Text dreht. Der Maßstab des Interpreten legt sich quer zwischen den Schaffenden und dem Geschaffenen. Das seinen Depressionen geschuldete Polymorphe seiner gegen patriarchalische Hierarchien gerichteten Texte ist als Verzweiflung eines nach einem inneren Halt suchenden Ichs auslegbar und ist zugleich als Zweifel an seiner eigenen Schreibe genommen worden. Leider liegt von Lenz keine Autobiografie vor, so dass bei seiner Interpretation Eigenmächtigkeiten Raum gegeben ist. Anders bei Rousseau, dank seinen ‘Bekenntnissen‘ können wir seine Werke mit den entsprechenden Passagen aus seiner Autobiografie parallel bzw. komparativ lesen. Nur das zählt. Weder gilt es, sich auf das Werk, noch auf den Autor zu fixieren. Liegt von Lenz auch keine eigene Lebensbeschreibung vor, so doch Biografien, aus denen subjektive Konturen zu eruieren sind, die als objektive in den Texten wirksam sind. Es ist zu beachten, dass zu Beginn der neuzeitlichen Philosophie Descartes steht, er hat mit seinen Meditationen die Tür aufgestoßen, in denen er stark ichkonzentriert vorgeht mit der Frage nach den subjektiv idealen Bedingungen zur Lösung der Kernprobleme der Philosophie. Descartes sieht sich auf dem Höhepunkt seiner geistigen Macht, um sein Hauptwerk anzugehen, mit dem er tatsächlich einen Paradigmenwechsel vornimmt: Der Mensch kann alles aus sich selbst hervorbringen, es steckt alles in einem selbst. Es gilt, nicht dem Vorgedachten und vorgestanzten Normen zu folgen.

Am meisten in der Geschichte der Philosophie erzählt Rousseau von sich, erst Hegel verbannte Ich-Bezogenheit nachhaltig aus der Philosophie. Es könne nur von Philosophie als objektive Wissenschaft schlechthin die Rede sein, nicht von seiner Philosophie. Die Wissenschaft bedürfe keiner subjektiven Einfärbung. Hegel gibt die Gedanken Gottes vor der Weltschöpfung wieder. In dieser traditionell theologischen Art reflektiert der ehemalige Theologiestudent die Auslöschung des Individuellen durch die aufkommende Industrialisierung und den ihr entsprechenden Etatismus. Auf der Gegenseite hat die emanzipativ ausgerichtete Arbeiterbewegung als Frucht der Industrialisierung eine Partei konstituiert, die “immer Recht“ hat. Dieser Gestus ergibt sich zwangsläufig, wenn allein schon durch die Existenz der produktiven Klasse die Aufhebung gesellschaftlicher Antagonismen angelegt ist. Immer geht Orthodoxie davon aus, dass alles in der Wirklichkeit der Logik streng entspricht. Dies kann nur dann der Fall sein, wenn sich die Parteiorganisation aus Menschen bildet, die sich nie irren, die also alle gesellschaftlichen Antagonismen total durchschaut haben und somit schon im Ansatz richtig beherrschen. Das ist utopisch und die besten Einwände gegen die orthodoxe Auslegung des Marxismus sind Ort und Verlauf der Oktoberrevolution selbst. Sie brachte sukzessive Explosionen ihres Gehaltes, die sich als ebenso viele Stimuli zur Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus erwiesen. Der von Rousseau durch sein Wunschkind Émile vorweggezeichnete Partisan à la Che Guevara ist Reflex einer objektiven Schieflage. Im Gegensatz zum verordneten Truppeneinsatz kämpft der Partisan aus eigener Überzeugung mit einer fast schon religiös anmutenden Inbrunst. Der Partisan ist immer gefährlich. Zugleich zeigt der Tod des kubanischen Musterpartisanen an, dass es im Zeitalter der Massenkämpfe und der Volkskriege nicht ansteht, sich - um es mit den Worten Hegels zu sagen – an seiner eigenen Partikularität zu wärmen.

Rousseau schreibt mit Ausnahme der vier Briefe an Malesherbes nicht gerne, ist er doch der Auffassung, dass Theuth, der altägyptische Bringer der Schrift, die Menschen in Unruhe wissen wollte. Und er schreibt, obwohl er die Ataraxie anstrebt, doch Tausende von Seiten in suggestiver Form. Auch Lenz war ein Schreibwüterich. Das macht eine der Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit ihnen aus: Sie faszinieren uns durch ihre Widerspruchsketten, so dass wir von unserm Themenfokus leicht abrutschen und ganz woanders herauskommen können. Immer wieder öffnet sich in Rousseaus Textlabyrinth ein neuer, vielversprechender Tunnel, der am Ende Licht verspricht. Eine strenge Gliederung liegt nicht vor, nur eine grobe, nach dem Textrausch erstellte. Da Rousseau selbst nicht wie Descartes oder Kant streng stringent schreibt, ist die Gefahr von Abschweifungen groß. Je älter Rousseau wird, desto resignativer wird er. Es wird immer dunkler um ihn, Freunde, in seinen Augen mehr und mehr falsche, verlassen ihn. Für mich ist nun auf dieser Welt alles zu Ende. Das ist einer seiner letzten Sätze. Der Rock der Philosophie ist aus lauter grauen Flicken zusammengenäht, grau ist die Farbe der Philosophie, und sie weist immer wieder Löcher auf. So wird einem nicht warm auf der Welt. Schreiben war Rousseau Medizin gegen die Einöde Seelenverlassener, für diejenigen, deren Lebensschiff zu frühzeitig und für immer auf der wüsten Sandbank der Verlassenheit gestrandet ist. Den Kranken blieb nur noch, ihr Ich als subjektive Selbstauflösung in die Welt zu schleudern, gegen sie und gegen sich selbst. Rousseau schrieb, van Gogh malte ichverzehrend gegen die Depression an. Es ist gesagt worden, dass man sich aus einer Depression rausschreiben, aus einer Depression herausmalen könnte, wie es bei dem alkoholabhängigen Churchill der Fall war, sogar bis zum Nobelpreis für Literatur, vordergründig ja, der Sieg Churchills über seine Depressionen war bis zu seinem Tod 1965 nie der letzte; die große Gefahr bleibt, dass man sich erst recht in sie hineinschreiben und hineinsteigern und hineinmalen kann, in Besessenheit, wie bei Ernst Ludwig Kirchner, der sich 1938 in Davos das Leben nahm. Auch der expressionistische Maler Gramatté trieb mehr und mehr in die trübe Gedankenwelt ab. Mit schweren seelischen Schäden war er aus dem Weltkrieg heimgekommen und malte acht Bilder zu Büchners ‘Lenz‘, eines finsterer als das andere. Er malte Lenz und sich, Erfahrungen asymmetrischer Leben, das durch Weinen wegen zerplatzter Träume ausgefüllt ist. Der überschäumende Enthusiasmus kehrt als negativer Bumerang als Schnitter der Seele zurück. An seinen Freund Walther Merck schrieb Gramatté über seine Gemütslage: “Schmerzen überall, nicht laufen, sitzen, liegen … So ist mir wie ‘Lenz‘ immer manchmal hell und dann immer tiefer und dunkler“. 6. Die Erkrankten greifen zu den Kulturen als Heilmittel, sei es Literatur, Musik, Kunst usw. In der Tat scheint eine Sinfonie von Beethoven mental mehr Auftrieb zu geben als eine Packung Tabletten. Mit dem Verschreiben von Tabletten geht man zu mechanisch an den Patienten heran, zu indirekt, und nur wenige Mediziner besitzen das sensible Einfühlungsvermögen, aus dem heraus die Wunderwerke der Kultur sich bilden. Immer wieder brechen Depressive scheinbar grundlos in Tränen aus, um ihre innere Anspannung auslaufen zu lassen. Ein innerer, unsichtbarer Schatten treibt dazu. Sie sind immer bis an den Rand ausgefüllt mit Triebtränen und ein kleines, aber im Moment unpassendes Wort kann den Tränenfluss auslösen. Ein inneres Beben verursacht eine innere Unruhe. Der Ausbruch der Tränen kann jeden Augenblick erfolgen. Die Tränen nehmen wir wahr, nicht aber das Gedankenwirrwarr, das diese auslöst, es kann ein für sie schiefes Wort sein oder die Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis, an den Tod der Mutter und und und … Tränen murmeln über profillose Gesichter dahin, über die an allen Orten geschwiegen wird. Am Abend seines Lebens sollte dem Menschen eine innere Sonne der Ruhe aufgegangen sein, gerade diese fehlt, so ist alles leer und dunkel, ein Leben wie in einem warmen Keller ohne Wände und ohne erfrischenden Wind. Es ist eine innere Schwüle, die den Kopf leert, da die Träume der Jugend an der harten Klippe der Wirklichkeit längst zerschellt sind. Für den jungen Rousseau bestanden diese darin, alle Menschen zufrieden zu wissen. Der große Lebenstraum - er wird es nie wissen können. Und seitdem ist das Leben das Psychogramm eines Martyriums. Privat wird seine einmalig große Liebe zur Gräfin d‘ Houtetot nicht erwidert. Er glaubt, sich durch die Erregungen, die sie in ihm auslöste, einen Leistenbruch zugezogen zu haben. Mehrmals geht er in seiner Autobiografie auf die Neigung ein, bei harten Züchtigungen durch Frauen sexuelle Lust verspürt zu haben. Das ergibt sich, wenn die Mutter durch die Geburt ums Leben kommt. Das Geschlechtliche ist tabu, die Kehrseite wird zwecks Bestrafung hingehalten, um die Schuld am Muttertod zu sühnen. Er frönt besonders in mittleren Jahren einer Sexualität fern ab des Fortpflanzungszweckes. Das Kind muss bestraft werden, denn es hat Mitschuld am Tod der Gebärenden. Offen berichtet er, dass er in jungen Jahren in Turin exhibitionistisch Gruppen von Frauen sein entblößtes Hinterteil zeigte, was die Polizei auf den Plan rief. In Venedig kommt Rousseau buchstäblich mit dem Dirnenwesen in Berührung und es spielen sich widersprüchlichste Szenen ab, die in der Geschichte der Prostitution ihresgleichen suchen. Zu erinnern ist auch an den einmaligen Bordellvorgang van Goghs. Zwar beteuert Rousseau, dass er gegen öffentliche Dirnen stets Widerwillen gehabt hätte, dass er diesen den Weg zur Mutterschaft auf dem Lande anzeige, aber er hätte in Venedig eine so subalterne Stellung gehabt, dass Frauen ihn nicht beachteten. Nach seinen Schilderungen in den Bekenntnissen ist es ein Edelmann Vitali, der ihn bei einer Dirne einführt. Wir halten uns hier nicht am Nebensächlichen auf und betonen, dass der Freier in diesem Fall durch eine Art Nötigung zum Sex gezwungen wurde. Außer einer Unterhaltung sei zunächst nichts gewesen, Rousseau wollte dann gehen und legte einen Dukaten auf den Tisch und die Dirne wollte ihn aber nicht ohne Erbringung der für sie üblichen Gegenleistung nehmen. Rousseau war dann so edel und gutmütig, nicht gutwillig. Er schiebt hier alles Eva der Verführerin zu. Und danach beginnt dann eine wochenlange mentale Raserei, die Dirne könnte ihn mit Syphilis angesteckt haben. Man sollte meinen, die Dirnengeschichte in seiner Autobiografie sei damit beendet, aber es kommt zu einer Steigerung. Beim zweiten Mal wird er von einem Kapitän animiert, der eine 20jährige Dirne an Bord holt. Sie ergriff Besitz von mir, als sei ich ihr Leibeigener. Niemals hat sich dem Herzen und den Sinnen eines Sterblichen ein gleich süßer Genuss geboten. Aber zum Auskosten kommt es diesmal nicht, für Rousseau ist ihr Körper göttlich und Blendwerk Satans zugleich. Die Unentschiedenheit ließ eine tödliche Kälte durch seine Adern laufen, die Beine fingen an zu zittern, der Widerspruch dämpft alles und der Freier beginnt auf dem Bett … zu weinen “wie ein Kind“. Immer wieder dieser weinerliche Ton, dieses unbeherrschbare Weinen, durch das er einsackt. Dem Freudenmädchen ist das zu viel und sie sagt im ernsten Ton zum tränenreichen Freier die berühmten Worte: ‘Zanetto, lascia le donne, e studia la mathematica‘ (Zanetto, lass die Frauen und studiere die Mathematik). Offensichtlich ist in den Gehirnwindungen des jungen Mädchens mathematisieren maskulines masturbieren. Rousseaus Einstellung Frauen gegenüber ist ambivalent. Sie müssen von Kindheit an erzogen werden, um dem Mann zu gefallen und zu dienen, aber die Dirnengeschichten, und nicht nur sie, belegen, dass die Männer insgeheim von den Frauen beherrscht werden. Die Herrschaft der Männer wird von den Frauen unterlaufen. Die Männer befehlen, was die Frauen ohnehin tun wollen und durchschauen nicht ihre Pseudoherrschaft. Und die Frauen erspüren nicht ihre Pseudounterdrückung. Die augenscheinliche Herrschaft der Männer wird kompensiert durch die Herrschaft der Frauen durch angeblichen Gehorsam den Männern gegenüber. So regelt die Natur alles richtig durch die direkte Herrschaft der Männer, die keine direkte ist, und durch die indirekte der Frauen, die ihre Herrschaft absichert. Diese feminine Doppelheit wird die Herrschaft der Frauen in naher Zukunft durchsetzen gegenüber der Eindimensionalität des Maskulinen. Die Männer haben kein Interesse, welcher Typ Mann in den Frauen steckt, umgekehrt ist dies sehr wohl der Fall. Es ist kein Zufall, dass heute Feministinnen auf Demonstrationen Cis-Männer verbannen, nicht aber Männer in Frauenkleidern. Das Beben des Fundamentalen ist der Zug der Zeit und besonders die Islamisten handeln ihm und ihr aus Erschütterung entgegen. Es ist kein Zufall, dass in Paris die Mordquote unter muslimischen transsexuellen Dirnen wesentlich höher ist, nämlich fünf Mal, als unter muslimischen Cis-Dirnen. Hinter der heutigen Großoffensive der Homosexuellen beider Lager für gesellschaftliche Akzeptanz, auf die die plumpen Medienmacher hereingefallen sind, kündigen sich die Herrschaftsabsichten einer intellektuellen Minderheit an. Die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit ist geschichtsnotorisch, zunächst geht es um eine eklatante Verschiebung der Relationen. Diese liegt heute bereits vor, Homosexualität hat sich mental eingenistet als gleichberechtigt, mit der Tendenz zur Dominanz. Es ist in Zeiten einer Pandemie unverantwortlich, am traditionellen Christopher-Street-Day eine Demonstration zu genehmigen und die Gesundheit der Mehrheit aufs Spiel zu setzen. Diese Minderheit will alle Vorteile kassieren, ohne Nachteile in Kauf zu nehmen. So wird die politische Gesellschaft bei Laune gehalten, während die Schere zwischen arm und reich, auf deren Vernichtung es primär ankommt, immer größer, aber nicht thematisiert wird. Das Jonglieren mit mehreren Thementellern gleichzeitig mit einer Ausnahme, die der sozialen Frage, gehört mit zum Hokuspokus der Augenwischerei bürgerlicher Massenmedien.

Es ist nun von großer Wichtigkeit, zu beachten, dass in beiden Bordellszenen die Initiative nicht von Rousseau ausging, im zweiten Fall gar flossen statt Sperma Tränen. Christian Niemeyer zieht das in seinem Buch über Nietzsches Syphilis ins Lächerliche und verunglimpft damit Rousseau zu Unrecht. ‘Ich kostete der besten aller Mütter das Leben. Meine Geburt war mein erstes Unglück‘. Dieser schwarze schwere Stern, der Tod der Mutter durch seine Geburt, verdunkelt sein Leben von Anfang bis zum Ende. Der Tod, dieser spezifische, der Tod der Scheide, ist das Entscheidende. In der Sekundärliteratur ist mir nur Christoph Kunze als hellwach aufgefallen, er schreibt ganz richtig: “Denn der Tod der Mutter war in der Tat von alles entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des ‘fast sterbend‘ zur Welt gekommenen Kindes“. 7. Kunze beleuchtet auch die andere Seite: Jean Jacques hat durch seine Todesgeburt dem Vater die Frau genommen und versucht, sie ihm zu ersetzen. Er sah sie in mir, obwohl ich sie ihm genommen hatte. Formaljuristisch war das Baby Rousseau natürlich unschuldig, aber das Leben ist schwer und tief, grausam schwer und grausam tief, diese Narbe wird niemals ganz ausheilen. Wenn die Rede auf die Mutter kam, fingen beide an zu weinen. Der Vater, offensichtlich lag bei ihm eine Reifeverzögerung vor (das Weinen), starb in den Armen einer anderen Frau mit dem Namen der ersten auf den Lippen und ihrem Bild im Grunde seines Herzens. Rousseau war für den Vater Sohn und Ehefrau zugleich. Das erklärt alles. Warum will er nur Frauen, nicht Männern sein entblößtes Hinterteil zeigen? Letzteres war tabu, er ekelt sich nachweisbar vor der vom Phallus dominierten maskulinen Homosexualität. Er will sich den Frauen zugesellen mit dem Bekenntnis, dass er die Phallussexualität hintenanstellt. Kunze spricht, und man kann dem nur zustimmen, vom “Opfer der eigenen Männlichkeit“. 8. Der Philosoph entmannt sich visuell durch die Präsentation seines Hinterns vor Frauen. Des Weiteren erwartet er Schläge von den Frauen, eine enorme Reifeverzögerung liegt vor, nur als masochistisch veranlagtes Kind kann er sich sexuell erregt auf das weibliche Geschlecht fixieren. Er erwartet in seiner Phantasie die Bestrafung durch die Mutter. So waren die Weichen seines Lebensweges früh unverrückbar einrangiert. Ein Opfer dieser Konstellation wurde neben dem Findelhausschicksal seiner fünf Kinder Mme de Warens, zu ihr entwickelte sich in jungen Jahren, Rousseau war sechszehn, eine nichtplatonisch bleibende Mutter-Kind-Beziehung, als er später vom finanziellen Ruin seiner Maman erfährt, verharrt er als Kind. Jede Zuwendung hätte das Verhältnis umgedreht, er wäre Vater geworden, sie Tochter. So weit geht das zurück auf sein fundamentales erstes Negativerlebnis. Nach dem Tod seiner Mutter im Kindsbett war er muttertötender Sohn des Vaters in der Rolle einer platonischen Ehefrau. Die Philosophie hat es wissenschaftschronologisch vor dem Marxismus-Leninismus mit Perversem hinter der Fassade einer heilen Welt zu tun. Das gilt für Rousseau und Lenz gleichermaßen. Rousseau konnte gar kein Vater mehr sein, seine Mutter stirbt durch seine Geburt, da beginnt die Kette, die fünf Kinder ins Findelhaus bringen wird. Die Kinder mussten weg, damit er Kind bleiben konnte. Über den Tod der Mutter kommen wir auch dem Werk der Finsternis, der großen Verschwörung am Ende seines Lebens gegen ihn, auf die Spur. Der Kreis muss sich schließen. Die weitgehend eingebildete Verschwörung treibt ihn zurück in die pränatale Finsternis. In dieser Einbildung hascht er nach Glück. Auf einsamen Spaziergängen empfindet er einen Wohlklang mit sich in der Einsamkeit und in der Finsternis. Die Weichen zur Depression sind hier früh gestellt worden. Sein Herzenswunsch, alle Menschen glücklich zu machen, zerschellt an der harten Klippe des grausam die Menschen schindenden Feudalismus, und schlägt um in Misanthropie. Rousseaus Metanoia im Jahr 1749, durch die er ein anderer Mensch wurde, läutete das Ende des Männlichkeitskultes in der europäischen Kulturgeschichte ein. Nietzsches bekanntes Wort sei anzuführen: Rousseau habe sich an die Schwelle der Neuzeit gelegt. Und diese trägt ohne Zweifel Züge einer immer femininer werdenden Welt. Das ist irreversibel. In keinem Jahrhundert wurden mehr Tränen vergossen als im zwanzigsten, überhaupt ist der Faschismus eine von unsäglichen Schmerzen behaftete Reaktion, die Welt wieder eindeutig maskulin auszurichten. Rechte Politik ist per se volks- und frauenfeindlich.

Rousseau war der Philosoph mit dem ersten Wort: ‘Ich wurde geboren, also bin ich unglücklich und will sterben‘. Er ist der große Einwurf gegen das ‘Mens sana in corporo sane‘. Sein ganzes Leben wird er sich in seine pränatale Phase zurücksehnen. Im Dämmerzustand seiner zahllosen Träume kuschelt er sich ein, dann lebt die Mutter. Man muss das in seiner ganzen Radikalität begreifen, der lebenslange dunkle Schatten schwärzt sich erst in seinem Tode ein. Es war Tabu für ihn, Freudenhäuser von sich aus aufzusuchen und seiner Frau Mutter weh zu tun. Er gilt trotz alledem als Philosoph der Träume, streng genommen war sein Lebensanfang so düster, dass er gar keine hätte haben können. Sein Ausgangspunkt ist zugleich sein Endpunkt. ‘Ich habe gelebt, ohne gelebt zu haben‘.

Rousseaus Ausführungen über die heimliche Dominanz der Frauen bedarf einer näheren Ausführung. Es urteilt ein Mann über die Frauen aus dem Blickwinkel eines Mannes, dessen Mutter von vornherein die beste aller Mütter gewesen war. Auch im umgekehrten Fall wird das Urteil immer einseitig sein. Ein Buch über die Bipolarität der Geschlechter müsste ein Zwitter schreiben, bei dem sich die feminine und maskuline Linie Balance halten. Rousseau nun versucht sich zu neutralisieren, indem er behauptet, seine Stimme sei die der Mutter Natur. Damit okkupiert er aber die Mutter für das ganze menschliche Geschlecht. Seine Stimme als die der Mutter Natur auszugeben, darf nur das Kind der besten aller Mütter. Rousseau stilisiert sich als die große Ausnahme. Hat Gott ihm nicht 1749 in einer tiefen Metanoia die Bedingungen diktiert, durch die die Menschheit glücklich wird? Wäre er gottähnlich, hätte er sich alles genau merken können, aber die Gebote verwischen sich sofort und Rousseau kann in seinen Werken nur eine mühselig zusammengestümmelte Kopie wiedergegeben. Sein Werk ist die von einem Menschen verunstaltete Stimme Gottes, Beiwerk aus zweiter Hand eines Menschen, der durch seine Geburt seine Mutter verloren hat. Mutterlos wächst er auf und die Stimme des göttlichen Vaters erlischt wie ein Blitz in der Metanoia. Subjektiv ist der Tod der Mutter 1712 das A & O für Rousseaus Leben und Werk, objektiv ist es die Metanoia von 1749, der Nietzsches ‘Ecce homo` kulturphilosophisch ähnelt. In der Sekundärliteratur wird bei Spezialthemen auf Grund seines Gesellschaftsvertrages des Öfteren von einem kontraktualistischen Ansatz Rousseaus gesprochen, ohne Zweifel eine unzulässige Verkürzung, der Ansatz Rousseaus ist wesentlich umfassender. Alles entscheidend liegt ein quasireligiöses Erweckungserlebnis auf dem Weg von Paris nach Vincennes vor, wo Diderot im Gefängnis saß.

Der Tod der Mutter ist nach Rousseau ein Verlust, der überhaupt nicht wieder gutgemacht werden kann und über den man sich nicht hinwegtröstet, wenn man ihn sich wie bei ihm vorwerfen kann. Die Lebensperspektive Rousseaus ist von vornherein eine trostlose und das von ihm favorisierte Frauenbild kann nur ein schwacher Trost sein. Die Kernaufgabe der Frau ist für ihn das Kinderkriegen. Alles hängt von seiner Mutter ab. Sah Colbert durch eine aktive Handelsbilanz das Wohl der Nationen heraufziehen, was eingängig ist, mehr Export als Import, so Rousseau es in einer hohen Geburtenrate. Eine hohe drückt aus, dass das Land gut regiert werde. Das ist für ihn so etwas wie ein Axiom und von diesem aus erfolgt der Angriff auf die Puppenfrauen, Dirnen und Schauspielerinnen, allesamt für ihn öffentliche Strichmädchen in den großen Städten. Ganz Paris ist voll von Strichmädchen. Am künstlichsten, am perversesten sind die kinderlos bleibenden Pariserinnen, die er immer wieder als Negativkontrast gegen die derben Bauernfrauen der Provinzen mit einer gesunden, sonnengebräunten Haut setzt. Ein junges Mädchen in Paris hat mehr Hunger auf Schmuck als auf Nahrungsmittel. Er hetzt die agrarischen Provinzen mit ihren natürlichen Frauen gegen die urbanen Metropolen mit ihren künstlichen. Er verkündet der Nation, dass die Zukunft Frankreichs in den ruralen Frauen seiner Provinzen liegt und dass Paris zu ersticken droht durch Augenblicksphilosophen, die sich ihre Kreise an beliebigen Straßenecken bilden. In Paris sind die Frauen darauf ausgerichtet, die Männer zu verführen. Die Modephilosophen gehen nun einen Pakt mit den denaturierten Großstadtfrauen ein, um gegen die Volksmasse der Bauern zu konspirieren. Am Ende wäre Frankreich eine Wüste ohne Bevölkerung. In Paris wird eine falsche Messe sexueller Befreiung und eine falsche Messe der Philosophie gelesen. Beide huldigen dem Augenblick. Die Urbanität, der Rousseau das Lied der Natur entgegenspielt, zerreißt die Zeit, kein Augenblick gleicht dem anderen; die Agrarier pflegen in der ständigen Wiederkehr des Gleichen die Zeit. Die Frau und der Mann dürfen sich nicht von den Positionen entfernen, die sie von der Natur zugewiesen bekommen haben. Die Natur hat Fürsorge getroffen, dass keine Seite über die andere herrscht. Aber handelt es sich hierbei um eine starre Grundposition? Bewegung kommt hinein, wenn Rousseau die Institutionen anschwärzt, sie seien schuldig am Los des zweiten schwachen Geschlechts. Da die Frauen keine Männer werden können, ist ihr Bestreben, die Männer in Frauen zu verwandeln, herauszufinden, welcher Typ Frau im Mann steckt. Die Frauen wollen die Männer einsperren, letztendlich sie in ihren Bauch zurückholen, um ihre Virilität zu erststicken. 9. Was herauskommt, schildert Rousseau in der ihm eigentümlichen Drastik. In Paris halten sich Frauen Harems mit weibischen Männern. Sarah Kofman hat hier den richtigen Gedanken hinzugefügt, sie erinnert an die masochistischen Neigungen Rousseaus, von Frauen geschlagen zu werden. Alles beginnt nun zu wackeln. Sie führt aus, dass die von schlagenden Frauen bewirkte Immobilisierung gleichzusetzen sei mit der Immobilisierung seiner Feinde, Rousseau genösse beides. 10. Er kam als gebrechlicher, kranker und leidender Mann zur Welt, und das soll durch Frauen und Verfolger aufrechterhalten werden: Zu leiden ist ihm recht. So fühlt er sich eins mit seiner Mutter, die durch die Geburt gelitten hat und darüber gestorben ist. Dieses Kind Jean-Jacques muss dafür bestraft werden. Eine Bestrafung durch Männer wäre für ihn ohne Reiz. Es gibt in der Sekundärliteratur immer wieder Betonungen, Rousseau wäre ein Crossdresser gewesen, m. E. ist das aber bei Rousseau zu peripher, um zur psychischen Erkrankung essentiell beigetragen zu haben. Ohne negativen Einfluss wird es nicht geblieben sein. Generell aber können zwei Geschlechter in einem Körper zum Ausbruch von Depressionen führen. In einer Gesellschaft mit Geldsystem ist nur die Geldbereicherung konform, die individuelle, die Erweiterung seines eigenen Geschlechts ins Gegenteil, wird gleichgesetzt mit Paradiesvögeln. Überall, wo eine Monotonie des Monopols vorliegt, kommt es zu Gleichschaltungen, in der islamischen Welt haben die Ayatollahs Frauen in eine schwarze Nonnentracht gesteckt, in der westlichen Welt haben die Produzenten von Jeanskleidung die Frauen in Jeanshosen gesteckt. Dass den Frauen die Sensibilität für Ästhetik abhandengekommen ist, sie Männermode nachäffen mit maskulinem Gehabe, ist ein kulturelles Alarmsignal für geistige Verarmung ersten Ranges. Die Männer vernachlässigen die Balance zwischen dem Naturschönen und dem Kunstschönen, die den wohlklingenden Gleichklang in der Zivilisation ausmacht. Die Männer werden nie das schöne Geschlecht genannt werden können und die Frauen verspielen ihre Vorteile, wenn sie verinnerlichen, Emanzipation und Ästhetik passen nicht zusammen. Frauen sind in einer Männergesellschaft zum Anhängsel immobilisiert, nur eigenständig arbeitende Dirnen und dominante Frauen durchbrechen das. Nicht in der Freundin, nicht in der Ehefrau, nicht in der häuslichen Idylle, es ist die Dirne, in der sich die Perversion der bürgerlichen Gesellschaft und der masochistische Rousseau wiederfinden. 11. Rousseau kennt und sehnt sich nach der heilen Welt, die die Natur uns vorgibt. Sie lässt den Mann als überlegen denken, lässt ihn politisch lenken, und sichert doch die königin-liche Herrschaft der Frauen, ästhetisch allemal. Und hier steht Rousseau sich selbst im Wege, als Naturenthusiast, der immer gemäß ihren Anweisungen lebt, folgt er dem derben, muskulösen Ackermann und bewundert und achtet die scheue Frau, die sich dort platziert, wohin die Natur sie anweist, gebärende Frau zu bleiben. Frauen, die den Männern nachstreben, die im Namen einer Emanzipation einen Positionswechsel anstreben, begeben sich auf die Verliererstraße. Männer regieren politisch mit Zwang; Frauen auf natürliche, fast möchte ich schreiben, heimliche Weise. Rousseau war kein kräftiger Mann, er fühlte (sich) manchmal eher als scheue Frau. Aus dieser inneren Widersprüchlichkeit bildete sich u. a. seine Depression heraus, wie sie alle heimsucht, denen ihre geschlechtliche Identität verrutscht. Das erklärt auch seine häufige Flucht in wunderbare Träume, in phantastische bunte Fernreisen, in denen und auf denen die Spannung des Alltags eingeht und zugleich erlischt. Im Träumen ist er weder Mann noch Frau, sondern der kleine Jean Jacques - mütterlicherseits. Es ist auch zu beachten, dass Inge Stephan Lenz als Stürmerin und Drängerin in der Literaturgeschichte verortet wissen will. 12. Sieh da, sieh da!

Bitter ist das Zerplatzen der Träume besonders bei dem Sturm-und-Drang-Dichter Lenz, der als Stürmer und Dränger als Goethe kongenial galt. Lenz schreibt 1776 einen Briefroman über enttäuschte Liebe, wie Goethe auch, zu beachten ist schon der Titel: ‘Waldbruder. Ein Pendant zu Werthers Leiden‘. Hinzu kommt, was heute nur noch Spezialisten bekannt ist, dass Lenz für die ‘Werther-Briefe‘ eine Rezension zu Goethes Briefroman verfasst hat. Zunächst ist Goethe von Lenz sehr angetan, er sei ein Junge mit einem goldenen Herzen, den er wie seine Seele liebe. Er habe mehr Genie als Wieland. Herder schreibt Anfang Juni 1775 an Hamann, Lenz sei als Goethes jüngerer Bruder anzusehen. 13. Goethe setzte sich alsbald aber ab vom schwärmerischen Sturm und Drang, machte dank einer pragmatischen Ader Karriere, die Lenz abging. Lenz, der oft anonym veröffentlichte, fiel hinab. Lenz ging also diese Ader ab und Goethe sprach wie für Pragmatiker üblich von ihm als von einem heillosen Projektmacher. Die Straßburger Freundschaft mit Goethe zerplatzte, der Olymp rückte für Lenz in weite Ferne. Noch heute streiten sich Germanisten um die Autorenschaft von anonym vorliegenden Texten, ob Lenz oder Goethe die Autorenschaft zuzusprechen sei. Der Medizinstudent Georg Büchner hat über Lenzens Leiden ein kleinen, wie gesagt, Fragment gebliebenen Text geschrieben mit gewichtigen Andeutungen der Depression, manchmal im Telegramm-Stil, skizzenhaft, aber so, dass der Text im Handumdrehen zu den großen Texten über die Krankheit ‘Depression‘, über das Leben in einer oasenlosen Wüste werden kann. Goethe verstand es meisterhaft, sich zu vermarkten. Lenz war ein rasch verglühender Stern am Himmel der deutschen Literatur, der von Goethe überstrahlt wurde. “Lenz war in den 1770er Jahren der einzige Autor, der dem jungen Goethe literarisch den Schneid abkaufen konnte. Das ist in der langen Geschichte der Goethe-Verehrung oftmals vergessen worden“. 14. Aber dann erhob sich der Titan, dem mit den kurz hintereinander erscheinenden Götz und Werther ein Doppelschlag gelang, oder er wurde erhoben, und Lenz bezeichnet sich ihm gegenüber als kleiner Dreckhaufen und als stinkender Atem des Volkes. Das ist eine Disposition, der Lenz unterliegen, in der er untergehen wird. In seinen Gedichten taucht Todessehnsucht auf. Die Frau, die er anbetet, heiratet einen anderen und er spricht von einem Todesstreich. Auch die Liebe zu Friederike Brion, die nie verheiratet war, bleibt unerwidert. Der absolute Herr (der Tod) ist im Hinterkopf des Genialen und Tragischen bald omnipotent. Er hat die Hölle im Herzen und fühlt sich dem Tode geweiht. Auf Lenz trifft in bitterer Weise zu, was Engels als nationale Charaktereigenschaft den Deutschen beigelegt hat: Sie haben einen inneren Hang zur Haltlosigkeit. 15. Andere Völker halten aus guten Gründen an ihrer Stammnahrung fest, die Deutschen hecheln dem letzten Schrei ausländischer Küchen hinterher, als sei durch deren Verdauung etwas weltmännisches Rouge auf die Pobacken zu zaubern. Es gibt Zeitgenossen, die einen muslimischen Ziegenbauern in der Äußeren Mongolei mehr lieben als ihren Nachbarn, der sich durch Nachtarbeit bei VW die Gesundheit ruiniert. Das deutsche Gemüt hat geschichtlich bedingt immer etwas Depressives in sich, eine Todessehnsucht on a genocidal level, vornehmlich im östlichen Lebensraum, im Westen ist Holland und Wasser. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt! “ … es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer werden, daß alles über ihnen schwer wird“. 16. Und Hegel fügt zu Goethe hinzu, dass das deutsche Gemüt Geduld, Ernst, Schmerz und die Arbeit des Negativen ‘auszeichnet‘. 17.

1774 beklagt sich Lenz bei einem seiner Brüder, dass der Vater und der ältere Bruder ihn mit Ruten abstraften. 1775 wird dann bereits ein hartes Jahr für Lenz. Er bezeichnet sich als einen Sterbenden, als einen, dem die Seele erloschen ist. Goethe nennt ihn ein krankes Kind, sein Schwager Schlosser nimmt ihn auch als Kind wahr, keines Entschlusses fähig. All seinen Freunden sei er ein Rätsel. Goethe überragt im Weimarer Kreis alle und Lenz vermerkt, dass Goethe unser Hauptmann ist. Lenz neben Goethe, Lenz aus Seßwegen (Livland); Goethe aus Frankfurt, Sohn eines pietistischen Pfarrers; Sohn eines Juristen und Kaiserlichen Rates; zappelndes Genie, nach Lavater nicht immer vernünftig, ein tiefer Blick ist Lenz gewiss nicht abzusprechen. 18. Nicht immer vernünftig, wankelmütig - er gerät mehr und mehr in die Rolle eines Possenreißers, eine Rolle, die auch der Philosoph La Mettrie am Hofe des großen Königs in Potsdam auszufüllen hatte, um als Atheist zu überleben. Bei Lenz mit seiner ungenügenden Selbstbeherrschung ist es ein Zeichen fehlender Selbstwertschätzung, er fühlt sich, völlig zu Unrecht, allen unterlegen. Bedenken wir an dieser Stelle, dass Voltaire Rousseau ebenfalls als Possenreißer denunzierte und noch ärger: Als einen liederlichen, von Syphilis durchseuchten Gesellen. Wie Rousseau fühlt er sich von seinen Freunden im Stich gelassen und misshandelt. Es ist das Leiden an der Welt, die zu Depressionen führt, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Man selbst ist nicht wertig genug, um dem abzuhelfen, so folgt den Selbstzweifeln der nervliche Zusammenbruch. Wie Rousseau und Nietzsche sucht Lenz dann eine existenzbedrohliche Einsamkeit, weil man ihn in Weimar nicht brauchen kann, eine Einsamkeit, in der er nicht beobachtet wird und sich der Bewertungsflut entzieht. Wir haben uns eine paradiesische Ungeheuerlichkeit erlesen, von den von Prometheus gesegneten Wissenschaften nachzulesende Bahnen entwerfen lassen, dahin zu kommen und beneiden die Naiven, die die Welt eins zu eins abbilden und nirgends hinwollen und mit dem Jetzt und dem Hier zufrieden sind. Sie betreiben nicht einmal Schönfärberei und setzen einen Baum hinter ein Haus und einen Hund unter einen Baum, die gelbe Sonne auf die grüne Krone, mattblaue Wolken an den Rand des Bildes. Die Vögel zwitschern am Himmel.

Schon recht früh, in der ersten Novemberwoche 1777, wird Lenz mit seinen rasch wechselnden Seelenzuständen als irre, als nicht ausbalanciert stigmatisiert. In Zürich predigt er auf offener Straße, ruft zur Buße auf und verhängt Bannsprüche über alle Gegner Lavaters. 19. Er ist gerade 26 Jahre alt. Die Kommunikation um ihn herum beginnt bereits abzusterben, keiner will mit ihm reden, auch der zwei Jahre ältere Goethe nicht. Anfang 1778 bedroht er den Arzt von Cornelia Schlosser, Goethes Schwester, weil er sie unbedacht habe sterben lassen. Man schickt ihn daraufhin nach Waldbach (Waldersbach) im Elsass im abgelegenen Steintal in den Vogesen zu Pfarrer Oberlin, der ihn bereits zeitweise wegen Suizidgefahr bewachen lässt. Lenz wirkt, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm her. Er wird weitergereicht zum Witwer Schlosser, Goethes Schwager, der ihn nach Tagen des Wütens in das Frankfurter Tollhaus bringen lassen will. Anfang 1779 befindet er sich in ärztlicher Behandlung. Nicht mehr lange, und man wird ihm Papier wegnehmen und seine Feder brechen. Der Wahn hat ihn für die Außenwelt erfasst, denn man traut ihm keine Selbsttherapie durch das Schreiben mehr zu. Auf der Rückseite eines Gedichts hatte er die Worte hinterlassen: “Die empfindsamen Herzen lauffen am meisten Gefahr“. 20. Lenz sieht ein Triumvirat gegen sich, bestehend aus Goethe, Herder und Wieland. Wir werden später sehen, dass auch Rousseau ein Triumvirat mit Voltaire an der Spitze gegen sich wirken sah. Ob Lenz wirklich wahnsinnig war, ist bis heute umstritten, Gutzkow bezeichnet ihn im Januar 1839 im ‘Telegraf für Deutschland‘ nach der Lektüre von Büchners Novellenfragment über den Dichter Lenz, ein düsteres Nachtgemälde, als halbwahnsinnig. Auch stellte Gutzkow eine Affinität zwischen dem Autor Büchner mit seiner meisterhaften Schilderung von Seelenzuständen und Lenz fest. Auch bei Rousseaus diffusen Krankheitsverlauf können keine klaren Konturen vorliegen. Eine Affinität zwischen Rousseau, Lenz und Georg Büchner wiederum stellt sein Bruder Ludwig Büchner fest: Wie bei Rousseau das tagelange Durchstreifen der Natur, mit ihr zu verwachsen, sich in sie aufzulösen. Im Novellenfragment hätte sein Bruder eine geistige Wahlverwandtschaft und verwandte Seelenzustände Büchners mit dem Stürmer und Dränger Lenz gefühlt, das Fragment sei halb und halb des Autors eigenes Gesicht. 21. Sowohl bei Rousseau, bei Lenz als auch halb bei Büchner werden wir Zeugen eines Selbstverlustes des Geistes, Zeugen, wie Genies sich selbst zerstören, bis sich alles im Fiebertraum dreht. Büchner erkennt die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber dem destruktiven Toben der Weltgeschichte, dem Aufpeitschen ihrer alles verschlingenden Ozeane. Die Novelle ‘Lenz‘ ist im Kern eine mit hoher Sensibilität nachempfundene Krankheitsgeschichte, wie der Geist zerrinnt, der Wahn sich anschleicht. 1839 schätzte Gutzkow Lenz wenigstens als halbwahnsinnig ein, noch 1995 eröffnet Henning Boetius seinen Artikel über Lenz in Reclams Sammelbuch ‘Deutsche Dichter‘ mit dem Satz, es sei fraglich, ob Lenz im medizinischen Sinn schizophren gewesen sei. Es wird sich nie mit Sicherheit sagen lassen. 22. Mit Sicherheit aber lässt sich m. E. sagen, ja feststellen, dass allen dreien, Rousseau, Lenz und Büchner, eine feinnervige Sensibilität eignete, eine dünne Decke, durch die Depressionen jederzeit zunächst unbemerkt einbrechen können. Das macht die ganze Sache so schwierig, besonders seit dem Auftreten der Anti-Psychiatrie, es ist ein Unterschied, ob ein Messer in den Oberschenkel schneidet, Blut austritt, oder eine Depression Zug um Zug Besitz von einer festen Seele ergreift, bis diese zum Sieb für sie durchlöchert ist. Unsensiblen Menschen erscheinen Depressive als Hypochonder, so verstehen sie sie. In ihrem verdeckten und versteckten Inneren leiden sie indessen an einer Krankheit ins Quadrat erhoben, die, wenn sie abflaut, weiterhin im Hintergrund auf der Lauer liegt. Man kann die Depressiven als die Pauper unter den Kranken bezeichnen, als Irrläufer, weil in ihnen nichts mehr glimmt. Diese Krankheit ist eine der gewaltigsten Gefährdungen unserer Zeit und gibt das Rätsel auf, wie es bei einem relativen materiellen Wohlleben in der Zivilisation zu einem so fatalen und heillosen Rückschlag kommen kann? Der Mensch scheint nicht vom Brot allein zu leben. Je höher die Wolkenkratzer, desto höher die Alienation, desto kälter das Zusammenleben in den Blöcken, desto wortkarger der Blockwart. Was sensible Menschen auszeichnet ist das Mitleiden, während die plumpen Leiden verursachen, ihresgleichen an die Wand quetschen und die zarte Pflanze eines Gedichts zertreten. Soll man mehr über die Opfer oder mehr über die Täter weinen? Rousseau behauptet von sich, nie ein Tier gequält zu haben, er behauptet weiter von sich, beim Anblick Unglücklicher mehr Qualen durchleiden zu müssen als die Betroffenen selbst. “Das sinnlich Wahrnehmbare bewegt mich gar zu leicht … Ich lasse mich von diesen äußeren Eindrücken hinreißen …“ 23. Hinzu kommt nach Selbstauskunft ein fast von der Geburt an durch Sinnlichkeit glühendes Blut. Trotz dieser Mängel, einer inneren Haltlosigkeit, einer schrecklichen, dem Augenblickseinfall und Reiz hörigen Labilität, trotz dieser leichten Entflammbarkeit, dieser absoluten Führungsschwäche, so gibt selbst auf seinen Spaziergängen sein Hund den Takt vor, Rousseau folgt ihm stets, hat Rousseau es geschafft, dem sich rasch auflösenden Schicksal eines Augenblicksgötzen zu entkommen. Sicherlich eine Ausnahme, da das allzu häufige Abweichen vom subjektiv Gefassten zu einer Serie führen kann, die ohne frohes Herz zum baldigen Ende in Irre und Ruin strandet. Die labilen Praxisversager werden am ehesten zum Spielball fremder Mächte.

[...]

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Rousseau und Lenz als depressive Menschen
Autor
Jahr
2021
Seiten
65
Katalognummer
V1118735
ISBN (eBook)
9783346480880
ISBN (Buch)
9783346480897
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rousseau, lenz, menschen
Arbeit zitieren
Magister artium Heinz Ahlreip (Autor:in), 2021, Rousseau und Lenz als depressive Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1118735

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Rousseau und Lenz als depressive Menschen



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden