"Deutsch-Mittelafrika" als Kriegsziel im Zweiten Weltkrieg

Ausdruck nationalsozialistischen Größenwahns oder Aufgriff der Kriegsziele von 1914-1918?


Seminararbeit, 2007

51 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. DIE DEUTSCHEN KOLONIEN IN AFRIKA
2.1 Die Kolonien vor 1914
2.2 Die Kolonien im Ersten Weltkrieg

3. DIE DEUTSCHEN KRIEGSZIELE IN AFRIKA IM ERSTEN WELTKRIEG

4. DIE HALTUNG DER NATIONALSOZIALISTEN ZUR KOLONIALFRAGE

5. DIE DEUTSCHEN KRIEGSZIELE IN AFRIKA IM ZWEITEN WELTKRIEG

6. VERGLEIH DER KRIEGSZIELE IN DEN BEIDEN KRIEGEN IM HINBLICK AUF
6.1 Territoriale Überschneidungen und Unterschiede
6.2 Die Begründung der angestrebten Kriegsziele
6.3 Das geplante Vorgehen nach Erreichen der Kriegsziele

7. BEWERTUNG DER DEUTSCHEN KOLONIALPLÄNE IM ZWEITEN WELTKRIEG, UNTER BESONDERER BETRACHTUNG EINER MÖGLICHEN KONTINUITÄT ODER EINES BRUCHS

8. ZUSAMMENFASSUNG/SCHLUSS

9. LITERATURVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG

Bei der Lektüre des Kurses 04173 „Einführung in die afrikanische Geschichte“, Kurseinheit 2 „Kolonialismus – Episode oder Bruch in der Geschichte afrikanischer Gesellschaften?“ wurde auch dem deutschen Kolonialismus des Kaiserreiches Raum eingeräumt. Bei weiterführenden Recherchen zu dieser Thematik stieß ich auf die Vision von einem „Deutsch-Mittelafrika“ und die die deutschen Kriegsziele in beiden Weltkriegen in Afrika. Über diese las ich einiges und kam so auf den Gedanken, die Kriegsziele Deutschlands in Afrika in beiden Weltkriegen in einer Hausarbeit miteinander zu vergleichen.

Die deutschen Kriegsziele in beiden Weltkriegen in Afrika sind heute weitestgehend in Vergessenheit geraten. Allenfalls ist im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und Afrika der Kampf Lettow-Vorbecks noch ein Begriff, beim Zweiten Weltkrieg und Afrika ist den allermeisten nur das Afrikakorps und der „Wüstenfuchs“ Rommel. Und die Erinnerungen an die deutsche Kriegsführung in Afrika sind nicht selten glorifiziert und mit einem Hauch von Kolonial- und Wüstenromantik umgeben.

Dass es in beiden Kriegen hingegen mit umfangreichen kolonialen Forderungen in Mittelafrika weitaus größere Kriegsziele gab als nur die räumlich beschränkten „Kampagnen“ in Deutsch-Ostafrika und Nordafrika ist den wenigsten Deutschen heute bekannt.

Aber wie standen die in beiden Kriegen erhobenen Forderungen nach einem umfangreichen Kolonialreich in Mittelafrika, zwischen den 20. Breitengraden nördlicher und südlicher Breite einzuordnen, im Zusammenhang zueinander, beziehungsweise, bestand überhaupt ein Zusammenhang?

Entsprangen die Kriegszielpläne für Mittelafrika im Zweiten Weltkrieg der nationalsozialistischen Ideologie oder standen sie stattdessen in einer Kontinuität zu den afrikanischen Kriegszielen des Ersten Weltkrieges. Also noch einmal konkreter: Waren die kolonialen Bestrebungen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg Ausdruck einer neuen Weltanschauung oder griffen sie nur die Kriegsziele auf, die 25 Jahre vorher nicht verwirklicht werden konnten?

Aber was regt zu dem Gedanken an, nach einer Kontinuität in den afrikanischen Kriegszielen in beiden Weltkriegen zu suchen? Bei der Durchsicht der Lektüre, besonders beim Betrachten von Landkarten, wird deutlich, dass sich die Kriegsziele in Afrika in beiden Weltkriegen ähnelten. Dieses Ähneln kann natürlich verschiedene Ursachen haben, eine denkbare wäre beispielsweise die tatsächliche strategische und wirtschaftliche Notwendigkeit der Forderungen. Eine andere wäre aber auch, dass im Zweiten Weltkrieg alte Pläne einfach wieder aufgegriffen wurden. Sollte dem so sei, ist es interessant zu betrachten, warum dies geschehen ist, erst recht, da sich 20 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Ideologie, mit der Deutschland in den Zweiten Weltkrieg ging, geändert hatte. War womöglich die neue nationalsozialistische Ideologie, die zur Staatssache erklärte Rassenlehre einschließend, Grund für die afrikanischen Kriegsziele? Wenn dem so war, dann wären diese Ziele auch aufgestellt worden, wenn sie nicht bereits aus dem Ersten Weltkrieg in den Schubladen lagen. Bei allem Wandel darf gleichzeitig aber nicht vergessen werden, dass sich die deutsche Gesellschaft, erst recht in den Ministerien, nicht so grundlegend geändert hatte. Dort saßen mitunter noch Beamte, die bereits unter dem Kaiser „gedient“ hatten, was wiederum für eine Kontinuität sprechen würde.

Um die kolonialen Kriegsziele beider Weltkriege zu verstehen, ist eine kurze Darstellung der kolonialen Situation des Deutschen Reiches zu Beginn des Ersten Weltkrieges hilfreich, ebenso des Kriegsverlauf in den afrikanischen Kolonien, da sich dieser signifikant von den Kriegszielen unterschied und somit keine Erklärung für diese in beiden Weltkriegen bietet. Um im Folgenden dann die deutschen Kriegsziele in Afrika im Zweiten Weltkrieg verstehen zu können, ist es von Nutzen, die Haltung der Nationalsozialisten, insbesondere die Hitlers, zu den Kolonien darzustellen, unabhängig davon, ob diese für die Formulierung der Kriegsziele ausschlaggebend war oder nicht.

Die Darstellung der Kriegsziele in beiden Weltkriegen sowie deren Vergleich im Hinblick auf geforderte Territorien, Begründungen der Forderungen und ihre geplante Umsetzung nach deren Erreichen, erlauben dann einen Rückschluss darauf, ob es eine Kontinuität in den Kriegszielplanungen für Afrika vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg gab.

2. DIE DEUTSCHEN KOLONIEN IN AFRIKA

Ein großes zusammenhängendes mittelafrikanisches Kolonialreich war schon seit den 1880er Jahren eine Utopie der deutschen Kolonialenthusiasten im Kaiserreich, gehörte aber auch zum Gedankengut einiger Kolonialpolitiker.[1]

Bereits Lüderitz hatte ein großes Kolonialreich angedacht, zu dem auch die Burenrepubliken gehören sollten. Wegen daraus entstandener Konflikte mit Großbritannien wurden solche Forderungen aber fallengelassen. Stattdessen hoffte man, durch Geheimverträge mit Großbritannien, die 1898 geschlossen wurden, von der Schwäche der Kolonialmacht Portugal profitieren zu können: Bei einem Zusammenbruch Portugals sollten dessen Kolonien untereinander aufgeteilt werden. Die Verträge sollten gleichzeitig die Zugehörigkeit des Deutschen Reiches zu den Großmächten und dessen Wichtigkeit unterstreichen. Im Zusammenhang mit den Marokkokrisen und der deutschen Anerkennung der französischen Protektion Marokkos erhielt das Reich eine sehr kleine Vergrößerung Kameruns (Neukamerun), allerdings musste ein anderer Teil Kameruns abgegeben werden. Das eigentliche Ziel des großen „Deutsch-Mittelafrika“, für das Kamerun auf Kosten des französischen Kongos mit Deutsch-Ostafrika verbunden und an das über den belgischen Kongo und das portugiesische Angola auch Deutsch-Südwestafrika angebunden werden sollte, blieb aber eine Vision.[2]

Neben dem Prestigegewinn und den erhofften Rohstoffen ging es auch darum, die britischen „Kap-Kairo“ Bestrebungen zu verhindern, ohne allerdings auf britische Kolonien zurückzugreifen, sowie den moslemischen Staaten in Nordafrika einen Riegel vorzuschieben.[3]

Im Zusammenhang mit der zweiten Marokko-Krise 1911 und dem erneuten deutsch-britischen Abkommen über die Einflusssphären in den portugiesischen Kolonien 1913 nahm auch die Politik das Thema Mittelafrika langsam auf.[4]

„Ergänzungsräume“ für das deutsche Kolonialreich waren stets französische, belgische und portugiesische Kolonien, somit sollte auch ein Kolonialinteressenausgleich mit England auf Kosten Portugals, Belgiens und Frankreichs erlangt werden, um dem Flottenwettrüsten ein Ende zu bereiten.[5] Kaiser Wilhelm II. nannte das zentralafrikanische Kolonialreich (zumindest vor dem Krieg) jedoch ein „Wahngebilde“, und er war nicht bereit, für dieses seine Flottenaufrüstungspläne einzuschränken.[6]

Er bemerkte einmal in einer Randnotiz zu einem mittelafrikanischen Reich: „Wer soll denn das verwalten und aufschließen, woher kommt das Geld!“[7] Dennoch standen die Chancen, über die portugiesischen Kolonien das Kolonialreich zu erweitern, kurz vor dem Krieg nicht schlecht.[8]

Die Begründungen für den Bedarf an Mittelafrika waren neben dem Bedarf an Rohstoffen, wirtschaftlichen Gründen und Siedlungspolitik zum Teil recht pragmatisch. So schrieb der ehemalige Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, dass andere Gebiete schlicht nicht mehr zu haben seien und sich dieser Raum anböte, da er bereits von deutschen Kolonien umschlossen werde. Der Anspruch auf die portugiesischen Kolonien wurde dahingehend begründet, dass die 400 Jahre währende korrumpierte Herrschaft eines romanischen Volkes der Herrschaft eines wirtschaftlich überlegenen und aufstrebenden germanischen Volkes weichen müsse. Hier klingt bereits eine Rassetheoretisch begründete Kolonialherrschaft an, wobei interessanterweise nicht von der rassischen Unterlegenheit der kolonisierten, sondern der kolonisierenden gesprochen wird.

Aber auch sendungsideologische und kulturmissionarische Gründe den Eingeborenen gegenüber wurden als Begründung für eine Erweiterung des Kolonialreiches angeführt. Der vor allem von den Missionaren ernst gemeinte und selbsterteilte moralische Auftrag, den Eingeborenen die „Segnungen“ der westlichen Kultur zu bringen, war oftmals aber nur Verbrämung von Rassismus und wirtschaftlichem Egoismus. Die Herrschaft der weißen Rasse als „Herrenvolk“ war bereits im Kaiserreich eine in vielen Köpfen verankerte Selbstverständlichkeit. Die Afrikaner wurden generell als auf der geistigen Entwicklungsstufe von Kindern stehend angesehen und mit „boy“ angesprochen, und viele Missionare unterstützten trotz Kritik an der Behandlung der Eingeborenen das System durch christliche Untertanengebote und Arbeitsethik. Viele Wissenschaftler lieferten wissenschaftlich angehauchte Belege zur Begründung der Überlegenheit der weißen Rasse. Die Devise der Schutztruppe war, die Eingeborenen „hart aber gerecht“ zu behandeln, so wie es der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, Hermann von Wissmann, in einem Ratgeber für die Schutztruppe forderte.

Es gab aber auch eine Opposition gegen die Kolonisierung mit „Gewehr und Peitsche“, die auf Handel und Christianisierung setzte, sich aber nur langsam durchsetzen konnte. Darauf aufbauend entwickelte der Staatssekretär im Reichskolonialamt, Bernhard Dernburg, seine schonendere Politik den Eingeborenen gegenüber.

Dennoch war man sich über alle politischen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg einig, dass die „Erziehung des Negers zur Arbeit“, denn die Eingeborenen galten als grundsätzlich faul, ein großes Ziel der Kolonisation war, wobei man davon ausging, dass die „Erziehungszeit des Negers“ mehrere Jahrhunderte dauern werde.[9] Nur der Spartakusbund und die revolutionäre Arbeiterbewegung lehnten alle kolonialen Annexionspläne ab.[10]

2.1 Die Kolonien vor 1914

Das deutsche Kolonialreich des Kaiserreiches bestand, im Vergleich zu dem anderer Nationen, nur relativ kurz, von 1884 bis zum Verlust der jeweiligen Kolonie. Es bestand am Vorabend des Ersten Weltkrieges aus: Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Togoland, Kamerun, Deutsch-Neuguinea, Samoa und Kiautschou.[11]

Davon war Togoland die einzige Kolonie, die sich selbst trug, unter anderem aus diesem Grund wurde Togoland auch häufig als Musterkolonie bezeichnet.[12]

Mit Ausnahme von Deutsch-Neuguinea, Samoa und Kiautschou waren die genannten Kolonien in beiden Weltkriegen immer gemeint, wenn von den „alten Kolonien“, in der Regel im Zusammenhang mit Rückgabeforderungen, gesprochen wurde. Die Größe des Kolonialbesitzes betrug 1909 insgesamt 2.711.260 km mit 13,04 Millionen Eingeborenen und 28.500 deutschen Einwohnern.[13] Das entsprach etwa dem Fünffachen der Fläche des Deutschen Reiches und etwa einem Fünftel dessen Einwohner.[14] Nach Großbritannien und Frankreich war das deutsche Reich die drittgrößte Kolonialmacht.

2.2 Die Kolonien im Ersten Weltkrieg

Der Kriegsverlauf in den Kolonien stand in keinem Verhältnis zu den utopischen kolonialen Kriegszielen.

Da Bismarck bei Besitznahme der Kolonien erklärt hatte, dass diese im Kriegsfall auf dem europäischen Kontinent verteidigt würden, waren in den Kolonien 1914 keine Vorbereitungen für eine Verteidigung getroffen worden. Noch am 2. August 1914 vertraute das Reich auf die Neutralitätserklärung der Kongoakte von 1885, nach der im Kongobecken die Kolonien von Kampfhandlungen verschont bleiben sollten, und telegrafierte in die Schutzgebiete, dass für diese keine Kriegsgefahr bestehe.[15] Dies war eine totale Verkennung der Lage:

Togo wurde bereits nach nur geringem Widerstand am 27. August 1914 an die Engländer übergeben, Deutsch-Südwestafrika wurde nach schweren Kämpfen zwischen der Schutztruppe und südafrikanischen Truppen am 9. Juli 1915 an Südafrika übergeben. In Kamerun ergaben sich die letzten Reste der Schutztruppe am 20. Februar 1916 britischen Kolonialtruppen. Einzig in Ostafrika konnte sich die Schutztruppe gegen britische, südafrikanische, indische, belgische und portugiesische Truppen bis zum Ende der Kampfhandlungen in Europa halten, was beide Seiten überraschte. Die pazifischen Kolonien und Kiautschou waren bereits 1914 nach leichten Kämpfen von Briten, Australiern und Japanern besetzt worden.

Obwohl die Heeresleitung in Deutschland die Schutztruppen sich selbst überließ und schnell klar war, dass sie nicht lange würden durchhalten können, bestand die Hoffnung, dass durch die Kämpfe wenigstens einige Truppen der Entente gebunden würden. Der Verlust der Kolonien bedeutete nicht das Ende der kolonialen Planungen, da man noch an einen schnellen Sieg glaubte um dann auf Kosten der Verlierer für den Verlust der Kolonien entschädigt zu werden.[16]

Die schnelle Besetzung der deutschen Kolonien lag weniger an deren Wert, sondern daran, dass die Entente dem Deutschen Reich keine Stützpunkte für die Überseeflotte lassen wollte. Auch war die Besetzung der Kolonien nicht entscheidend für ihren weiteren Status. Dieser wurde erst durch den Versailler Vertrag geregelt.[17]

Mit dem Verlust der Kolonien im Ersten Weltkrieg begann der beinahe 30 Jahre andauernde deutsche Kolonialismus ohne Kolonien.[18]

3. DIE DEUTSCHEN KRIEGSZIELE IN AFRIKA IM ERSTEN WELTKRIEG

In Kapitel 2 habe ich bereits die Idee eines „Deutsch-Mittelafrika“ vorgestellt, das jedoch immer eine Utopie geblieben war.

Mit Kriegsbeginn schien nun die Gelegenheit gekommen zu verwirklichen, woran man vorher auf diplomatischem Wege gescheitert war. „Deutsch-Mittelafrika“ war als Kriegsziel das Pendant zum europäischen Kriegsziel „Mitteleuropa“, einem mitteleuropäischen Wirtschaftsverbund unter deutscher Führung.[19] Besonders der konservative „Alldeutsche Verband“ propagierte die beiden Kriegsziele eines unter deutscher Vorherrschaft stehenden Mitteleuropas und eines großen Kolonialreiches in Afrika als Gegenstück.[20] Direkt zu Kriegsbeginn forderte der „Alldeutsche Verband“ das komplette Afrika südlich des 20. Breitengrades nördlicher Breite für Deutschland.[21] Ein festes innenpolitisches Fundament für die Forderungen in Mittelafrika gab es aber nicht.[22]

Am 28. August 1914 äußerte sich der Kolonialstaatssekretär Solf auf Anfrage des Auswärtigen Amtes zu den kolonialen Bedingungen eines Friedens mit Frankreich und machte somit „Deutsch-Mittelafrika“ als Kriegsziel offiziell. Er schlug vor, dass Belgien den Kongo und Frankreich die Kongokolonie und alle Gebiete in Äquatorialafrika bis zum Tschadsee, Dahomey und nördlich Togos bis zum Niger abzugeben habe. Portugal sollte mit einem provozierten Grenzzwischenfall auf die Seite der Entente getrieben werden, um dann nach dem erwarteten Sieg des Reiches seine Kolonien Angola und Nord-Mozambique abgeben zu müssen.

Da Solf nicht an eine Niederlage Englands glaubte und einen Kompromissfrieden nicht behindern wollte, nahm er bis 1916 keine britischen Gebiete in seine Forderungen auf.[23] Er war aber optimistisch, nach einem schnellen Sieg über Frankreich und einem Kompromissfrieden mit England bei Rücksichtnahme auf dessen Interessen Englands Zustimmung zu seinen Forderungen zu erhalten. Die Regierung machte sich Solfs Forderungen zu Eigen und Reichskanzler von Bethmann-Holweg forderte in seinem Septemberprogramm 1914 „Deutsch-Mittelafrika“ als Verbindung der bisherigen Kolonien.[24]

Auch Kaiser Wilhelm II. befürwortete im Krieg plötzlich die Pläne der Regierung, die ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass sich das Riesenreich selbst finanziere.[25]

Auch der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger (Zentrum) sprach sich am 2.September 1914 in einer Denkschrift an Reichskanzler von Bethmann-Hollweg dafür aus, das deutsche Kolonialreich durch die Schaffung eines durchgehenden Reiches von Daressalam bis nach Senegambien in Französisch-Westafrika zu erweitern und abzurunden.[26] Viele Sozialdemokraten unterstützten ebenfalls ähnliche Forderungen, die konkret den belgischen und französischen Kongo, französische Gebiete an der Westküste und das britische Nigeria beinhalteten.[27] Die allermeisten Sozialdemokraten wollten wenigstens die alten Kolonien aus wirtschaftlichen Gründen nach dem Krieg wieder zurück haben. Nur die äußerste Linke lehnte Mittelafrika ab.[28]

Analog zur Kritik der extremen Linken kam auch Kritik von ganz rechts: Die Kolonisation Afrikas würde zu viele Kräfte binden und Afrika sei als Siedlungsland wertlos. Vielmehr müsse die kolonisatorische Energie die abgebrochene Kolonisation im Osten fortsetzen, um die russische Gefahr zu bändigen. Ein afrikanisches Kolonialreich sei nur ein Abfallprodukt des Krieges, das nur mit einer Landbrücke über den Nahen Osten wertvoll sei. Weitere Kritiker forderten statt des Kolonialreiches „von Englands Gnaden“ einen Machtblock von Berlin bis Bagdad. Erst wenn Deutschland dann Weltmacht sei könne, man an den Erwerb afrikanischer Kolonien denken. Bei dieser Kritik wird die gleiche Argumentation verwendet, die Jahre später Hitler gegenüber der Kolonialpolitik des Kaiserreiches anbringen sollte.

Mittelafrika war eines der am wenigsten umstrittenen Kriegsziele. Alle, die dieses Ziel propagierten, griffen auf die bereits vorbereiteten Vorkriegspläne zurück. Das was allerdings vorher in erster Linie auch die innenpolitischen Schwierigkeiten überdecken sollte, wurde nun zu handfesten Forderungen.[29] Allerdings lag der Schwerpunkt der Kriegszielplanungen in Europa, dessen Neuordnung nahm in den Diskussionen weit mehr Raum ein als Afrika.[30]

Bei allen Forderungen war man sich bewusst, dass eine Vergrößerung des Kolonialreiches die Wehrkraft in Europa nicht schwächen durfte, weswegen die Inbesitznahme neuer Kolonien erst für nach dem Sieg geplant war.[31]

Sehr radikal waren die Forderungen der Deutschen Kolonialgesellschaft: Sie forderte am 18. September 1914 ein „großes Reinemachen“ in Afrika, ohne „Sentimentalitäten“, um ein großes Reich in Afrika zu schaffen und die unrentablen Kolonien in der Südsee bis auf einige Stützpunkte abzustoßen. Konkret schlug sie vor, dass Deutschland Ägypten von den Briten räumen und mit dem Osmanischen Reich den Suezkanal kontrollieren sollte und die französischen Kolonien in Nordafrika hätten als Belohnung für deren Neutralität an Spanien und Italien gehen sollten. Sie sollten auch Entschädigung für spanische Gebiete sein, die künftig zu Mittelafrika gehört hätten. Mittelafrika sollte südlich des 20. Breitengrades nördlicher Breite beginnen und die Kapverdischen Inseln, den Senegal, Niger und den Tschadsee einschließen, entlang der sudanesischen Grenze bis zum 6. Breitengrad nördlicher Breite führen, um bei Kismaju an den Indischen Ozean zu stoßen. Somit wären auch Britisch-Uganda und -Ostafrika deutsch geworden. Die Südgrenze sollte von Deutsch-Südwestafrika nach Osten führen, um etwa bei Beira auf den Indischen Ozean zu stoßen. Alles zwischen diesen Gebieten sollte Deutsch werden, auch die portugiesischen Kolonien, für die England eine Entschädigung an Portugal hätte zahlen sollen. Alle Inseln sollten auch zum Mittelafrikanischen Reich gehören. Liberia sollte ebenfalls unter deutsche Verwaltung gestellt, Madagaskar wieder selbständiges Königreich unter deutschem Protektorat werden. Insgesamt sollte die Erschließung und Verwaltung dieses riesigen Gebietes billiger sein als die der bisherigen verstreuten Kolonien. Diese Forderungen hätten die Übernahme des gesamten britischen Besitzes in Afrika außer Südafrika, Bechuanaland, Swaziland und Basutoland, des kompletten portugiesischen Besitzes außer Süd-Mozambique und des kompletten französischen Besitzes im subsaharischen Afrika bedeutet.[32]

Auch Vertreter der Wirtschaft, Industrie und Landwirtschaft forderten als Kriegsziel umfangreichen Kolonialbesitz von Belgien und Frankreich, der den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands gerecht werden würde. Die Industriezweige, die auf den englischen Markt angewiesen waren, wollten die koloniale Expansion allerdings auch im Krieg weiterhin nur auf Kosten Portugals und Belgiens.[33]

Ein kolonialwirtschaftliches Komitee stellte eine koloniale Maximal- und Minimalforderung auf: Erstere beinhaltete die Annexion von Belgisch-Kongo, Französisch- Äquatorialafrika, der portugiesischen Enklave Cabinda, des Senegal, des oberen Nigergebietes, der Goldküste von Dahomey mit Hinterland, Nigeria, Madagaskar, Nordrhodesien, Nyassaland, Kenia, Uganda, Sansibar und Pemba. Die Mindestvariante, bei politisch oder militärisch unmöglicher Durchführung der Maximalvariante beinhaltete die Rückgabe der alten Kolonien oder gleichwertiger Gebiete sowie weiterer Erwerb, der sich dem bisherigen Besitz anschließen ließ.[34]

[...]


[1] Neitzel, Sönke: "Mittelafrika":

Zum Stellenwert eines Schlagwortes in der deutschen Weltpolitik des Hochimperialismus: 83

[2] Gründer, Horst (Hrsg.)1999: „…da und dort ein junges Deutschland gründen“: 176ff

[3] Gründer, Horst 1985: Geschichte der deutschen Kolonien:102

[4] Neitzel, Sönke: 83

[5] Gründer, Horst (Hrsg.)1999: 176ff

[6] Gründer, Horst 1985: 105

[7] Neitzel, Sönke: 93

[8] ebd.: 84

[9] Gründer, Horst (Hrsg.)1999: 222ff

[10] Stoecker, Helmuth (Hrsg.) 1977: Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges: 242

[11] Steltzer, Hans Georg 1984: Die Deutschen und ihr Kolonialreich: 33ff

[12] N’dumbe, Kum’a III 1993: Was wollte Hitler in Afrika? NS-Planungen für eine faschistische Neugestaltung Afrikas: 101

[13] Bruckmüller, Prof. Dr. Ernst/Hartmann, Prof. Dr. Peter Claus (Hrsg.) 2001: Putzger, Historischer Weltatlas: 149

[14] Verlagsredaktion Plötz 1998: Der Große Ploetz: 707

[15] Steltzer, Hans Georg 1984: 296

[16] Smith, Woodruff D. 1978: The German colonial empire: 221ff

[17] Stoecker, Helmuth (Hrsg.) 1977: 221

[18] Gründer, Horst (Hrsg.)1999: 272

[19] ebd.: 176ff

[20] ebd.: 223

[21] Smith, Woodruff D. 1978: 229

[22] Gründer, Horst 1985: 105

[23] Stoecker, Helmuth (Hrsg.) 1977: 232f

[24] Smith, Woodruff D. 1978: 225

[25] Stoecker, Helmuth (Hrsg.) 1977: 235

[26] Gründer, Horst (Hrsg.)1999: 303f

[27] Stoecker, Helmuth (Hrsg.) 1977: 230

[28] Neitzel, Sönke: 98

[29] ebd.: 99ff

[30] ebd.: 95

[31] Gründer, Horst (Hrsg.)1999: 303f

[32] Stoecker, Helmuth (Hrsg.) 1977: 229ff

[33] Gründer, Horst 1985: 104

[34] Stoecker, Helmuth (Hrsg.) 1977: 235

Ende der Leseprobe aus 51 Seiten

Details

Titel
"Deutsch-Mittelafrika" als Kriegsziel im Zweiten Weltkrieg
Untertitel
Ausdruck nationalsozialistischen Größenwahns oder Aufgriff der Kriegsziele von 1914-1918?
Hochschule
FernUniversität Hagen  ( Historisches Institut)
Veranstaltung
Einführung in die afrikanische Geschichte
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
51
Katalognummer
V112262
ISBN (eBook)
9783640111053
ISBN (Buch)
9783640111206
Dateigröße
601 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Aus dem Kommentar des Korrektors: [...] eine sehr kenntnisreiche und sehr detaillierte Hausarbeit [...].
Schlagworte
Deutsch-Mittelafrika, Kriegsziel, Zweiten, Weltkrieg, Einführung, Geschichte
Arbeit zitieren
Marc Brüninghaus (Autor:in), 2007, "Deutsch-Mittelafrika" als Kriegsziel im Zweiten Weltkrieg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112262

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