Ein „pervers-politischer Widerspruch“ - Das Groteske in Thomas Bernhards „Stimmenimitator“


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Das Groteske – Versuch einer Begriffsbestimmung

2. Groteske Pointen
2.1 Grausamkeiten
2.2 Zerstörung der Superlative
2.3 Unverhältnismäßigkeit

3. Groteske Natur
3.1 Die Natur als Monster
3.2 Naturzustand als Perversion

4. Entstellung von Mensch und Gesellschaft
4.1 Der Mensch als des Menschen Wolf
4.2 Mangelnde Krisenbewältigung
4.3 Gescheiterte Individuen

5. Das Groteske in der Sprache
5.1 Sprache des Grauens
5.2 Bürokratie und nichtige Details
5.3 Der „unendliche“ Satz

Zusammenfassung

Quellen- und Literaturverzeichnis

Einleitung

In der Geschichte „Ernst“[1] wird ein Komiker „die lange erwartete Sensation“: Auf einem Felsvorsprung stehend, kündigt er einer Ausflüglergruppe an, „er werde sich, so wie er sei, in der Lederhose und dem Tirolerhut auf dem Kopf, in die Tiefe stürzen.“ Wie gewohnt brechen die Zuschauer in lautes Gelächter aus – dann stürzt sich der Komiker tatsächlich in die Tiefe.

Die Geschichte erschien im Jahre 1978 als eine von 104 Kurz- und Kürzesttexten unter dem Namen „Der Stimmenimitator“, verfasst von Thomas Bernhard, der sie als „hundertvier freie Assoziationen und Denk-Erfindungen“[2] bezeichnet.

Doch die Textsammlung wurde wenig gerühmt, als „glatte Enttäuschung“[3] und als „Betriebsunfall“[4] in Bernhards Prosawerk gesehen. Worin gründet dieses negative Urteil? Möglicherweise hilft hier ein Blick auf den Charakter der Geschichten: Sie berichten fast ausnahmslos von grausamen Geschehnissen, von Katastrophen, Mord und Todschlag.

Die negative Rezeption in der Öffentlichkeit hat sich auch auf die Forschung ausgewirkt, denn über kaum ein Werk Bernhards ist so wenig geschrieben worden, wie über den „Stimmenimitator“.[5] Und so wird in der Forschung auch nur nebenbei bemerkt,[6] was schon die Geschichte vom Selbstmord des Komikers zeigt: Bernhards „Denk-Erfindungen“ sind grotesk.

Worin aber liegt der groteske Gehalt des „Stimmenimitators“ genau? Dies zu bestimmen soll Ziel der hier angestellten Untersuchungen sein. Hierzu wird zunächst das Groteske an sich genauer bestimmt, dann das groteske Potenzial der Pointen im „Stimmenimitator, sowie die groteske Darstellung von Natur und Mensch darin. Zuletzt wird auch die sprachliche Gestaltung hinsichtlich ihrer grotesken Struktur betrachtet.

1. Das Groteske – Versuch einer Begriffsbestimmung

Der Versuch, das Groteske adäquat zu definieren, soll hier aus guten Gründen nicht begriffsgeschichtlich beginnen. Denn die etymologisch geprägten Definitionen können den modernen Begriff des Grotesken als Stilprinzip nicht vollständig beschreiben[7] – zu sehr hat sich die Bedeutung des Wortes im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Stattdessen soll zunächst die aktuelle Forschungsposition von Peter Fuß[8] dazu dienen, in die Begriffsbestimmung einzusteigen.

Nach Peter Fuß stellt das Groteske im Wesentlichen einen Bruch mit gesellschaftlichen bzw. kulturellen Konventionen dar.[9] Es zerstört etablierte Ordnungen und deren dichotomische Raster wie z.B. gut/böse, wahr/falsch und schön/hässlich.[10] Damit steht das Groteske in Opposition zum Klassischen, ja es existiert praktisch nur in dieser Relation.[11] Die jeweilige Konvention wird durch drei zentrale Operationsmethoden verändert: durch Verkehrung, Verzerrung und Vermischung. Diese Prinzipien sind keinesfalls neu, schon Kaiser nennt einige von ihnen.[12] Dem Prinzip der Verkehrung kann man alle Formen der Degradierung, bis hin zu Inversion, zuordnen. Die Verzerrung hat wesentlich Disproportionalität zu Folge und die Vermischung findet in der Mesalliance ihre schärfste Ausprägung. Man kann dann auch vom oxymoronischen Mischcharakter sprechen.[13]

Nützlich bei Peter Fuß ist vor allem die Betonung auf dem grenzüberschreitenden Wesen des Grotesken, denn sie vereint auch die älteren Forschungsansätze. Diese sind, trotz ihres Alters, sehr bereichernd und haben ihre Gültigkeit keinesfalls verloren. Die wichtigsten seien hier genannt.

Wolfgang Kayser[14] bezeichnet das Groteske als „entfremdete Welt“[15], an der „die Kategorien unserer Weltorientierung versagen“[16]. An dieser Stelle findet sich ganz klar der Bruch mit den Konventionen: Es sind die Konventionen der vertrauten Welt die aufgehoben sind. Allein Kayser nennt als Urheber das unbestimmte „Es“[17] – hier mangelt es seiner Theorie an Präzision. So liegt Kaysers Verdienst eher darin, den Grundstein der modernen Grotesk-Forschung gelegt zu haben. Seine Theorie ist nicht überholt, aber durch die folgenden Forschungen erheblich präzisiert und erweitert worden.

Michail Bachtins[18] Untersuchungen zum grotesken Körper etwa sind bis heute unverzichtbar. Demnach, so Bachtin, sei der groteske Leib nie abgeschlossen, sondern entwickele sich weiter. Dieser „werdende Leib“ sei charakterisiert durch das Hervorstechende und Offene, stelle also auch das Leibesinnere dar. Als die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes nennt Bachtin beispielsweise Essen, Trinken und ebenso Krankheit, Tod und Zerfetzung.[19] Auch hier verbirgt sich ein fundamentaler Konventionsbruch, denn ein solcher Körper ignoriert den sog. Leibeskanon der Neuzeit, den Bachtin ebenfalls beschreibt. In diesem ist der Körper fertig, abgeschlossen, abgegrenzt, unvermischt und ebenmäßig.[20]

Arnold Heidsieck[21] geht mit seiner Theorie in eine ganz andere Richtung, denn er sieht das Groteske als ein realistisches Gestaltungsprinzip. Das Groteske zeige hier die Entstellung der Wirklichkeit auf – eine vom Menschen selbst verübte Entstellung, die seinesgleichen lächerlich mache.[22] Hier lässt sich das Prinzip der Degradierung wieder erkennen. Und der Konventionsbruch liegt in der Verbindung von Grauen und Lächerlichkeit. Denn die ethische Perversion entstellt den Menschen und macht ihn lächerlich.

Für Carl Pietzcker[23] besteht das Groteske dagegen vor allem in einer radikalen Enttäuschung der Erwartungshaltung, etwa wenn ein als selbstverständlich geltender Sinn- bzw. Erwartungshorizont versagt.[24] Das Groteske hat hier die Struktur eines Bewusstseinsaktes[25] – das konfrontierte Individuum spielt also eine entscheidende Rolle. Nach Pietzcker ist es demnach immer eine Konstellation, die grotesk wirkt.[26] Aber auch hier bricht das Groteske mit einer Konvention, indem es die mentale Weltorientierung des Menschen angreift.

Eine angemessene Umschreibung des Grotesken kann nur in der Kombination der hier zusammen getragenen Ansätze erfolgen. Denn sie ergänzen sich und können bei der Bestimmung des Grotesken alle hilfreich sein.

2. Groteske Pointen

Die Geschichten im „Stimmenimitator“ weisen eine gewissen nähe zur Anekdote auf, weil sie oft eine Pointe haben. Jene Geschichte etwa, die der Textsammlung ihren Namen gab,[27] endet damit, dass der virtuose Künstler alle Stimmen imitieren kann – nur nicht seine eigene. Die Pointe findet sich hier am Ende und gibt der Geschichte im letzten Moment eine überraschende Wendung. Diese ist im konkreten Falle vergleichsweise harmloser Art, denn niemand kommt wirklich zu Schaden. Dies ist in Bernhards Textsammlung allerdings nur allzu selten der Fall. Die Pointe kann verschiedene Effekte erzeugen, beispielsweise einen komischen, tragischen oder grotesken. Je extremer die Pointe den Verlauf der Geschichte in Gegenteil verkehrt, desto grotesker kann sie potentiell werden. Ob eine Pointe einen komischen oder einen grotesken Effekt erzeugt, hängt wesentlich von zwei Faktoren ab: Wie stark ist die Enttäuschung der Erwartungshaltung und welche Kategorie wird dabei demontiert.[28]

2.1 Grausamkeiten

Fast alle Geschichten weisen eine katastrophale Wendung auf und enden mit der Liquidation der Helden.[29] Die Menschen morden einander, gehen in den Freitod oder kommen durch Unfälle oder Naturkatastrophen ums Leben. Ganze 5000 Tote zählt David Axmann[30] im „Stimmenimitator“ – eine verheerende Bilanz.

Besonders grausame Geschehnisse oder bestimmte Todesarten sind deshalb grotesk, weil sie den Menschen stark erniedrigen und seinen Körper entstellen. So ermordet ein Friseur in „Wissenschaftliche Zwecke“ einen adeligen Kunden, indem er ihm mit einem Rasiermesser den Kopf abschneidet[31]. Ein Panther ist dafür verantwortlich, dass sein Dompteur „vollkommen zerfleischt“[32] wird, Kühe werden von einem Zug „völlig zerstückelt“[33], ein Jugendlicher wird beim Sturz in die Tiefe „vollkommen zerschmettert“[34] und in einem Silo findet man „zwei völlig vermoderte menschliche Körper“[35] auf. Die Menschen und Tiere sterben nicht einfach, sondern erleben ihr Ende auf grausamste Weise. So werden die Protagonisten in einer Weise degradiert und körperlich entstellt, die fraglos groteske Züge annimmt. Dies ist nicht zuletzt auch deshalb der Fall, weil derartige Körperzerstörungen radikal dem von Bachtin beschriebenen Leibeskanon zuwider laufen.[36]

[...]


[1] Thomas Bernhard: Der Stimmenimitator, Frankfurt am Main 1978, 48.

[2] Peter Staengle: „Das könne er nicht.“, Zu Thomas Bernhards Der Stimmenimitator,

in: Elmar Locher (Hrsg.): Die kleinen Formen der Moderne, Insbruck, Wien, München 2001, 284.

[3] Zit. nach Schmidt-Dengler: Verschleierte Authentizität. Über Thomas Bernhards Der Stimmenimitator, in: Kurt Bartsch u. a. (Hrsg.): Thomas Bernhard, Königstein 1983, 125.

[4] Peter Staengle: „Das könne er nicht.“, 281f.

[5] Vgl. Ebd.

[6] Vgl. Petrasch, Ingrid: Die Konstitution von Wirklichkeit in der Prosa Thomas Bernhards. Sinnbildlichkeit und groteske Überzeichnung, Frankfurt am Main 1987, 329f. Und ebenso: Ebyl, Franz M.: Thomas Bernhards „Stimmenimitator“ als Resonanz eigener und fremder Rede, in: Wolfram Beyer unter Mitarbeit von Claude Porcell (Hrsg.): Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, Wien, Köln, Weimar 1995, 39.

[7] Anm. Wolfgang Kaisers Theorie etwa bleibt dem Ursprung zu sehr verhaftet, wie sein „Versuch einer Wesensbestimmung des Grotesken“ zeigt, Vgl. Wolfgang Kaiser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, 2. Auflage. Oldenburg 1961, 134f.

[8] Vgl. Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln, Weimar, Wien 2001.

[9] Vgl. Ebd., 152.

[10] Vgl. Ebd., 192f.

[11] Vgl. Ebd., 152.

[12] Vgl. Ebd.,137.

[13] Vgl. Wolfgang Jansen: Das Groteske in der deutschen Literatur der Spätaufklärung, Hamburg 1979, 87.

[14] Vgl. Kaiser: Das Groteske, 136.

[15] Ebd., 137.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Michail M Bachtin: Die groteske Gestalt des Leibes, in: Otto F. Best (Hrsg.): Das Groteske in der Dichtung, Darmstadt 1980, 195-202.

[19] Vgl. Ebd., 196f.

[20] Vgl. Ebd., 199-202.

[21] Arnold Heidsick: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. Stuttgart u.a. 1971.

[22] Ebd., 16f.

[23] Carl Pietzcker: Das Groteske, in: Otto F. Best (Hrsg.): Das Groteske in der Dichtung, Darmstadt 1980, S. 85-102.

[24] Vgl. Ebd., 87.

[25] Vgl. Ebd., 88.

[26] Vgl. Ebd.

[27] Vgl. Ebd., 9f.

[28] Vgl. Pietzcker: Das Groteske, 91f.

[29] Vgl. Schmidt-Dengler: Verschleierte Authentizität, 140.

[30] David Axmann: 5000 Tote, in: „Die Furche“ vom 27.10.1978. Zit. nach. Schmidt-Dengler: Verschleierte Authentizität, 127.

[31] Vgl. Bernhard: Der Stimmenimitator, 53.

[32] Ebd., 89.

[33] Ebd., 93.

[34] Ebd., 109.

[35] Ebd., 126.

[36] Vgl. Bachtin: Die groteske Gestalt des Leibes, 199.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Ein „pervers-politischer Widerspruch“ - Das Groteske in Thomas Bernhards „Stimmenimitator“
Hochschule
Universität Stuttgart  (Institut für Literaturwissenschaft / Abteilung für Neuere Deutsche Literatur)
Veranstaltung
Das Groteske
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
24
Katalognummer
V112627
ISBN (eBook)
9783640111091
ISBN (Buch)
9783640112869
Dateigröße
509 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Widerspruch“, Groteske, Thomas, Bernhards, Groteske
Arbeit zitieren
Lars Gewehr (Autor:in), 2006, Ein „pervers-politischer Widerspruch“ - Das Groteske in Thomas Bernhards „Stimmenimitator“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112627

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