Devianz als Chance! Institutionelle Kontexte im Kindes- und Jugendalter


Bachelorarbeit, 2021

84 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Darstellungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Devianz
2.1 Begriffsklärungen
2.1.1 Soziale Normen
2.1.2 Soziale Rolle
2.1.3 Das soziale System
2.1.4 Machtperspektiven
2.2 Anomietheorie nach Durkheim
2.3 Subkulturtheorie nach Cohen
2.4 Labeling Approach
2.5 Weitere Theorien

3. Institutionelle Kontexte im Kindes- und Jugendalter
3.1 Begriffsklärungen
3.1.1 Betreuung
3.1.2 Erziehung
3.1.3 Bildung
3.1.4 Sozialisation
3.2 Institution Kindertagesstätte
3.3 Institution Schule
3.4 Institutionelle Betrachtung der Hilfen zur Erziehung

4. Über die Klaviatur abweichenden Verhaltens
4.1 Das bewertete Kind
4.2 Ursachenforschung und Interventionen
4.2.1 Eine sozialpädagogisch- sozialisatorische Perspektive
4.2.2 Eine medizinische Perspektive
4.2.3 Eine soziologische Perspektive
4.2.4 Eine kriminologische Perspektive
4.3 Institutionelle Interventionen
4.3.1 Interventionen im vorschulischen Kontext
4.3.2 Interventionen im schulischen Kontext
4.3.3 Interventionen im Kontext Hilfen zur Erziehung
4.3.4 Wenn Devianz kriminell ist

5. The Outsiders
5.1 Die Autorin
5.2 Der Inhalt
5.3 Der Roman und seine Bedeutung für diese Arbeit
5.3.1 Ein soziologischer Blick auf die Kultur der Greasers
5.3.2 Greasers – eine sozialpädagogische Perspektive

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

ADHS Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung

Art. Artikel

bspw. beispielsweise

DAZ Deutsch als Zweitsprache

DSM Diagnosticans Statistical Manual of Mental Disorders

gem. gemäß

GG Grundgesetz

ggf. gegebenenfalls

ICD International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems

JGG Jugendgerichtsgesetz

KiTaG Kindertagesstättengesetz

PISA Programme for International Student Assessment

SchulG Schulgesetz

SDQ Strengths and Difficulties Questionaire

SGB Sozialgesetzbuch

SH Schleswig-Holstein

StGB Strafgesetzbuch

Darstellungsverzeichnis

Abbildung 1 Schematische Darstellung sekundärer Devianz

Abbildung 2 Klassifizierung von Unterrichtsstörungen nach Domke

Abbildung 3 Psychologisches Klassifizierungsmodell der fünf Eskalationsstufen

Abbildung 4 Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen

Abbildung 5 Alkoholintoxikation von Kindern und Jugendlichen

Abbildung 6 Dunkelfeldkriminalität Jugendliche

1. Einleitung

Stellen Sie sich vor, Sie unterrichteten als Lehrkraft an einer Grundschule. Stellen Sie sich weiter vor, in Ihren Klassen würde es, sobald Sie den Unterrichtsraum betreten, mucksmäuschen still. Die Schüler*innen1 würden Ihren Lernaufträgen umgehend Folge leisten und den Blick stets zu Boden richten. Niemand wagte es, zu flüstern oder gar zu kichern. Wäre das nicht unheimlich?

„Junge Menschen bilden die Hälfte der Weltbevölkerung. Sie sind die Zukunft eines jeden Landes“ (Presse- und Informationsamt der Bundesrepublik Deutschland 2020). Betrachten wir die einleitende Szenerie vor diesem Hintergrund, wirft sie die Frage auf, ob es Ziel einer Gesellschaft sein kann, eine Generation zur Konformität heranzuziehen. Unter Konformität wird die Tendenz einer Person verstanden, mit Regeln und Normen ihrer Bezugsgruppe übereinzustimmen. Es bedeutet einen Prozess zumindest äußerer Gleichschaltung. Denn Konformität kann sowohl internalisiert als auch aufgesetzt sein (vgl. Wirtz o.J.). Werden Normen internalisiert, bedeutet dies, dass diese akzeptiert und freiwillig umgesetzt werden. Erfolgt die Konformität nur aufgesetzt, steht die Person nicht freiwillig hinter den Normen, sondern versucht Maßregelungen oder Bestrafungen zu umgehen. Eine Erziehung zur Konformität sollte besonders vor der deutschen Geschichte des NS- Regimes, während der die Erziehung zur Konformität pervertiert wurde, sehr kritisch betrachtet werden. Friedrich Daniel Ernst Schleiermann folgend ist das oberste Ziel von Erziehung die Bestandssicherung der Gesellschaft und des Sozialstaatsprinzips im Sinne des Generationenvertrages (vgl. Winkler 2016: 42 f.). Im Zentrum dieses Vertrages steht die wirtschaftliche Solidarität zwischen den Generationen. Diese beinhaltet im Kontext der Altersvorsorge und in der Erwartung, dass die ihr nachfolgende Generation die gleiche Verantwortung übernimmt, die Verpflichtung der arbeitenden Generation zur Beitragszahlung (vgl. Winkler 2016: 42 f.). Erziehung hat demnach zum Ziel, das Zusammenleben unterschiedlicher Generationen wirtschaftlich zu sichern. Doch Erziehung geht über die wirtschaftliche Absicherung hinaus und zielt auch auf die Vermittlung bereits erlangter Wissenskomplexe ab. Ein deutsches Sprichwort sagt, man müsse das Rad nicht neu erfinden. Diesem Ausspruch zu folgen, bedeutete, Dinge nicht infrage zu stellen. Es ließe sich die herausfordernde Frage stellen, ob eine Erziehung, die auf Anerkennung epochal geltender Werte und Normen abzielt, im Grunde nicht auch einer Erziehung zur Konformität gleichkommt. Diese Konformität unterbände neue innovative Gedanken und wäre gleichbedeutend mit Entwicklungsstagnation. Innovation wird hier als (Er-)Neuerung eines Objekts oder einer sozialen Handlungsweise verstanden. Der Kultursoziologe Arnold Gehlen definiert den Menschen, im Vergleich zum Tier, als Mängelwesen. In seiner Betrachtung bezieht sich Gehlen auf die vergleichsweise mangelhafte Organ- und Instinktausstattung und die dadurch bedingte Bedrohung des Menschen in einer Existenz (vgl. Gudjons 2008: 176). Doch in der biologischen Unangepasstheit, und Unspezialisiertheit liegt gleichzeitig das Potenzial des Menschen. Der Mensch schafft sich eine „künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt, […], die eben die Kultursphäre ist“ (Gehlen 1961: 48). Die Fähigkeit des Menschen, sich seine Umwelt derart zu gestalten, dass er allerorts überleben kann, ist innovatives Handeln, Innovation scheint demnach im Menschen inhärent zu sein. Er vermag unter unwirtlichsten Bedingungen sein Überleben zu sichern. Diese Leistung des Überlebens trotz biologisch unspezialisierter Nische zeigt, dass anders sein, anders handeln und Weiterentwicklung im Sinne von Verbesserung der Lebensnische und der Lebensumstände ein Grundprinzip der menschlichen Natur ist. Die Freiheit, nicht konform zu handeln, erscheint vor dieser Betrachtungsweise als ein natürlicher Charakterzug des Menschen. Devianz, im Sinne von non-konformem, also abweichendem Verhalten, bildet den natürlichen Gegenspieler zur Konformität und scheint, den Ausführungen folgend, als natürliches Prinzip des Menschen.

Diese Arbeit greift genau diesen Gedanken auf und versucht zu verdeutlichen, dass sowohl deviantes als auch delinquentes Verhalten nicht automatisch negativ zu konnotieren ist. Vielmehr folgt sie dem Ansatz, in devianten Verhaltensformen Potenzial zur Weiterentwicklung oder zumindest zur Veränderung zu sehen. Sie legt dar, dass Devianz als sozial konzipiertes Konstrukt verstanden werden muss und bereits leicht abweichende Verhaltensweisen auf Störungen im sozialen Gefüge hindeuten. Der Abweichung läge demnach eine implizierte Handlungsaufforderung inne. Der besondere Fokus dieser Arbeit richtet sich auf institutionell geprägten Sozialsystemen, deren Besuch für Kinder im Rahmen ihrer Sozialisation prägend und teilweise unumgänglich ist. Die institutionelle Bewertungssystematik kindlicher Verhaltensweisen wird kritisch beleuchtet. Ziel ist es, eine veränderte Perspektive auf Devianz zu finden. Diese neue Sichtweise bedeutet dann eine Chance nicht nur für das einzelne Kind, sondern für das gesamte soziale System.

Hierfür werden verschieden verortete Theorien zur Entstehung devianter Verhaltensweisen aufgegriffen. Es werden sowohl makro- als auch mikrostrukturelle Ansätze beleuchtet. Zu diesen gehören im Besonderen neben der Anomietheorie Durkheims die Subkulturtheorie Cohens und das Ansatzkonvolut des Labeling Approach. Darüber hinaus wird die Wirkungsweise der Bindungs- und Kontrolltheorie nach Travis Hirschi sowie der lerntheoretische Ansatz Sutherlands angesprochen. Weiterführend werden die institutionellen Bildungs- und Erziehungsinstanzen Kindertagesstätte und Schule in ihrer organisationsstrukturellen Konzeption betrachtet und um den familienunterstützenden, optional auch familienergänzenden oder -ersetzenden staatlichen Komplex der Hilfen zur Erziehung erweitert. Auftrag und Funktionsweisen dieser Instanzen werden im Kontext von Machtstrukturen dargestellt und der Umgang mit jungen Menschen, deren Verhalten als abweichend eingestuft wird, beschrieben. Die statistisch belegte Zunahme von Verhaltensabweichungen wird zum Anlass genommen, die Ursachenzuschreibung näher zu beleuchten und die strukturellen Interventionen in ihrer Wirksamkeit zu hinterfragen. Am Beispiel des Jugendromans The Outsiders von S.E. Hinton werden die Wirkungsmechanismen der Devianztheorien im Ansatz abgeglichen und die sozialpädagogischen Wirkungsprinzipien verdeutlicht. Im Fazit wird kumuliert, warum eine gelassene Perspektive auf Devianz im Kindes- und Jugendalter angebracht ist und warum eine Auseinandersetzung mit Sozialisationsgrundsätzen, dem Faktor Macht und der Notwendigkeit einer multiprofessionellen Aufstellung der im Fokus dieser Arbeit stehenden Institutionen unumgänglich ist.

„Jeder Mensch, der in der Bildung dazu befähigt wird, das von der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Wissen gegen die Intention der Fremdverfügung und für die eigene emanzipative Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen, vollzieht in sich eine Revolution, eine Umwälzung herrschender Sichtweise“ (Bernhard 2018: 146).

Ziel dieser Arbeit ist, Devianz als Prozess des Hinterfragens zu begreifen. Devianz als Chance im Erziehungs- und Bildungsprozess zu sehen, bedeutet, die pejorative Betrachtungsweise zu verlassen, Machthierarchien zu ebnen und Kindern und Jugendlichen tatsächlich die Möglichkeit zu offerieren, zu einer eigenständigen Persönlichkeit heranzuwachsen.

2. Devianz

„Devianz bezeichnet in der Psychologie abweichendes Verhalten, also alle diejenigen Verhaltensweisen und Handlungen, die nicht mit sozial einflussreicheren Erwartungen (Regel, Normen und Werten) von Gruppen, Institutionen bzw. der Gesellschaft insgesamt übereinstimmen. Devianz ist daher ein Handeln von Menschen, das gegen gesellschaftliche Normen verstößt und von der Allgemeinheit mit negativen Sanktionen bedroht ist. Die Bezeichnung eines Verhaltens als deviant ist mit einem Werturteil, also mit gesellschaftlichen Prozessen der Normbildung und Subjektivierung verbunden.“ (Stangl o.J.)

In dieser Definition von Devianz sind mehrere Determinanten benannt: die handelnde Person, die anderen Personen, das Konstrukt der sozialen Normen und Erwartungen sowie drohende Sanktionen oder zumindest die Bewertung. Devianz entsteht somit in der Dynamik mehrerer Komponenten und steht in direkter Abhängigkeit zu den geltenden Normen und Werten der maßgebenden Bezugsgruppe. Was in der einen sozialen Gruppe als abweichend gilt, kann gesamtgesellschaftlich oder für eine andere Gruppe durchaus akzeptabel und/ oder anerkannt sein. Ebenso kann ein Handeln gesamtgesellschaftlich als deviant bewertet werden und gleichzeitig in einer sozialen Gruppierung gefordertes Gebot sein. Deviantes Verhalten stellt somit nicht immer einen Bruch gegen die geltenden Normen der Gesamtgesellschaft dar. Es kann auch gegen in gesellschaftliche Teilstrukturen geltende Erwartungen verstoßen. So gilt Körperverletzung gesamtgesellschaftlich als abweichendes Verhalten und stellt einen Straftatbestand dar (§ 223 StGB), im Kontext gewaltbereiter Gruppierungen ist gewalttätiges Agieren als Interaktionsmöglichkeit untereinander durchaus akzeptiert und wird gegen als feindlich eingestufte andere Gruppen sogar gefordert.

Unabhängig von der Größe der bewertenden Bezugsgruppe ruft abweichendes Verhalten, sobald es offenkundig geworden ist, eine soziale Reaktion hervor, die darauf abzielt, die deviant handelnde Person zu bestrafen, zu behandeln, zu isolieren oder zu verändern (in der Vorstellung der Bezugsgruppe: zu verbessern - an die geltende Norm anzupassen).

Abweichendes Verhalten kann überall gefunden werden. Wo es Regeln gibt, da gibt es auch Abweichungen von diesen Regeln. In ihrer Tragweite und Bedeutungsdichte unterscheiden sich die Abweichungen sehr. Sie können von schweren Gesetzesbrüchen, in diesem Fall wird von Delinquenz gesprochen, bis zu alltäglichen Kleinigkeiten, bspw. dem Versäumnis, seinen Nachbarn zu grüßen, reichen. Es lässt sich erkennen, dass Devianz ohne geltende Norm nicht existiert. Im Gegenzug wird durch die Verhaltensabweichung die Gültigkeit der Norm innerhalb der Bezugsgruppe gestärkt.

Die Motivation, abweichendes Verhalten zu zeigen, kann unterschiedlich sein. Im Folgenden werden verschiedene Theorien aufgegriffen, die sich dem Aspekt der Motivation aus unterschiedlichen Richtungen und auf unterschiedlichen Ebenen nähern. Im Vorwege werden einzelne Begriffe und Wirkungsmechanismen des sozialen Miteinanders dargelegt.

2.1 Begriffsklärungen

Das Zusammenleben von Menschen wird durch zwei Hauptregulatoren, der sozialen Norm und der sozialen Rolle, strukturiert. Der enge Zusammenhang von Devianz und geltenden Normen wurde bereits aufgegriffen und benannt. Etymologisch geht der Begriff der Norm auf das lateinische Wort norma zurück und bedeutet Regel, Richtschnur, Maßstab oder Vorschrift (vgl. Menge u. Pertsch 1984: 352). Der Begriff der Norm wird in unterschiedlichen Handlungsfeldern zur Festschreibung geltender Standards genutzt. Das 1917 gegründete Deutsche Institut für Normung e.V. definiert eine Norm als „ein Dokument, das Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen oder Verfahren festlegt“ (Deutsches Institut für Normung o.J.). Der Normierungsprozess versteht sich als fachwissenschaftlicher und multiperspektivischer Diskurs, an dessen Ende ein festgelegtes, normiertes, von allen Beteiligten anerkanntes Ergebnis steht.

2.1.1 Soziale Normen

Auch soziale Normen definieren konkrete Handlungsmodalitäten, welche das interaktionale, soziale Verhalten betreffen. Sie beschreiben, was übereinstimmend gedacht, gefühlt und erwartet wird. Normen können das Zwischenmenschliche erleichtern. Sie liefern ein ungeschriebenes Skript, wie sich der Einzelne verhalten sollte. Sie beinhalten Werte, Gebote und Verbote, in denen sich die mehrheitlich anerkannten Erwartungen der Gruppen- oder Gesellschaftsmitglieder widerspiegeln. Verletzungen dieser sozialen Normen rechtfertigen negative Sanktionen, die Befolgung der sozialen Normen zieht Belohnungen nach sich (vgl. Thomas 1991: 72). Über soziale Normen und deren Einhaltung kann ein friedliches Zusammenleben innerhalb des sozialen Systems auf Basis eines Grundsatzkonglomerats gewährleistet werden. Émile Durkheim benennt zwei grundlegende Charakteristika sozialer Normen. Zum einen werden sie als von außen kommend erlebt, sie sind nicht aus dem Individuum selbst entstanden; zum anderen üben diese Normen Druck und Zwang auf das Individuum und sein Verhalten aus, unabhängig davon, ob dieses die Norm anerkennt oder nicht (vgl. Thomas, 1991: S. 73). Gesetze sind formelle Normen des Zusammenlebens. Ihre Einhaltung gilt als obligatorisch, Gesetzesbruch wird katalogisiert unter Anwendung von Ermessen sanktioniert. Diese Sanktionen haben Anhaftungscharakter. Sie besiegeln die Wahrnehmung der betreffenden Person als gesellschaftliches Mängelexemplar. Eine gerichtliche Verurteilung bleibt in jemandes Vita unumstößlich verankert; eine Ausnahme bilden hier Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht. Informelle Normen sind weicher skizziert; der Bruch dieser wirkt für die betroffene Person weniger einschneidend und stigmatisierend. Außerdem hat diese Person selbst die Möglichkeit, sich dem betreffenden sozialen Kontext zu entziehen und kann sich selbstwirksam von der zugewiesenen Devianz befreien.

2.1.2 Soziale Rolle

Jeder Mensch inkorporiert mehrere Rollen, bspw. als Arbeitnehmer, als Familienmitglied, als Konsument. Mit bestimmten sozialen Rollen sind bestimmte soziale Positionen verbunden. Die soziale Position stellt den Status des Menschen im sozialen System zu einem bestimmten Zeitpunkt dar (vgl. Röhl 2013: 334). Sie ist unabhängig von der positionstragenden Person statisch im sozialen (Sub-) System verortet. Die soziale Rolle zielt hingegen auf die interaktionalen Komponenten ab. Sie ist der dynamisch auszugestaltende Teil der sozialen Position, wenngleich dieser möglichst den Erwartungen der anderen entsprechen möge (vgl. Thomas 1991: 80).

Ralf Gustav Dahrendorf kreiert in seinem Homo Sociologicus das Konstrukt der sozialen Rolle als personales Konvolut formaler und informeller Rollen, welche durch Sozialisation übernommen werden. Sie bilden das role-set. An jede der inkorporierten Rollen dieses Rollensatzes sind Verhaltenserwartungen geknüpft. Diese Erwartungen sind abhängig von der sozialen Position des Rolleninhabers und der Bezugsgruppe. Rollenattribute sind nach außen hin sichtbar (vgl. Röhl 2013: 336). Die einzelnen Rollen können konfliktuell zueinanderstehen, so dass das Individuum in einen Interrollenkonflikt, zwischen zwei Rollen, oder einen Intrarollenkonflikt, innerhalb einer Rolle, geraten kann. Nach Dahrendorf zieht ein Rollenfehlverhalten, in Abhängigkeit zur Schwere eben dieses, eine unterschiedlich gewichtete Sanktion nach sich. Sanktionen sichern die soziale Ordnung im sozialen System (vgl. Röhl 2013: 342-345).

Erving Goffman führt das soziale Rollenspiel ad perversum. Ihm folgend spielt der Rolleninhaber seine Rolle explizit für die anderen und hat zum Ziel, diese von deren Rollenattributen und -eigenschaften zu überzeugen. Hierfür ist Grundvoraussetzung, dass der Akteur selbst glaubt, dieser (Rollen-) Mensch zu sein (vgl. Goffman 2003: 19-21). Es erscheint vor diesem Theoriekonstrukt unmöglich, eine individuelle Persönlichkeit zu haben oder zu entwickeln. Auch Goffman benennt die Möglichkeit der widersprüchlichen Darstellung des Rollenschauspiels. Die idealtypische Rollenkohärenz kann bewusst oder unbewusst verwässert werden. Sie steht in Abhängigkeit zum Wechselspiel zwischen Akteur und Publikum und dessen Erwartungen. Die Homogenität zwischen Publikum und Akteur kann bereits von kleinen Unstimmigkeiten in der Gesamtkomposition gestört werden (vgl. Goffman 2003: 26 f.).

2.1.3 Das soziale System

Der soziologische Systembegriff geht auf Talcott Parsons zurück. Gemeinschaft wird als Gefüge menschlichen Verhaltens verstanden, dessen Teile in wechselseitiger Interdependenz zueinanderstehen. Dieses System bildet sich, Parsons folgend, indem die Menschen des Systems ihre Handlungen gemäß bestimmter Verhaltenserwartungen aufeinander ausrichten. Die Lenkbarkeit des Verhaltens durch Normen und Gesetze stellt eine zentrale Funktion für die Ausbildung als Gemeinschaft dar. Die systemstabilisierenden Strukturen sollten bekannt sein, damit die funktionalen und dysfunktionalen Handlungen erkannt werden können. Handlungen werden in dieser Theorie nicht isoliert betrachtet, sondern in ihrer Einflussmöglichkeit auf das strukturelle System. Für Parsons ist Leben in Gesellschaft identisch mit der Unterwerfung aller Mitglieder unter ein rational nicht begründbares und daher auch nicht kritisierbares Wertesystem, an dem sich jedes Verhalten messen lassen muss (vgl. Joas 1973: 33). Die Kontrolle ob der Einhaltung dieses Werte- und Normenkonstruktes erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen und findet seine Bestimmung in der sozialen Kontrolle. „Der Begriff Soziale Kontrolle umfasst im weitesten Sinne die Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, mit denen in einer Gesellschaft ein als abweichend definiertes Verhalten überprüft und sanktioniert wird“ (Reinke u. Schierz 2006: 300). Sie umfasst die Prozesse und Mechanismen, die von der Gesellschaft genutzt werden, um Normen durchzusetzen. „Richtiges“ Verhalten erhält eine positive Konnotation zugleich sind Verletzungen des Normgefüges negativ besetzt. Soziale Kontrolle erfolgt sowohl formell und staatlich institutionalisiert, bspw. im Polizeikontakt oder vor Gericht, als auch informell in jeder nichtstaatlichen Beziehung. Instanzen sozialer Kontrolle sind z.B. Kindertagesstätten, Schulen, Medien, Familie und Nachbarschaft (vgl. Reinke u. Schierz 2006: 301). Soziale Kontrolle ist untrennbar mit einem Verständnis von Machtstrukturen zu denken und zu erleben.

2.1.4 Machtperspektiven

Etymologisch lässt sich der Begriff Macht auf das gotische magan zurückführen und bedeutet machen, können, vermögen (vgl. Gerhardt 1996: 10 f.). Auch das indogermanische magh lässt sich heranziehen. Es bedeutet können, vermögen, fähig sein (vgl. Faber et al. 1982: 836). Macht ist ein Grundbegriff der Geistes- und Sozialwissenschaften, der sich trotz seiner langen Historie einer präzisen Begriffsbestimmung entzieht. Unstrittig ist, dass Macht gegen die Begriffe Herrschaft und Gewalt trennscharf abzugrenzen ist, obschon sie einvernehmlich und gemeinsam wirken können. Herrschaft ist als zugewiesene Macht zu verstehen, Gewalt als Machtmittel anzusehen (vgl. Anter 2017: 19f.). Im Folgenden werden verschiedene Ansätze zur Begriffsklärung herangezogen.

Niccolò Machiavellis Verständnis von Macht ist weniger moralisch denn funktional und taktisch geprägt. Herrschaft und Macht agieren nutzenorientiert und legitimieren jedwede Handlung, die den Herrschaftserhalt unterstützt; Gewalt als Regierungsparadigma wird bei ihm nicht ausgeschlossen. Macht versteht er als makrostrukturelles Mittel zur vertikalen Ordnung des Miteinanders, indem der Herrschende sich überordnet und andere unterordnet (vgl. Münkler 2017: 57 f.).

Thomas Hobbes definiert neben einer vertikalen auch eine horizontale Machtebene. Er geht von einem Naturzustand des Menschen aus, in dem dieser sich in einem permanenten Zustand potenzieller Bedrohung durch alle anderen befindet. Zur Überwindung dieses unsicheren Existenzzustandes wird das System des Staates als vertikal strukturiertes Machgefüge konstruiert. Es verspricht Sicherheit für den Einzelnen, sofern die Menge aller Einzelnen den Staat im Gegenzug als Souveränitätsmacht anerkennt (vgl. Hobbes 1984: 96-102.). Die horizontale Machtebene entsteht, Hobbes weiter folgend, durch den steten Konkurrenzkampf um Güter. Zu diesen Gütern zählt er auch Macht, deren Besitz als erstrebenswertes Gut und als Mittel zum Selbsterhalt verstanden wird (vgl. Chwaszcza 2001: 219). Hobbes unterstellt dem Menschen einen konstanten, inhärenten Machttrieb, der auf steten Zuwachs von Macht abzielt. „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tod endet“ (Hobbes 1984: 75). Für Hobbes werden Macht und Menschsein als Einheit gedacht.

Auf diesen Kontext zielt auch Max Weber mit seiner Definition ab. „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 1985: 28). Hier benennt Weber die für ihn zentralen Aspekte von Macht. Eigener Wille verweist auf das Durchsetzungsbestreben einer Person, Widerstreben beinhaltet die Unabhängigkeit derselben Person von der Zustimmung einer anderen Person. Wichtig ist, dass Widerstreben nicht zwingend integraler Bestandteil der Beziehung sein muss sondern als mögliche Reaktion verstanden werden soll. Chance zeichnet ein Feld der kontextbezogenen Möglichkeiten, soziale Beziehung verweist auf die Einbettung von Macht im Miteinander. Weber versteht Macht nicht als Besitzgut, sondern als handlungsbezogene, temporäre Asymmetrie in sozialen Beziehungen (vgl. Anter 2017: 58-67).

Auch Norbert Elias versteht Macht als konstitutives Element in jeder sozialen Beziehung und somit auch in der gesamtgesellschaftlichen Organisations- und Ordnungssystematik. Diesem Ansatz folgend entwickelt Elias seine Etablierten-Außenseiter-Figuration. Die flexible Machtbalancewaage in dieser Figuration stellt den Begriff des Machtmittels ins Zentrum sozialer Beziehungen. Das Bild der Waage implementiert die Veränderbarkeit der Machtstrukturen im sozialen Gefüge. Diese Veränderbarkeit unterliegt gesetzmäßig der Verteilung der Machtmittel und wird im Rahmen kleinerer und größerer Machtproben erwirkt. Machtmittel können materieller als auch immaterieller Art sein (vgl. Barlösius 2004: 57 f.). Auch Pierre Bourdieu verweist auf die Unterschiedlichkeit der Kapitale im Habitus jedes Einzelnen. Er unterscheidet ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital (Bourdieu 1987: 298-311).

Michel Foucault bleibt eine wissenschaftliche Theorie zu Macht schuldig. In seinen Analytiken zu Macht beschäftigt er sich mit Machtvariationen, in deren Fokus das Wie von Macht steht. Er betrachtet den Zusammenhang von Wissen und Subjektkonstitution und deren Einfluss auf die Triade Wissen-Macht-Subjekt und benennt unterschiedliche Machtarten. Für Foucault stellt Macht keinen Besitz dar, sondern liegt im Handeln begründet, Macht existiert nur in actu, auch wenn das (re-) aktionale Möglichkeitsfeld gestützt wird durch die dauerhaften sozialen Strukturen (vgl. Foucault 2005: 255). „Sie [Macht] ist auf Handeln gerichtetes Handeln“ (Foucault 2002: 286). Widerstand ist für ihn unmittelbar mit Macht verbunden und agiert nicht außerhalb von Machtverhältnissen. In sozialen Beziehungen bedeutet Machthandeln immer den Versuch der Verhaltensbeeinflussung. Macht ist für Foucault allgegenwärtig und wird im Netzwerk sozialer Beziehungen stetig erzeugt (vgl. Foucault 1983: 94).

Macht zeichnet sich, den hier skizzierten Gesamtansätzen folgend, als integrales und bestimmendes Element in jeder sozialen Beziehung ab. Sie ordnet über Anwendung oder Zuweisung von Machtmitteln soziales Miteinander über vertikale und horizontale Ebenen. Nicht zwingend geht sie mit Widerstand einher; Widerstand zeichnet konfrontative soziale Beziehungen aus. Macht muss daher stets im sozialen Zusammenhang betrachtet werden. Ihre Anwendung hat immer Auswirkungen auf das soziale Miteinander. Im Handlungskontext stehen sich Abhängigkeit und Überlegenheit gegenüber; Machtverhältnisse können somit als zweiseitiges Austauschverhältnis gesehen werden.

2.2 Anomietheorie nach Durkheim

„Anomie bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Mit dem Wort Anomie wird eine gesamtgesellschaftliche Situation beschrieben, in welcher herrschende Normen auf breiter Front ins Wanken geraten, bestehende Werte und Orientierungen an Verbindlichkeit verlieren, die Gruppenmoral eine starke Erschütterung erfährt und die soziale Kontrolle weitgehend unterminiert wird“ (Stangl o.J.).

Der Begriff der Anomie wurde von Émile Durkheim 1893 in seinem Werk „Über soziale Arbeitsteilung“ soziologisch eingeführt und verwandt, um die Fragen nach der Entstehung eines gesellschaftlichen Konsenses zum Zusammenleben einerseits und zur Erscheinung sozialer Desintegration andererseits zu beantworten (vgl. Seiser u. Mader o.J.). Sein Ansatz betrachtet Anomie makrostrukturell. Gesellschaftliche Arbeitsteilung definiert er als grundlegendes Organisationsprinzip, dessen Ausdifferenzierung die Funktionssystematik von Gesellschaft bedingt. Gesellschaftliche Arbeitsteilung per se sei gängige Praxis und in fast allen Gesellschaften anzutreffen, bspw. zwischen Jung und Alt oder zwischen den Geschlechtern. Sie sei aber nicht als naturgegeben zu verstehen. Besonders deutlich werde dies an der Teilung von Kopf- und Handarbeit oder von Handwerk und Landwirtschaft (vgl. Seiser u. Mader o.J.). Je geringer die gesellschaftliche Arbeitsteilung ausgestaltet ist, desto höher ist die Autarkie des Einzelnen. Die einzelnen Gesellschaftsmitglieder verbindet ihre relative arbeitsprozessuale Ähnlichkeit im Selbstversorgungsprozess. Jeder kann sich verhältnismäßig autark selbst versorgen; Abhängigkeiten voneinander sind gering ausgeprägt. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht, Durkheim folgend, auf Basis eines allgemein anerkannten Moralgebildes. Durkheim spricht hier von mechanischer Solidarität (vgl. Lamnek 2013: 111).

„Industriegesellschaften sind in besonderem Ausmaß von Spezialisierung und von der Verkettung und Vereinzelung unzähliger Arbeitsprozesse durchdrungen“ (Seiser u. Mader o.J.). Im Zuge der Industrialisierung waren Menschen vermehrt gezwungen, sich arbeitsprozessual weiter auszudifferenzieren. Arbeitsabläufe verloren ihre Komplexität, wachsende gesellschaftliche Arbeitsteilung ist das Ergebnis. Durch diese zunehmende Spezialisierung im gesellschaftlichen Arbeitsprozess ist gegenseitige Abhängigkeit konstitutiv. „Die Mitglieder differenzierter Gesellschaften sind […] verschiedenartig, […] wechselseitig aufeinander angewiesen, weil ihre […] Tätigkeiten […] Teil eines arbeitsteiligen Ganzen sind“ (Kreckel 1975 in Lamnek 2013: 112). Moderne Gesellschaft kann so als soziales System verstanden werden, dessen Einzelsysteme in wechselseitiger Abhängigkeit zueinanderstehen. Durkheim definiert diese Systematik als organische Solidarität (vgl. Lamnek 2013: 112). Zur Folge hat diese Ausdifferenzierung eine Betonung der einzelnen Elemente im Gesamtsystem. Dadurch minimiert sich das kollektive Zusammengehörigkeitsgefühl, da jedes Subsystem seine eigenen Regeln festlegt. Diese unterscheiden sich voneinander und schwächen die gesamtgesellschaftliche Solidarität und erschweren das soziale Miteinander. Der Differenzierungs- und Individualisierungsprozess, der in (post-) modernen Gesellschaften konstitutiv scheint, schwächt folgerichtig die gesamtgesellschaftlichen Normen und Regelungen. Nach Durkheim entsteht dadurch der Zustand der Anomie. Anomie ist demnach das Produkt der verstärkten, durch die Industrialisierung exponentiell und notwendigerweise begonnenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung (vgl. Lamnek 2013: 112). Der fehlende gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt, der durch gemeinsame Normen und Regeln getragen wird, führt zu zunehmender gesamtgesellschaftlicher Desintegration. Dies begründet Durkheim mit der Unbegrenztheit menschlicher Bedürfnisse. Diese erfahren nur durch äußere, moralische Macht eine Eingrenzung. Nur dann vermag der Mensch trotz seiner unbegrenzten Bedürfnisse im gesellschaftlich definierten Rahmen die geschaffenen Begrenzungen zu akzeptieren und eine durchschnittliche Zufriedenheit zu erlangen (vgl. Lamnek 2013: 113). „Nur die Gesellschaft […] vermag diese Rolle zu spielen. Denn sie ist die einzige dem Individuum überlegene moralische Macht, deren Überlegenheit es anerkennt“ (Durkheim 1966 in Lamnek 2013: 113).

Fällt die Gesellschaft als übergeordnete und begrenzende Macht in sozial instabilen Verhältnissen weg, bspw. in Krisensituationen oder im Kontext von Prosperität, fehlt eine allgemeine Sicherheit über die Inhalte der (noch) geltenden Normen. Das Kollektivbewusstsein wird geschwächt, von bisherigen Normen abweichendes Verhalten erprobt. Abweichendes Verhalten ist, Durkheims Theorie weiterfolgend, die natürliche Konsequenz aus instabilen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Je stärker das Kollektivbewusstsein ist, desto vehementer geht das Kollektiv gegen abweichendes Verhalten vor und stärkt gleichzeitig seine Normen und Werte (vgl. Durkheim 1895). „Je stärker ausgeprägt die Struktur ist, desto größeren Widerstand leistet sie jeder Änderung“ (Durkheim 1895). Durkheim geht in seinen Ausführungen sogar so weit, dass abweichendes Verhalten nicht durch die Instabilität der gesellschaftlichen Werte entsteht, sondern sich dessen Auftreten dadurch lediglich potenziert. Vorhanden sei Devianz immer und sei als natürlicher Gegenspieler der Normen und Werte zu verstehen, welcher durch seine bloße Existenz die Gültigkeit der bestehenden Normen festigt. Dies begründet er in der Unmöglichkeit einer allumfassenden, absoluten Uniformität des gesellschaftlichen Moralbewusstseins. Da jeder Mensch unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt, hier sind neben seiner Lebenslage auch seine physischen und psychischen Dispositionen zu benennen, ist auch das moralische Bewusstsein trotz einer gemeinsamen, gesellschaftlich akzeptierten Rahmung individuell different (vgl. Durkheim 1895). Im Bestreben, die eigenen Bedürfnisse zu befrieden, wählt der Mensch auch gesellschaftlich (aktuell) nicht anerkannte Wege und könnte als Vorreiter sich verändernder Werte verstanden werden. Devianz ist eine notwendige Erscheinung und hat für das soziale Miteinander einen Nutzen und eine Funktion. Dies gilt nach Durkheim nicht nur für geringwiegendes abweichendes Verhalten, sondern ebenso für delinquentes Handeln. „Er [der Delinquent] hält nicht bloß den notwendigen Änderungen den Weg offen, in manchen Fällen bereitet er auch die Änderungen direkt vor“ (Durkheim 1895). Soziale Normen und Devianz stehen sich, wie der Protagonist dem Antagonisten, untrennbar gegenüber. Beide beeinflussen den jeweils anderen.

2.3 Subkulturtheorie nach Cohen

Die Subkulturtheorie nach Cohen ist ein sozialkriminologischer Ansatz. Sein Ausgangspunkt ist die Jugendkriminalität in den Vereinigten Staaten von Amerika Mitte des 20. Jahrhunderts.

„Nach Cohen ist der Zusammenschluss von Jugendlichen zu Subkulturen das Resultat aus Anpassungs- und Statusproblemen ihrer Mitglieder, die durch die Ungleichheit der bestehenden Klassengesellschaft hervorgerufen werden“ (vgl. Cohen 1957).

Demnach strebt ein junger Mensch aus sozial schwächerem Milieu, Cohen spricht hier noch von Unter- und Mittelschicht, nach Anpassung an höhere Milieus. Schwierigkeiten ergeben sich an dieser Stelle daraus, dass dieser junge Mensch den Erwartungen und Zielen, denen er sich stellen muss, nicht gewachsen ist oder diese aufgrund seiner Sozialisation nicht erreichen kann. Er arbeitet sich an starren Gesellschaftsstrukturen ab und muss die vermeintliche Unzulänglichkeit seiner Fertig- und Fähigkeiten erkennen (vgl. Cohen 1957). Ihm wird sein eigener, niedriger Status und die damit verbundenen, schwindenden Erfolgschancen für ein erfolgreiches Bestehen in Beruf und gewünschter Sozietät, bewusst. Als Folge sinkt die Selbstachtung des jungen Menschen, Unzufriedenheit und Frustration ob der Individuallage nehmen zu. Die bisher als erstrebenswert angesehenen Normen und Werte der höher angesiedelten Milieus werden nun in polarisierter Weise abgelehnt (vgl. Lamnek 2013: 157 f.).

Trifft der junge Mensch auf Personen mit ähnlichen Anpassungsproblemen, kann es zwischen diesen Personen zu einem Zusammenschluss kommen, in dessen interaktionalem Miteinander neue gemeinsame Normen, Werte, Verhaltensweisen, Rollensysteme entstehen (vgl. Lamnek 2013: 159). Diese entstehenden, subkulturellen Werte- und Moralvorstellungen weichen stark von den gesamtgesellschaftlich anerkannten Normen ab. Den Mitgliedern dieser Subkultur verhelfen sie aber zu Prestige und Anerkennung. Die enorme Differenz zu gesamtgesellschaftlichen Normen lässt diese Subkultur als deviant, oftmals auch delinquent erscheinen. „Als alternatives Statussystem rechtfertigt die Subkultur jedoch Feindschaft und Aggression gegenüber Nicht-Mitgliedern, wodurch sonst möglicherweise entstehende Schuldgefühle beseitigt werden“ (vgl. Cohen 1957). Trotz der gesellschaftlichen Ablehnung, die die Mitglieder durch ihre Zugehörigkeit zur Subkultur erfahren, bleibt unstrittig, dass ihre „[…] praktizierten Anpassungsprozesse […] in vielerlei Hinsicht für die Mitglieder der Subkultur funktional […]“ sind (Lamnek 2013: 161).

Der beschriebene Prozess der Entstehung einer Subkultur aufgrund eines Anpassungsproblems an angestrebte Werte und Ziele bildet nach Cohen nur eine Lösungsform. Ihm folgend, stellt jedes Handeln das Ergebnis einer Bemühung dar, ein Anpassungsproblem zu lösen. Das durch das Anpassungsproblem entstandene Spannungsfeld kann auf unterschiedliche Weise ausgeglichen werden. Alternativ kann nach einer institutionalisierten Lösung, einem legitimierten Ausweg, gesucht werden. Da dieser Ausweg nicht zwangsläufig das Anpassungsproblem löst, sondern vielmehr nur eine Hoffnung zur Auflösung des Anpassungsdilemmas impliziert, wird hier eine gewisse Frustrationstoleranz vorausgesetzt (vgl. Lamnek 2013: 158). Eine weitere Lösungsmöglichkeit, die Cohen benennt, wäre ein bewusstes und aktives Abwenden von der angestrebten Bezugsgruppe. In der Regel bedeutet dies für den Betroffenen eine Absenkung seines normorientierten Anspruchsniveaus und die endgültige Akzeptanz und Stagnation seiner individuellen Lebensverhältnisse (vgl. Lamnek 2013: 159).

Auch wenn der Ausgangspunkt Cohens die Jugendkriminalität gewesen ist, hat er weitere delinquente Subkulturen betrachtet. Insgesamt hat er sechs Subkulturen beschrieben und ihre Funktionsweisen dargelegt (vgl. Lamnek 2013: 162-165). Ihnen gemein ist die Grundthese, dass gesamtgesellschaftlich ungleich verteilte sozialstrukturelle Bedingungen die Entwicklung von Subkulturen als Ausdruck sozialer Differenzierung und zur Überwindung des in der Ungleichheit begründeten Statusproblems fördern. In den Subkulturen werden zur Gesellschaftsnorm divergierende Normen festgelegt, die Erwartungen an das Verhalten der Mitglieder nach sich ziehen, welche wiederum von der Gesellschaft als abweichend begriffen, innerhalb der Subkultur jedoch als normal angesehen werden (vgl. Cohen 1957). Das Hervorbringen von Regeln und Normen in Peers ist ein natürlicher Prozess (Scherr 2013: 306). Für die Mitglieder der Subkultur ist diese gesellschaftliche Stigmatisierung funktional, bestätigt sie die innerkulturellen Werte und den Status als und innerhalb der Gruppe.

Subkultur und Gesellschaft bilden ebenfalls ein sich bedingendes Pärchen. Die interaktionale Dynamik zwischen beiden verstärkt und zementiert die jeweiligen Normen und Werte.

2.4 Labeling Approach

Unter der Bezeichnung Labeling Approach ist ein Erklärungsansatz für abweichendes Verhalten zu verstehen, der im Gegensatz zu den bereits skizzierten Theorien weniger Augenmerk auf die Ätiologie von Devianz legt. Vielmehr versucht er zu erschließen, welche makrostrukturellen Prozesse die Kriminalisierung bestimmter Handlungen forcieren und bedingen. Labeling Approach wird synonym zu Etikettierungsansatz, sozialer Reaktionsansatz oder Definitionsansatz verwandt. Den unterschiedlichen Ansätzen ist gemein, das Label „abweichenden Verhaltens“ als Ergebnis eines gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesses zu verstehen und nicht ursächlich im Handelnden selbst oder seiner Lebenswelt zu suchen (vgl. Lamnek 2013: 223 f.). „The young delinquent becomes bad, because he is defined as bad“ (Tannenbaum 1953 in Lamnek 2013: 225). Frank Tannenbaums Hypothese versteht deviantes Verhalten als Ergebnis, welches durch die Reaktion der Umwelt provoziert wird. Durch wiederholtes Bewerten und Definieren seines Verhaltens als abweichend, wird sich der Mensch seines anderen und besonderen Verhaltens erst bewusst, übernimmt nach und nach die ihm zugewiesene Etikettierung und inkorporiert diese als seine neue soziale Rolle des Abweichlers. Die Beurteilung des Gegenübers wird schlussendlich akzeptiert und das Selbstkonzept an diese angepasst (vgl. Lamnek 2013: 226). Auf Edwin M. Lemert geht die Unterscheidung der primären und sekundären Devianz zurück. Primäre Devianz entsteht, ihm folgend, aus einem Konvolut psychologischer und soziokultureller Faktoren. Sie ist gesellschaftlich zwar nicht erwünscht, hat aber (vorerst) keine Auswirkungen auf den Status oder das Selbstkonzept des deviant handelnden Menschen (vgl. Lemert 1975). Sekundäre Devianz entsteht nach Lemert durch die Reaktion der anderen auf die primäre Devianz. Diese gesellschaftliche Reaktion hat Stigmatisierungscharakter; die deviante Person wird etikettiert (gelabelt). Dieses Label steht im Widerspruch zum Selbstbild des Etikettierten. Um diesem intrapersonellen Konflikt zu entgehen, übernimmt die Person das zugewiesene Label und passt das zukünftige Verhalten dementsprechend an (vgl. Lemert 1975 u. Lamnek 2013: 228).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Schematische Darstellung sekundärer Devianz (nach Rüther 1975 in Lamnek 2016: 229).

Den Übergang von primärer zu sekundärer Devianz definiert Lemert als Aufschaukelungsprozess. „Auf primäre Devianz erfolgen Strafen, weitere Abweichungen, stärkere Strafen und Zurückweisung, schließlich weitere Abweichungen, optional. begleitet von feindseligen Gefühlen, (…), bis erste formale Sanktionen erfolgen, (…)“ (Lemert 1951 in Lamnek 2013: 228). Das abweichende Verhalten verfestigt sich aufgrund der steten Umweltreaktionen, im Besonderen der offiziellen Kontrollinstanzen. Howard Becker unterscheidet in seiner Theorie zwischen regelverletzendem und abweichendem Verhalten. Der flankierende Interaktionsprozess definiert, wie stark die Handlung als abweichend betrachtet wird. Dadurch werden nicht automatisch alle regelverletzenden Personen mit dem Stempel „Abweichler“ versehen. Diese Selektionsmacht bedeutet für die bewertete Person eine hilflose Position. Sie ist der Konstitution und Anwendung der geltenden und von der höhergestellten Person oder Gruppe interpretierten Normen ausgeliefert. Das Gefühl des Ausgeliefertseins zieht nach Becker die Konsequenz nach sich, dass sich der Handelnde dem Urteil beugt und die zugeschriebene Rolle des Abweichlers akzeptiert. Diesen Prozess nennt Becker Karriere oder Laufbahn (vgl. Lamnek 2013: 230-232). Erikson und Kitsuse weisen auf die Stigmatisierungsmacht der formellen, staatlichen Sanktionen im Gegensatz zu informellen Sanktionen hin. Diese formellen Sanktionen formen in besonderem Maße die weitere Lebensbahn der sanktionierten Person. Einer informellen Sanktion könnte sich die betreffende Person ggf. durch Wegzug oder Wechsel der Bezugsgruppe entziehen (vgl. Lamnek 2013: 234-236). Fritz Sack sei als letzter Vertreter im Sammelfeld der Labelingansätze benannt. Er fokussiert seine Theorie auf die sekundäre Devianz, im Besonderen auf die Definitionszuweisungen im Alltagserleben. Die richtungsweisende Machtzuweisung beschränkt er nicht vorrangig auf die formellen Instanzen; ihm folgend ist „[…] die Zuschreibung von intentionalen Eigenschaften und Vorgängen ein generelles Merkmal der interaktiven und kommunikativen Prozesse zwischen Menschen [...]“ (Sack 1972 in Lamnek 2013: 238). Jeder zwischenmenschlichen Interaktion liegt demnach ein Etikettierungsvorgang inne. Ziel müsste, der Hypothese Sacks folgend, eine Wertfreiheit im Kontext von Verhalten sein. Erst durch die Bewertung erfolgt die Etikettierung. Erst der Wegfall der Beurteilungsmechanismen verhindere sekundäre Devianz (vgl. Lamnek 2013: 237 f.).

2.5 Weitere Theorien

Die differenzielle Assoziation nach Sutherland:

Sutherland geht von einer allgemeinen Lerntheorie aus und definiert abweichendes Verhalten als erlerntes Verhalten. Er formuliert neun Thesen für die Entstehung von Delinquenz, deren zusammengefasster Inhalt folgendes umfasst: Delinquenz/ Devianz wird in Interaktion mit anderen Personen in einem kommunikativen Prozess erlernt. Kommunikation umfasst neben verbaler Kommunikation auch non- verbale, direkte oder indirekte Kommunikationsformen. Als Lernort definiert Sutherland Kleinstgruppen intimen, persönlichen Charakters (vgl. Lamnek 2013: 192-198). Erlernt werden kriminelle Verhaltensweisen und Techniken, die zur Ausführung derselben notwendig sind. Diese Techniken weisen unterschiedliche Schwierig- und Komplexitätsgrade auf. Die Motivation, sich deviant zu verhalten, wird sozialisatorisch erlernt und geht mit positiver oder negativer Konnotierung von Regeln und des Gesetzes allgemein einher. Diese konditionierten Einstellungen begünstigen (oder verhindern) die Anwendung der devianten Verhaltensweisen. Der beschriebene Lernprozess folgt und unterliegt den für alle Lernprozesse allgemeingültigen Mechanismen. Somit gilt für das betreffende Individuum auch die Möglichkeit des Umlernens, Reframings durch Handlungsinterventionen im Sinne einer konfrontativen Pädagogik. Sutherlands zentrale These lautet: „Eine Person wird dann straffällig, wenn Gesetzesverletzungen begünstigende Einstellungen gegenüber den Einstellungen, die Gesetzesverletzungen negativ bewerten, überwiegen“ (Sutherland 1947/1956 in Lüdemann/Ohlemacher, 2002, S.38). Hier lässt sich ein Mechanismus des Zusammenwirkens im Sinne der Subkulturtheorie erkennen.

[...]


1 In dieser Hausarbeit wird als stilisierter Eingriff in die Schriftsprache die Schreibweise mit Sternchen zur Verdeutlichung der Vielgeschlechtlichkeit verwandt. Die Verwendung des vorangestellten Artikels sowie die Kasusnutzung folgen dem Lesefluss.

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Devianz als Chance! Institutionelle Kontexte im Kindes- und Jugendalter
Hochschule
Fachhochschule Kiel
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
84
Katalognummer
V1127248
ISBN (eBook)
9783346487285
ISBN (Buch)
9783346487292
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Devianz
Arbeit zitieren
Esther Rödel (Autor:in), 2021, Devianz als Chance! Institutionelle Kontexte im Kindes- und Jugendalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1127248

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