Eine Analyse von Rahel Jaeggis alternativer Deutung der politischen Theorie Hannah Arendts

Wider die Dichotomisierung des Gesellschaftlichen und Politischen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2021

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Hannah Arendts Dichotomisierung des Politischen und Gesellschaftlichen
1.1 Typologie menschlicher Tätigkeiten in Vita activa
1.2 Die Konferenz The Work of Hannah Arendt
1.3 Rahel Jaeggis Theorie der Politisierung

2. Analyse und Kritik von Rahel Jaeggis Theorie der Politisierung

3. Hannah Arendts Darstellung der Rätebewegungen

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Einleitung

Hannah Arendt wurde zu ihren Lebzeiten als äußerst unkonventionelle Denkerin wahrge­nommen. Die Unmöglichkeit, ihr vieldeutiges Oeuvre einer der drei Hauptströmungen des politischen Denkens des 20. Jahrhunderts - dem Liberalismus, Konservatismus oder Sozia­lismus - eindeutig zuordnen zu können, musste in den ideologisch zugespitzten Zeiten des Kalten Krieges irritieren. Margaret Canovan prognostizierte daher bereits kurz nach Arendts Tod im Jahr 1975, dass sie aufgrund des unsystematischen und inkonsistenten Charakters ihres Werkes immer wieder für ganz unterschiedliche und miteinander konkur­rierende Theoriemodelle ideenpolitisch vereinnahmt werden könnte.1

Diese Prognose hat sich als richtig erwiesen. In den 1970er und 1980er Jahren waren es zu­nächst vor allem liberale und konservative Philosophen und Politikwissenschaftler, die in ihrer Rezeption die konstitutionalistischen und aristotelischen Elemente in Arendts politi­scher Theorie betonten. Für die politische Linke war Arendt hingegen2 aufgrund ihrer nach strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und sowjetischem Kommu­nismus suchenden Totalitarismustheorie kaum akzeptabel. Im Zuge des osteuropäischen Transformationsprozesses der Jahre 1989-1991 wurde Arendt dann von nicht wenigen Lin­ken sehr flink zur bedeutendsten politischen3 Theoretikerin des 20. Jahrhunderts stilisiert.2 Diese plötzliche Wendung wird in der Arendt-Forschung auf die grundsätzliche Orientie­rungslosigkeit der Linken nach dem Zusammenbruch des „real-existierenden Sozialismus“ zurückgeführt. Nachdem es in den 1970er- und 1980er Jahren in den Sozialwissenschaften zu einer Renaissance neo-marxistischer Theorien gekommen war, führte die Implosion des sowjetischen Imperiums in den 1990er Jahren auch unter linken Theoretikern zu einem vorübergehenden Abschied von der Kapitalismuskritik und einer Hinwendung zu demokra­tietheoretischen Fragestellungen. Mit Hilfe von Arendts Politikbegriff, in4 dessen Mittel­punkt die grundsätzliche Offenheit des gemeinsamen Handelns von Menschen steht, lösten sich Teile der Linken vom Geschichtsdeterminismus des traditionellen Marxismus. An die Stelle der marxistischen Großtheorie des gesellschaftlichen Fortschritts traten radikaldemo­kratische Demokratietheorien, die die Einrichtung der Gesellschaft als unendliche politi­sche Aufgabe und als unübersehbares Ensemble von Konfliktlinien begreifen, an denen im­mer wieder neue Entscheidungen zu treffen sind.56

Gegenstand der vorliegenden Seminararbeit soll die Analyse einer solch radikal-demokrati- schen Deutung Hannah Arendts durch die Philosophin Rahel Jaeggi sein. Jaeggi vertrat im Jahr 2008 die Auffassung, dass die Entstehung einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie - die Wiederkehr der sozialen Frage seit den 1990er Jahren - dazu geführt hat, dass die neue Emphase, die die Linke aus Arendts Theorie politischen Handelns schöpfte, nicht von langer Dauer war. Unter dem Stichwort der Globalisierung sei es zu einer massiven Zunah­me gesellschaftlicher Ungleichheit und damit zum Verblassen des Gleichheitsversprechens westlicher Demokratien gekommen. Stattdessen komme es mit Hilfe der Ideologie „ökono­mischer7 Sachzwänge“ zu einer immer stärkeren sozialen Exklusion breiter Bevölkerungs­schichten, weshalb sich radikale Demokratietheorien nach Auffassung von Jaeggi darum bemühen sollten „das Problem der Wiedergewinnung von Handlungsspielräumen [.] mit der Frage des sozialen Ausschlusses zu verknüpfen und zur politischen89 Frage zu machen.“4 Zur Analyse und Kritik dieses sozialen Exklusionsprozesses erscheint Arendts politische Theorie jedoch völlig ungeeignet, da diese stets für eine „Autonomie des Politischen“ plä­dierte, um die ökonomischen und sozialen Probleme der Gesellschaft aus der Öffentlich­keit fernzuhalten. Daher entwickelte Jaeggi unter Zuhilfenahme anderer Elemente des Arendtschen Denkens eine alternative Theorie der Politisierung sozio-ökonomischer Pro­bleme, die darauf zielt, Arendts Trennung des Politischen und Gesellschaftlichen zu verf­lüssigen, um ihre Anschlussfähigkeit für aktuelle gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen. 5 Arendts Plädoyer für eine Autonomie des Politischen beruht auf einer, in ihrem Hauptwerk Vita activa (1958) entworfenen, Typologie menschlicher1011 Tätigkeiten, in der allen menschli­chen Tätigkeiten - dem Handeln, Herstellen und Arbeiten - ein fester Ort in der Welt zuge­wiesen wird. Das Handeln zwischen Menschen findet laut Arendt im öffentlichen Raum statt. Dem gegenüber stehen das Herstellen und Arbeiten, die im gesellschaftlichen und pri­vaten Raum ausgeübt werden. Nur in der Öffentlichkeit kommt es nach Arendt zu Politik, da das Handeln zwischen Menschen unabhängig von der Natur erfolgen kann und daher über die bloße Organisation der täglichen Lebensnotwendigkeit hinausgeht. Das Herstellen und Arbeiten und die aus diesen Tätigkeiten resultierenden ökonomischen und sozialen Probleme dienen dagegen lediglich dem Erhalt des Lebens und sollten daher im Bereich des Privaten verbleiben. Darüber, welche Tätigkeiten von genuin politischer Natur sind und welche wiederum im Privaten unter Ausschluss der Öffentlichkeit verbleiben sollten, bestand laut Arendt in der Vergangenheit eine Übereinkunft, die „weder willkürlich noch lediglich historischen Umständen geschuldet ist, sondern in der Natur der Sache selbst liegt.“1213

Es ist dieser Verweis auf eine wie auch immer definierte „Naturordnung“ menschlicher Tä­tigkeiten, die Arendts Kritiker erzürnte. Arendt, so der zentrale Einwand, betreibe durch ihre Unterscheidung einen ontologischen Essentialismus, der Fragen sozialer Gerechtigkeit aus dem politischen Handlungsbereich ausschließe. Durch ihr am Ideal der griechischen Polis ausgerichtetes Plädoyer für die Autonomie des14 Politischen entkopple sie die Inan­spruchnahme politischer Teilhaberechte von seinen sozialen und ökonomischen Vorausset zungen.15

Rahel Jaeggi vertritt in ihrem Essay dagegen die Auffassung, dass Arendts Ausschluss öko­nomischer und sozialer Probleme aus dem Bereich des Politischen weniger zwingend ist, als in der Arendt-Forschung häufig behauptet wird. Eine alternative Deutungsmöglichkeit ergibt sich für Jaeggi aus einer kurzen Bemerkung Arendts in ihrem Werk Über die Revo­lution (1965), in der sie Karl Marx bescheinigt, dass seine Ausbeutungstheorie Armut erst­mals nicht mehr als unentrinnbares Resultat eines quasinatürlichen Mangels, sondern als politisches Phänomen entlarvt habe. In dieser Bemerkung Arendts über Marx deutet sich laut Jaeggi an, „dass Arendt das Soziale durchaus als eine politisierbare Sphäre gedacht hat.“8 Jaeggi unternimmt anhand dieser Deutung den Versuch, eine Theorie der Politisie­rung sozialer Fragen zu entwickeln, „den historischen Möglichkeiten politischen Handelns als der Tätigkeit gemeinsamer Selbstregierung und der freien Gestaltung der gemeinsamen Lebensbedingungen fragt.“9 Sie versucht, mit anderen Worten, das Arendtschen Denkens anschlussfähig für das politische Handeln sozialer Bewegungen zu machen.

Jaeggi behauptet, dass Arendt nicht grundsätzlich versucht habe „Fragen des Haushalts, der Reproduktion oder, allgemeiner, der Ökonomie“ aus dem Bereich des Politischen auszu­schließen. Vielmehr insistiere sie darauf, politische von nicht- oder vorpolitischen Weisen der Behandlung von Fragen des gemeinsamen Lebens zu unterscheiden. Für die mögliche Politisierung sozio-ökonomischer Probleme durch soziale Bewegungen könne daher fest­gehalten werden, dass Probleme der sozialen Not für Arendt zwar nicht per se politisch sind, aber unter zwei Voraussetzungen politisiert werden können: Die soziale Not muss ers­tens als von Menschen gemacht dechiffriert werden können und es muss zweitens ein An­spruch auf Verallgemeinerung des erfahrenen sozialen Unrechts im Spiel sein, der über die Durchsetzung eigener sozio-ökonomischer Interessen hinausgeht.1617

In der vorliegenden Seminararbeit wird dagegen die These vertreten, dass die von Jaeggi beschriebene Möglichkeit einer Politisierung18 sozialer Fragen bei Arendt nicht angelegt ist. Stattdessen weist die Sphärentrennung des Politischen und Gesellschaftlichen genau jenen essentialistischen Charakter auf, der in der Arendt-Forschung bereits so häufig kritisiert wurde. Arendts klammert in ihrer Theorie - wie im dritten Kapitel der Arbeit gezeigt wird - die ökonomischen und sozialen Probleme gesellschaftlicher Gruppierungen und damit die Bedingtheiten praktischer Politik bewusst aus. Zur Analyse und Kritik der von Jaeggi als Folge wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit beschriebenen sozialen Exklusion seit den 1990er Jahren ist Arendts Theorie daher nicht geeignet.19

Zur Darlegung der vorgestellten These20 erfolgt im ersten Kapitel zunächst eine kursorische Darstellung der von Arendt vertretenen Sphärentrennung des Politischen und Gesellschaft­lichen. Anschließend sollen Hannah Arendts Aussagen zu ihrer umstrittenen Unterschei­dung auf der 1972 in Toronto stattgefundenen wissenschaftlichen Konferenz The Work of Hannah Arendt analysiert werden. Es wird dargestellt, wie Arendts widersprüchliche Ver­suche, ihre Unterscheidung an aktuellen Beispielen zu erklären, zu einer großen Unklarheit unter den Konferenzteilnehmern führte und eine jahrzehntelange Forschungsdiskussion nach sich zogen. Rahel Jaggis Theorie der Politisierung, die zum Abschluss des Kapitels vorgestellt wird, stellt hierbei nur den vorerst letzten Versuch dar, ein theoretisches Ver­ständnis der Arendtschen Unterscheidung herzustellen.2122

Gegenstand des zweiten Kapitels ist eine kritische Überprüfung der von Jaeggi vertretenen These einer angeblichen Bewunderung Hannah Arendts für die Marxsche Ausbeutungsthe­orie und die dadurch erfolgte „Transformation der sozialen Frage in einen politischen Fak­tor“. Diese These hält der durchgeführten Überprüfung in diesem Kapitel nicht stand. Viel­mehr zeigt sich, dass Arendt die Marxsche Theorie aufgrund der Politisierung der sozialen Frage ablehnt. Sie plädierte stattdessen für eine „technische Lösung“ der sozialen Frage.23

Im abschließenden dritten Kapitel wird dargestellt, wie Hannah Arendt in ihrem Werk Über die Revolution (1963) die sozialistische Gesinnung und die sozio-ökonomischen In­teressen der Arbeiter- und Soldatenräte in der Russischen (1905/17), Deutschen (1919) und Ungarischen Revolution (1956) bewusst verschleierte, um das Rätesystem in ihre Dichoto- misierung des Politischen und Sozialen einpassen zu können.24

1. Hannah Arendts Dichotomisierung des Politischen und Ge­sellschaftlichen

Im Mittelpunkt des folgenden ersten Kapitels steht die langanhaltende Forschungskontro­verse um Hannah Arendts umstrittene Unterscheidung des Politischen und Gesellschaftli­chen. Hierzu wird ihre Unterscheidung zunächst kursorisch25 vorgestellt. Im Anschluss daran werden Hannah Arendts Aussage zu ihrer Unterscheidung im Rahmen der 1972 stattfin­denden wissenschaftlichen Konferenz The Work of Hannah Arendt analysiert. Zum Ab­schluss des Kapitels wird dann Rahel Jaeggis Theorie der Politisierung präsentiert und in den Kontext der bisherigen Forschung eingeordnet.26

1.1 Typologie menschlicher Tätigkeiten in Vita activa

Hannah Arendts Trennung einer politischen und gesellschaftlichen Sphäre beruht auf einer phänomenologischen Typologie menschlicher Tätigkeiten, die sie in ihrem Hauptwerk Vita activa (1958) entworfen hatte. Das Handeln, Herstellen und Arbeiten sind nach Arendt die drei Grundtätigkeiten des Menschen, „weil jede von ihnen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.“: Das Handeln entspricht der Pluralität und Verschiedenheit der Menschen, das Herstel­len der Weltlichkeit als Sphäre menschlicher Existenz und das Arbeiten der Notwendigkeit des Lebens.11 Ausgangspunkt der Arendtschen Überlegungen zu den Formen menschlicher Tätigkeiten ist die Unterscheidung von Privatsphäre und Öffentlichkeit in der griechischen Polis, da das griechische Denken diese, seinem politischen Bewusstsein zugrunde liegende Unterscheidung, „mit unvergleichlicher Klarheit und Präzision“ zum27 Ausdruck gebracht habe: Allen lediglich der Notwendigkeit des Lebensprozesses dienenden Tätigkeiten - das Herstellen und Arbeiten - war es laut Arendt nicht gestattet, im öffentlichen Raum zu er­scheinen. Dieser Raum sei der bedeutendsten menschlichen Tätigkeit - dem Handeln - vorbehalten geblieben. Die Höherwertigkeit des Handeln ergebe sich daraus, dass es sich „ohne Vermittlung [.] direkt zwischen den Menschen“ abspielt und daher auf die Fähig­keit des Menschen zur Kommunikation mit seinen Mitmenschen angewiesen ist. Als sol­ches ist es die einzige menschliche Tätigkeit, die von der Natur unabhängig ist.12 Arendt bringt diese Unabhängigkeit von der Natur auf die Formel des „Gut-Lebens“ in der Polis, gegenüber dem „einfachen Leben“ im privaten Haushalt:

„Ohne der Lebensnotwendigkeit im Haushalt Herr geworden zu sein, ist weder Leben noch „Gut-Leben“ möglich, aber Politik existiert niemals einfach um des Lebens wil­len. Was die Bewohner der Polis betrifft, so existiert für sie das Leben innerhalb des Haushaltsbereiches lediglich um des „Gut-Lebens“ in der Polis willen.“

Die Befreiung von den „Lasten des biologischen Lebensprozesses“ ist für Arendt also eine Vorbedingung zur Entstehung eines öffentlichen Raums, in dem eine grundsätzliche Gleichheit herrschen kann. Nur unter der Voraussetzung der Gleichheit zwischen den in der Öffentlichkeit stehenden Menschen, könne eine Gemeinschaft freier Bürger entstehen, die sich selbst regieren kann:

„Der Sinn des Politischen, aber nicht sein Zweck, ist, daß Menschen in Freiheit, jen­seits von Gewalt, Zwang und Herrschaft, miteinander verkehren, Gleich mit Gleich, die nur in Not-, nämlich in Kriegszeiten, einander befehlen und gehorchen, sonst aber alle Angelegenheiten durch das Miteinander-reden und das gegenseitige Sich-überzeu- gen regeln.“28

Dieser Sinn des Politischen veränderte sich nach Auffassung Arendts infolge einer struktu­rellen Verschiebung der menschlichen Tätigkeiten, die auf die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zurückzuführen sei. Gesellschaft definiert sie als „Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die ledig­lich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen«.15 Es findet also eine grundsätzliche Aufwertung der lebenserhaltenden Tätigkeiten des Herstellens und Arbei­tens statt. Die Aufwertung dieser Tätigkeiten habe zu einer Vergrößerung der gesellschaftli­chen Sphäre geführt, die nun die einst zentrale Rolle der Politik einnimmt, indem partiku­lare Interessen und soziale Probleme in den politischen Raum vordringen und die „eigentli­chen Fragen“ demokratisch-politischer Ordnung verdrängen. Damit einher gehe eine Über­tragung des Prinzips des Herstellens auf den politischen Raum. Genuin politische Proble­me würden daher in der Neuzeit auf die gleiche Weise gelöst, wie das Herstellen von menschlichen Gebrauchsgegenständen, das „wesentlich von der Zweck-Mittel-Kategorie bestimmt ist.“16 Unter der Zweck-Mittel-Kategorie versteht Arendt den grundsätzlich ge­waltsamen Charakter des Herstellens: „Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er die Natur zerstört“.17 Dieses dem Herstellen inhärente individuelle Zwecksetzungsprinzip habe sich in der Neu­zeit der Öffentlichkeit bemächtigt:29

„Wollte man das Entstehen der Gesellschaft historisch datieren, so müßt man sich auf den Augenblick einigen, in dem der Privatbesitz aufhörte, ein privates Anliegen zu sein, und anfängt, eine öffentliche Angelegenheit zu werden. Die Gesellschaft erschien in der Sphäre der Öffentlichkeit erst einmal in Gestalt von Besitzern, die aber30 nun nicht auf Grund ihres Reichtums die ihnen zukommende Stimme in öffentlichen Ange­legenheiten verlangten, sondern im Gegenteil sich zusammengefunden hatten, um zum Zwecke der Erwerbung von mehr Reichtum den Anspruch zu erheben, aller Verant­wortlichkeiten öffentlich-politischer Natur enthoben zu werden.“3132

Das Ziel aller Politik sei es seither gewesen, dass das Besitzinteresse der herrschenden Klasse gewahrt werde.19 Diese „utilitaristische Ideologie“ habe dazu geführt, dass Freiheit in der Neuzeit nicht mehr als „öffentliches Glück“ des gemeinsamen Handelns von Men­schen, sondern als Schutz vor politischem Zwang wahrgenommen werde. Die „natürliche Ordnung“ der menschlichen Tätigkeiten, wie sie in der griechischen Polis vorherrschte, ist für Arendt daher aus den Fugen geraten, weil die höchste der menschliche Tätigkeiten, das Handeln, in der Moderne mehr und mehr verkümmert.33

1.2 Die Konferenz The Work of Hannah Arendt

Hannah Arendt wurde bereits in zahlreichen Rezensionen zur Vita activa dafür kritisiert, dass sie ihre eben dargestellte These einer „Ortsgebundenheit“ aller menschlichen Tätig­keiten kaum an konkreten Beispielen erläuterte.21 Im Rahmen der 1972 in Toronto veran­stalteten Konferenz The Work of Hannah Arendt nahm die Diskussion um Arendts Unter­scheidung daher viel Raum ein.22 Es war Arendts enge Freundin Mary McCarthy, die sie mit folgender Frage konfrontierte:

„Was eigentlich soll jemand auf der öffentlichen Bühne, im öffentlichen Raum noch tun, wenn er sich nicht mit dem Sozialen befasst? Soll heißen: Was bleibt da noch? Wenn [...] alle Fragen der Wirtschaft, der menschlichen Wohlfahrt [...] was immer die soziale Sphäre berührt, von der politischen Bühne ausgeschlossen sind, dann wird es für mich mysteriös. Es bleiben nur noch die Kriege und die Rede übrig. Aber selbst die Reden können nicht einfach Reden sein. Sie müssen Reden über etwas sein.“34

Arendts Antwort auf diese Frage ist bemerkenswert:

„Sie haben vollkommen recht, und ich möchte zugeben, dass ich mir diese Frage selbst stelle. [...] Das Leben ändert sich dauernd, und dauernd sind Dinge da, die dazu auffordern, daß über sie gesprochen wird. Zu allen Zeiten werden Menschen, die mit­einander leben, Angelegenheiten haben, die in den Bereich der Öffentlichkeit gehören - die es wert sind, in der Öffentlichkeit beredet zu werden. Was das im jeweiligen Au­genblick für Sachen sind, ist wahrscheinlich äußerst verschieden.“35

Diese Aussage eines beständigen Wandels der Gegenstandsbereiche des Politischen und Gesellschaftlichen steht in direktem Widerspruch zu Arendts Postulat einer vermeintlichen Naturordnung menschlicher Tätigkeiten in Vita activa:

"Es zeigt sich mit anderen Worten, daß die uns historisch überlieferten Übereinkom - men politischer Gemeinschaften über den Ort bestimmter Tätigkeiten und darüber, welche es verdienen, öffentlich zur Schau gestellt zu werden, und welche der Verbor­genheit in einem privaten Bereich bedürfen, weder willkürlich noch lediglich histori­schen Umständen geschuldet sind, sondern in der Natur der Sachen selbst liegen."

Im weiteren Verlauf der Diskussion verschärfte Richard Bernstein26 den Ton und fragte Arendt, ob sie wirklich annehme, „das Soziale vom Politischen heute widerspruchsfrei los­lösen und trennen zu können.“27 Arendt bejahte dies:

„Ich denke, das geht. Es gibt Dinge, bei denen man die richtigen Maßnahmen errech­nen kann. Diese Dinge können wirklich verwaltungsmäßig erledigt werden und sind damit dann nicht mehr Gegenstand öffentlicher Debatte. Die öffentliche Debatte kann nur Dinge behandeln, die wir - wenn wir es negativ formulieren wollen - nicht mit Si­cherheit errechnen können.“

Albrecht Wellmer29 forderte Arendt dazu auf, konkret zu werden und „ein Beispiel für ein soziales Problem unserer Zeit zu nennen, welches nicht gleichzeitig ein politisches Pro­blem ist“.30 Arendt entschied sich für den Wohnungsbau:

„Das soziale Problem besteht zweifellos in angemessenen Wohnmöglichkeiten. Aber die Frage, ob solch angemessener Wohnungsbau im Zeichen der Integration stehen sollen oder nicht, ist mit Sicherheit eine politische Frage. Jede solche Frage hat zwei Gesichter. [.] Das politische Problem ist, dass diese Menschen ihr Viertel lieben und nicht wegziehen wollen, selbst wenn Sie ihnen anderswo ein zusätzliches Badezimmer geben. Das ist in der Tat eine ganz und gar strittige Frage [.]. Aber wenn es darum geht, wie viele Quadratmeter jedes menschliche Wesen braucht, um atmen und ein an­ständiges Leben leben zu können, so ist das etwas, was man wirklich errechnen kann.“

Auch Arendts Ausführungen zum Wohnungsbau stehen in einem direkten Widerspruch zu einer Position, die sie in ihrem Essay Little Rock (1957) bezogen hatte. Angesichts der durch Bundestruppen gegen den Widerstand des Gouverneurs und weißer Demonstranten erzwungen Zulassungen von neun schwarzen Schülern an einer rein weißen High School in Little Rock, Arkansas, hatte Arendt vehement gefordert, das Thema integrierter Schulen nicht zum Thema staatlich-politischer Entscheidungen zu machen.32 Warum es sich nun beim integrierten Wohnungsbau um eine politische und bei integrierten Schulen um eine nicht-politische Angelegenheit handeln soll, erschließt sich nicht. Ebenso offen bleibt, wie Richard Bernstein in einer retrospektiven Analyse der Konferenz feststellt, was eigentlich unter „angemessenem Wohnungsraum“ zu verstehen ist und wer darüber entscheidet:

„This [adequate housing] is not an issue to be resolved by the philosopher or the poli­tical theorist, but rather by the participants in a political community. When Arendts adds 'There shouldn't be any debate about the question that everybody should habe de­cent housing' she trivializes and clouds the entire issue. [...] This is not the locus of any real and serious conflict. Only when we come down to concrete details of what is decent housing, how it is to be financed, how this is to affect the 'allocation of re­sources', how this relates to 'property rights', do we face genuine issues of social and political conflict.“

An diesem Beispiel macht Bernstein deutlich, dass die säuberliche Teilung von sozialen und politischen Fragen in modernen Gesellschaften eben nicht so trennscharf erfolgen kann, wie Arendt anzunehmen scheint:

„Issues or problems do not simply come labeled „social“ „political“ or even „private“. Indeed the question whether a problem is itself properly social (and therefore not wor­thy of public debate) or political is itself frequently the central political issue.“

[...]


1 Vgl. Canovan (1978): The Contradictions of Arendts Political Thought, S. 6.

2 Vgl. Straßenberger (2015): Zur Einführung, S. 162-164.

3 Vgl. Flügel (2004): Die Rückkehr des Politischen, S. 10-11.

4 Vgl. Jaeggi (2007): Arendts Theorie der Politisierung, S. 249.

5 Ebd. S. 242.

6 Arendt (2013): Vita activa, S. 75.

7 Vgl. Benhabib (1996): The Reluctant Modernism of Arendt, S. 158.

8 Jaeggi (2007): Arendts Theorie der Politisierung, S. 246.

9 Ebd. S. 242.

10 Jaeggi (2007): Arendts Theorie der Politisierung, S. 246-247.

11 Arendt (2013): Vita activa, S. 9.

12 Ebd. S. 15.

13 Ebd. S. 47.

14 Ebd. S. 45

15 Ebd. S. 52.

16 Ebd. S. 171

17 Ebd. S. 181-182.

18 Ebd. S. 81-82.

19 Vgl. Ebd.

20 Vgl. Ebd. S. 83-84.

21 Vgl. auch: Gehlen (1961): Vom tätigen Leben (Hannha Arendt), S. 485, Kuhn (1960): The Human Condi­tion, S. 127.

22 Auf der Konferenz waren vor allem mit Arendt befreundete Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalis­ten zu Gast. Trotz des freundschaftlichen Verhältnisses, das Arendt mit vielen Teilnehmern unterhielt, wurden viele ihrer theoretischen Annahmen sehr deutlich kritisiert.

23 Arendt (1998): Ich will verstehen, S. 87.

24 Ebd. S. 88.

25 Arendt (2013): Vita activa, S. 75

26 Richard Bernstein galt als Zögling Hannah Arendts. Sie setzte sich für Bernsteins Ernennung als Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York ein, an der sie seit 1964 lehrte.

27 Arendt (1998): Ich will verstehen, S. 88.

28 Ebd. S. 88.

29 Der deutsche Philosoph und Soziologe Albrecht Wellmer war zum Zeitpunkt der Konferenz Associate Professor an der New School for Social Research (1972-75).

30 Ebd. S. 89.

31 Ebd. S. 90.

32 Vgl. Arendt (2000): Little Rock, S. 276-277.

33 Bernstein (1986): Rethinking the Social and the Political, S. 253.

34 Ebd. S. 252.

35 Ebd. S. 253. Im englischen Original schreibt Bernstein: Now it strikes me that Arendt's responses to this line of questioning are evasive and feeble - what is worse, they tend to fuscate the issues.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Eine Analyse von Rahel Jaeggis alternativer Deutung der politischen Theorie Hannah Arendts
Untertitel
Wider die Dichotomisierung des Gesellschaftlichen und Politischen
Hochschule
Universität Konstanz
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
30
Katalognummer
V1128008
ISBN (eBook)
9783346473318
ISBN (Buch)
9783346473325
Sprache
Deutsch
Schlagworte
eine, analyse, rahel, jaeggis, deutung, theorie, hannah, arendts, wider, dichotomisierung, gesellschaftlichen, politischen
Arbeit zitieren
Marc Konstanzer (Autor:in), 2021, Eine Analyse von Rahel Jaeggis alternativer Deutung der politischen Theorie Hannah Arendts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1128008

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