Der chinesische Arbeitsmarkt - Konzepte und Maßnahmen zur Integration von „Landflüchtigen“ in städtische Arbeitsmärkte


Masterarbeit, 2007

86 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Motivation
1.2 Vorgehensweise und Methodik
1.3 Begriffserklärung

2 Theoriediskussion
2.1 Migration in dualen Ökonomien
2.1.1 Das Modell von Lewis (1954)
2.1.2 Das Fei-Ranis Modell (1961)
2.2 Migration in Todaro Modellen
2.2.1 Die Modelle von Todaro (1969) und Harris-Todaro (1970)
2.2.2 Das Modell von Fields (1974)
2.3 Neue Migrationsökonomie

3 Migration in China
3.1 Entwicklung der Migration in der Reformphase
3.1.1 Gründe für Migration
3.1.2 Die wichtigsten Sender- und Empfängerregionen
3.2 Migration aus der Perspektive der Senderregionen
3.2.1 Wer migriert und warum?
3.2.2 Auswirkungen der Migration auf die Senderregionen
3.3 Migration aus der Perspektive der Empfängerregionen
3.3.1 Migranten und der städtische Arbeitsmarkt
3.3.2 Auswirkungen der Migration auf die Empfängerregionen

4 Politische Konzepte und Maßnahmen
4.1 Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
4.1.1 Direkte Integration
4.1.2 Indirekte Integration
4.2 Bildungspolitische Maßnahmen
4.2.1 Direkte Integration
4.2.2 Indirekte Integration
4.3 Empfohlene Konzepte und Maßnahmen
4.3.1 Direkte Integration
4.3.2 Indirekte Integration

5 Erkenntnisse

Anhang
Anhang A
Anhang B

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Interprovinzielle Nettomigrationsströme, 1995-2000

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Prokopfeinkommen auf dem Land und in der Stadt, 1978-2000

Tabelle 2: Arme Landkreise nach Provinzen und Regionen, 2001

Tabelle 3: Interprovinzielle Migration (netto in Mio.), 1985-1990, 1995-2000

Tabelle 4: Die wirtschaftlich-sozialen Ungleichheiten zwischen Stadt- und Landbevölkerung

Tabelle 5: Maßnahmen zur Einschränkung der Migration 70

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

„In China, one's birthplace is crucial in determining one's life chances.“(Knight und Song, 2002, S. 153).

1.1 Motivation

Seit mehr als 20 Jahren vollzieht die chinesische Gesellschaft einen sozioökonomischen Transformationsprozess, durch den sukzessive durch gezielte Reformen ein sozialistischer Staat in eine Marktwirtschaft umgewandelt wird. Die strukturellen Veränderungen der chinesischen Wirtschaft haben einen weltweit noch nie da gewesenen Migrationsstrom ausgelöst (vgl. Tuñón, 2006, S. 5; Liang, Chen und Gu, 2002, S. 2176; He und Pooler, 2002, S. 151f.). Die tatsächliche Zahl der Menschen mit ländlicher Herkunft, die überwiegend auf der Suche nach Beschäftigung in die Städte ziehen, lässt sich nur schwer ermitteln. Es gibt keine genauen und verlässlichen offiziellen Daten zu diesem Thema. Die inoffiziellen Schätzungen gehen von etwa 100 Mio. "Landflüchtigen" zu Beginn des neuen Jahrhunderts aus (vgl. Perkins 2005, S. 23; Xiang und Tan, 2005, S. 3). In 2003 sollen es schon 140 Mio. Menschen gewesen sein, die sich über einen längeren Zeitraum fernab ihres gemeldeten Wohnsitzes aufhielten. Die meisten davon verließen die ländlichen Gebiete und zogen in Richtung Ostküste, um dort in den großen Städten zu arbeiten (vgl. Huang und Shaohua, 2005, S. 67).

Der Grund für diese massive Abwanderung der ländlichen Bevölkerung ist in erster Linie in den deutlichen Disparitäten zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten als Folge unausgeglichener wirtschaftlicher Entwicklung seit Beginn der Reformen in den späten 70ern zu sehen (vgl. CDRF, 2005, S. 8; Fan, Zhang und Zhang, 2002, S. 13). Lange Zeit hatte für die chinesische Regierung ausschließlich die Industrialisierung der Städte Priorität. Die ländlichen Gebiete wurden mehr oder weniger sich selbst überlassen, wobei die Erträge aus der Landwirtschaft von der Regierung zum größten Teil in die Entwicklung der Städte und die Sicherung des relativ hohen Lebensstandards ihrer Bewohner investiert wurden. Die ländliche Bevölkerung finanzierte auf diese Weise unfreiwillig die Industrialisierung der Städte mit, ging selbst aber leer aus. Durch die strikte Einschränkung der Mobilität der Landbevölkerung verhinderte die Regierung einen Wettbewerb auf den städtischen Arbeitsmärkten; dadurch hielt sie die Löhne der städtischen Bevölkerung künstlich hoch, was letztendlich zu einem großen Einkommensgefälle zwischen Land und Stadt führte (vgl. Knight und Song, 2002, S. 248f.).

Im Zuge der raschen Entwicklung der Wirtschaft und der schnellen Industrialisierung der Städte entstand in den Ballungsräumen nach und nach ein Mangel an Arbeitskräften, da der Bevölkerungszuwachs in den Städten mit dem Fortschritt nicht mithalten konnte. Die chinesische Regierung war also gezwungen, die Migrationskontrollen zunehmend zu lockern, um mit den überschüssigen ländlichen Arbeitskräften den Bedarf in der städtischen Industrie zu decken (vgl. Knight und Yueh, 2004, S. 4). Die dadurch ausgelöste Landflucht, die heute aufgrund ihres Ausmaßes als ein sozioökonomisches Phänomen gilt, ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft. Untersuchungen zeigen, dass die Migration seit Beginn der Reformen etwa 16 % zum BIP- Wachstum beigetragen hat (vgl. Cai, 2000, S. 13).

Doch trotz dieser positiven Auswirkungen ist die Migration für die "Landflüchtigen" mit großen sozialen Problemen verbunden. Ihnen werden Sozialleistungen verwehrt; sie begegnen Chancenungleichheit auf dem Arbeitsmarkt und Diskriminierung durch die städtische Öffentlichkeit. Man muss zweifellos von einer Zweiklassen-Gesellschaft sprechen (vgl. Tuñón, 2006, S. 5; Wang und Cai, 2005, S. 1f.)

Es ist zu erwarten, dass die Probleme weiter zunehmen, wenn die chinesische Regierung keine adäquaten Lösungen für die Harmonisierung der Gesellschaft bzw. für die Integration der "Landflüchtigen" in die städtischen Gesellschaften und Arbeitsmärkte findet. Denn für die Zukunft ist weiterhin mit massiven Abwanderungsbewegungen vom Land in die Städte zu rechnen. Trotz des rapiden Urbanisierungsprozesses seit Beginn der Reformen in 1978 lebten in 2003 mit 769 Mio. Einwohnern immer noch 59,47 % der chinesischen Bevölkerung auf dem Land. Und von insgesamt 489,7 Mio. Beschäftigten auf dem Land waren 312,6 Mio. direkt in der Landwirtschaft tätig (vgl. Huang und Shaohua, 2005, S. 67). Die Zahl der überschüssigen ländlichen Arbeitskräfte wird von der Forschung auf etwa 150 Mio. geschätzt (vgl. Brooks und Tao 2003, S. 1). Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass diese Arbeitskräfte in den kommenden Jahren verstärkt auf die städtischen Arbeitsmärkte drängen werden.

Von dem richtigen Umgang mit diesen Menschen hängt zum einen die gesellschaftliche Stabilität und zum anderen die wirtschaftliche Entwicklung Chinas entscheidend ab. China wird heute vielerorts als die Wirtschaftsweltmacht der kommenden Jahrzehnte gehandelt, die möglicherweise das Potential dazu habe, die Vereinigten Staaten an der Weltspitze einzuholen (vgl. Wagner, 31.07.2005, S. k.A.). Vor diesem Hintergrund ist es besonders interessant zu untersuchen, ob und wie das moderne China den besonderen Herausforderungen begegnet, die seinen Vormarsch behindern könnten.

Erkennt es das Problem der Zweiklassengesellschaft? Erkennt es das Problem der segmentierten Arbeitsmärkte und der daraus resultierenden Ineffizienz der noch jungen – im Entstehungsprozess begriffenen – chinesischen Marktwirtschaft? Kann die chinesische Gesellschaft die richtige Richtung einschlagen, um diese Hindernisse effektiv zu beseitigen und sich auch in Zukunft gesellschaftlich und wirtschaftlich in Richtung Weltspitze zu bewegen? Dies sind die Fragen, die diese Untersuchung motivieren und im Folgenden beantwortet werden sollen.

1.2 Vorgehensweise und Methodik

Die Beantwortung der gestellten Fragen soll auf Grundlage breiter Auswertung relevanter englisch- und deutschsprachiger wissenschaftlicher Literatur und anhand sekundärer Datenauswertung erfolgen.

Im Anschluss an das einführende Kapitel 1 werden im Kapitel 2 der Arbeit ausgewählte theoretische Modelle zur Erklärung des Phänomens Migration diskutiert. Es soll dabei ein theoretischer Rahmen geschaffen werden, der die folgende Untersuchung der Migration in China stützt und darüber hinaus eine Ableitung von möglichen politischen Schritten ermöglicht, an denen die politischen Konzepte und Maßnahmen der chinesischen Regierung im Bezug auf Migration und Arbeitsmarkt gemessen werden können. Die Arbeit baut dabei auf ökonomischer Migrationstheorie auf.

Kapitel 3 der Arbeit liefert einen Überblick über die Gründe und Folgen der Migration und hilft dem Leser die Problematik, aus der Handlungsbedarf resultiert, zu erkennen. Es soll analysiert werden, wer sich für Migration entscheidet, und warum es zu dieser Entscheidung kommt. Dabei soll die Verbindung zu den Annahmen der vorgestellten Migrationstheorien gesucht werden. Anschließend sollen die Folgen der Migration aus der Sicht der Sender- und der Empfängerregionen unter besonderer Beachtung der Situation der Migranten auf den städtischen Arbeitsmärkten untersucht werden.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit den politischen Maßnahmen und Konzepten seitens der chinesischen Regierung in Bezug auf die Situation der Migranten auf den städtischen Arbeitsmärkten. Von besonderem Interesse ist dabei der Beitrag der getroffenen Maßnahmen und Konzepte zur Integration von Migranten. Hier soll wiederum der Versuch unternommen werden, einen Zusammenhang zwischen den politischen Optionen der Theorie und den tatsächlichen Verfahrensweisen herzustellen. Dabei geht es ausschließlich um einen möglichen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis und nicht um die Beantwortung der komplexen Frage, ob die vorhandenen Theorien überhaupt auf den Fall China angewandt werden können.

Kapitel 5 fasst zum Abschluss die gewonnenen Erkenntnisse kritisch zusammen.

1.3 Begriffserklärung

Vor der eigentlichen Untersuchung sollten aber zunächst einige zentrale Begriffe der Arbeit erläutert werden.

"Landflüchtige"

Die in der Themenüberschrift dieser Arbeit verwendete Bezeichnung "Landflüchtige" ist eine vom Autor gewählte zusammenfassende Übersetzung bzw. ein sinngemäßer Oberbegriff für die verschiedenen Begriffe in der englischsprachigen Literatur (migrants, labour migrants, rural-migrants, rural-urban migrants, interal migrants, floating population, temporary migrants etc.) die im Zusammenhang mit Migration in China das selbe meinen - die Binnenmigranten. Binnenmigranten bewegen sich innerhalb eines Landes (vgl. IOM, 2004, S. 32). In dieser Arbeit geht es um Binnenmigranten, die aus den ländlichen in die städtischen Gebiete wandern. Nachfolgend soll aus praktischen Gründen der Begriff Migranten (in einzelnen Fällen "zugewanderte ländliche Arbeitskräfte") verwendet werden.

Migranten

Bei der Definition des Begriffs - Migranten (in China) - wird hier zunächst Qian (1998) herangezogen, der alle Menschen, die die ländlichen Gebiete verlassen, um in den Städten ihren Lebensstandard zu erhöhen, als Migranten bezeichnet (vgl. S. 25). Diese Definition wird durch die Kriterien aus He (2003) weiter eingegrenzt. Die Migranten üben in den Städten eine nicht landwirtschaftliche Beschäftigung aus, haben keine städtische Aufenthaltsgenehmigung (städtischen hukou) und weisen eine hohe Fluktuation auf (vgl. S. 138). Schließlich gilt man bei Huang und Pieke (2003) ab einer Migrationsdauer von mindestens drei Monaten als Migrant (vgl. S. 1).

Im Rahmen dieser Arbeit zählen zu den Migranten Menschen, die zwecks Verbesserung ihrer sozioökonomischen Situation die ländlichen Regionen verlassen, um in den städtischen Gebieten nach nicht landwirtschaftlicher Beschäftigung zu suchen. Sie besitzen keine städtische Aufenthaltsgenehmigung. Deswegen trägt ihre Migration meistens einen temporären Charakter[1], wobei die Aufenthaltsdauer in den städtischen Gebieten in der Regel mehr als drei Monate beträgt.

Integration

Ganz allgemein gefasst versteht man unter Integration den Zusammenhalt von Teilen eines Systems, das sich gerade durch diesen Zusammenhalt und Interdependenzen der Teile als eigenständiges System identifizieren lässt und sich so von der Umgebung abgrenzt. Das Gegenteil von der Integration ist die Segmentation. Man spricht von Segmentation, wenn keine Interdependenzen zwischen den Teilen vorhanden sind. Diese allgemeine Definition lässt sich neben vielen anderen auch auf soziale Systeme oder ihre Teilsysteme anwenden (vgl. Esser 2001, S. 1).

Im Kontext der internationalen Migration wird unter Integration die vollständige Eingliederung der internationalen Migranten in die Empfängergesellschaft verstanden (vgl. IOM, 2004, S. 32). Esser (2001) spricht in diesem Zusammenhang von Sozialintegration. Diese kann unter anderem durch Gewährung von bestimmten Rechten, Zugang zur Bildung und Arbeitsmarkt sowie Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben erfolgen (vgl. S. 8). Im Fall von China könnten die Definition und Annahmen von Esser auf die chinesische Gesellschaft als System bzw. urbane Gesellschaft als Teilsystem übertragen werden. Die Integration der Migranten in die urbane Gesellschaft als Teilsystem könnte also durch die oben beschrieben Vorgängen erfolgen.

Bei der Untersuchung der Sozialintegration der Migranten in die urbane Gesellschaft am Beispiel von Konzepten und Maßnahmen zur Integration in die städtischen Arbeitsmärkte wird im Rahmen dieser Arbeit zwischen direkter und indirekter Integration unterschieden. Unter direkter Integration werden sämtliche Maßnahmen verstanden, die sich direkt auf die Migranten in den städtischen Gebieten beziehen und zu ihrer Gleichberechtigung und Chancegleichheit beitragen.

Unter indirekter Integration werden hier darüber hinaus Konzepte und Maßnahmen verstanden, die auf die Verbesserung der sozioökonomischen Situation der ländlichen Bevölkerung auf dem Land abzielen und somit indirekt zur Integration der Migranten in die städtischen Arbeitsmärkte beitragen können. Zum einen durch mögliche Entlastung der städtischen Arbeitsmärkte und zum andere durch verbesserte Voraussetzungen (z.B. Ausbildung) bei den potentiellen Migranten.

Dabei stehen ausschließlich die Initiativen der chinesischen Regierung im Mittelpunkt. Beiträge der privaten und nicht-staatlichen Organisationen und Interessengruppen finden in dieser Untersuchung keine Berücksichtigung.

2 Theoriediskussion

"The quest for a single theory of migration, internal and international, encompassing the First, Second and Third Worlds, suggests a search for utopia." (Pryor, 1983, S. 114)[2]

Seit Ravensteins (1885 und 1889) Veröffentlichungen der Gesetze der Migration ("The Laws of Migration"), die noch heute als erster grundlegender Schritt der theoretischen Untersuchung des Phänomens Migration gelten (vgl. Todaro, 1980, S. 15; Zhang, 2003, S. 8), wurde in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen versucht, die äußerst komplexen Mechanismen der Migration zu erklären (vgl. Mortuza, 1992, S. 4).

Eine Unterteilung der Studien kann im Allgemeinen nach makro- und mikroanalytischen Ansätzen erfolgen. Die mikroanalytischen Ansätze beschäftigen sich mit dem Verhalten des Individuums und untersuchen den Einfluss von demographischen, ökonomischen und sozialen Kriterien auf die individuelle Migrationsentscheidung. Es wird versucht, die Migranten von den Nicht-Migranten abzugrenzen (vgl. Zhang, 2003, S. 9). Die makroanalytischen Ansätze dagegen analysieren die Ursachen und den Migrationsprozess selbst aus der volkswirtschaftlichen Perspektive. Die Ursachen werden hier gesehen in Disparitäten zwischen Regionen, z.B. im Bezug auf Lohnniveau und Grad der Beschäftigung; der Prozess der Migration dauert an, bis im Laufe der Zeit die Anpassung der Verhältnisse zu einem Gleichgewicht führt (vgl. Zhu, 1998, S. 161; Zhang, 2003, S. 9; Bilsborrow, 1998, 14f.).

Bei der Studie der wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Migration stößt man auf frappierend konträre Zuordnungen der Theorien zu den oben genannten makro- oder mikroanalytischen Ansätzen.[3] So werden z.B. Meilensteine der Migrationsforschung wie die Modelle von Lewis (1954) und Ranis und Fei (1961) sowie Harris/Todaro (1970) bei Zhnag (2003) den makroanalytischen Ansätzen zugeordnet (S. 11f.), bei Möller (2002) dagegen den mikroanalytischen (S. 48). Bilsborrow (1998) zählt Lewis (1954) und Ranis und Fei (1961) zu den makroanalytischen Ansätzen und Harris und Todaro (1970) zu den mikroanalytischen (S. 57f.).

Ich verzichte bewusst auf eine vollständige Übersicht aller vorhandenen Migrationstheorien und ihrer Vertreter, da sie der Beantwortung der zentralen Fragen dieser Untersuchung nicht dienen würde.[4] Darüber hinaus ist eine große Zahl der formulierten Modelle zu allgemein und auf die Situation in China wegen der Einzigartigkeit des kontinuierlichen Transformationsprozesses vom Sozialismus hin zur Marktwirtschaft und der besonderen Bedeutung der staatlichen Einmischung in den Migrationsprozess ohne Anpassungen kaum übertragbar (vgl. Fan, 1999, S. 955f.). Außerdem liefern die meisten nicht ökonomischen sozialwissenschaftlichen Modelle keine anwendbaren Schlussfolgerungen für die Gestaltung von politischen Konzepten und Maßnahmen im Bezug auf die Migration (vgl. Todaro, 1980, S. 19).

Im Rahmen dieser Arbeit wird die Zahl der relevanten Modelle auf einige wenige ökonomische Modelle eingegrenzt. Es handelt sich dabei um Modelle, die neben der Erklärung der Ursachen der Migration auch Politikempfehlungen aussprechen (bzw. eine Ableitung von Politikempfehlungen ermöglichen) und die bei den Autoren, die sich mit Migration in China beschäftigen, vorwiegend zitiert werden bzw. zum Einsatz kommen.

Die Zuordnung der vorgestellten Modelle erfolgt nach drei Grundtypen. Zunächst werden die Modelle der dualen Ökonomie aus den 50er und 60er Jahren erläutert. Es folgen die Harris-Todaro Modelle aus den 70er und 80er Jahren. Anschließend werden die neueren Modelle der letzten 15 Jahre – zusammengefasst unter dem Oberbegriff "Neue Migrations- ökonomie" – diskutiert. Die Diskussion der Modelle richtet sich vornehmlich nach den Ausführungen von Lall, Selod und Shalizi (2006) und von Todaro (1980).

2.1 Migration in dualen Ökonomien

Unter dualen Ökonomien werden Volkswirtschaften verstanden, die durch zwei unterschiedliche Sektoren gekennzeichnet sind. Der eine Sektor ist "traditionell" (Landwirtschaft) und weist eine sehr geringe Produktivität auf. Der andere Sektor ist "modern" (Industrie in städtischen Gebieten) und weist eine deutlich höhere Produktivität auf.[5] Der Überschuss an Arbeitskräften im Sektor mit niedriger Produktivität sowie die Einkommensdisparitäten aufgrund der Produktivitätsunterschiede können Migration auslösen (vgl. Ghatak, 1986, S. 62; Möller, 2002, S. 48).

Das erste und wohl bekannteste Modell der Entwicklung in dualen Ökonomien unter Berücksichtigung von Arbeitsmigration vom ländlichen in den städtischen Sektor wurde von Lewis (1954) entwickelt und wurde später durch das Modell von Ranis und Fei (1961) erweitert. Das so entstandene Lewis-Fei-Ranis Modell wurde zum Leitmodell der Entwicklungsforschung in den Ländern der Dritten Welt in den 50ern und 60ern (vgl. Todaro, 1980, S. 21.).

2.1.1 Das Modell von Lewis (1954)

In seinem Modell geht Lewis (1954) davon aus, dass die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes nicht ausschließlich von der Akkumulation des Kapitals (zu Kapital gehört auch Know-how) in den modernen Industrien angetrieben wird, sondern auch von der Interaktion zwischen dem ländlichen und dem städtischen Sektor abhängig ist (vgl. Lewis, 1954, S. 173ff.). Im Laufe des wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses eines Landes wächst der moderne industrielle Sektor durch Reinvestition des generierten Kapitals in die weitere Expansion, wodurch zwangsläufig der Bedarf an Arbeitskräften steigt. Der traditionelle landwirtschaftliche Sektor entwickelt sich hingegen nur langsam und weist eine Unterbeschäftigung bzw. hohen Überschuss an Arbeitskräften auf. Dieser Überschuss wird von dem schnell wachsenden modernen Sektor absorbiert (vgl. Lewis, 1954, S. 151f.) Es wird angenommen, dass die Grenzproduktivität der Arbeit in dem arbeitsintensiven landwirtschaftlichen Sektor im Bereich von Null liegt. Die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte erhalten daher Löhne im Bereich des Existenzminimums.[6] Die Löhne im modernen industriellen Sektor liegen deutlich höher. Dieser Einkommensunterschied dient als Auslöser für die Wanderung der Arbeitkräfte von dem traditionellen in den modernen Sektor – Landflucht. Der Migrationsprozess hält in der Theorie so lange an, bis die Löhne in den modernen und den traditionellen Sektoren ein ausgeglichenes Niveau erreichen, oder bis die überschüssige Arbeitskraft des traditionellen Sektors durch den modernen Sektor vollständig absorbiert wurde (vgl. Ghatak, 1986, 63f.; Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 8).

Eine besonders interessante Hypothese in Bezug auf den Entwicklungsprozess des traditionellen Sektors ist: Es liege nicht im Interesse des modernen Sektors, dass die Produktivität des traditionellen Sektors schnell steige. Denn höhere Produktivität und höhere Einkommen der landwirtschaftlichen Bevölkerung würden den Zustrom billiger Arbeitskräfte in den modernen Sektor und somit auch das Wachstum gefährden (vgl. Lewis, 1954, S. 149).

Lewis sieht keine Notwendigkeit einer ausgeglichenen Entwicklung der modernen und traditionellen Sektoren. An diesem Punkt setzt u.a. die Kritik an seinem Modell an mit der Argumentation, dass moderne und traditionelle Sektoren in Entwicklungsländern enge Verflechtungen aufweisen und die Vernachlässigung des traditionellen landwirtschaftlichen Sektors zu einer Gefährdung des Industrialisierungs- bzw. Entwicklungsprozesses führen kann (vgl. Ranis und Fei, 1961, S. 534; Ghatak, 1986, S.65).

Ein weiterer elementarer Kritikpunkt ist die Vernachlässigung möglicher Auswirkungen einer verstärkten Ausrichtung des modernen Sektors auf kapitalintensive Industrien in Bezug auf die städtische Erwerbssituation. Es besteht die Möglichkeit, dass der Arbeitsbedarf in den Städten nicht groß genug ist, um die zugewanderten Arbeitskräfte vollständig aufzunehmen, und entsprechend Arbeitslosigkeit in den Städten zum Problem werden könnte. Darüber hinaus wird die Bedeutung der Qualifizierung (bzw. Bildungsniveau) der Arbeitskräfte aus dem traditionellen Sektor für ihren Transfer in den modernen Sektor nicht berücksichtigt (Ghatak, 1986, S.65f.).

Das für diese Arbeit relevante Fazit lautet, dass das Model von Lewis eine vereinfachte Erklärung der Land-Stadt-Migration, basierend auf Disparitäten zwischen zwei Sektoren, liefert. Der Migration kommt dabei eine wichtige und positive Rolle in dem Entwicklungsprozess eines Landes zu. Im Bezug auf mögliche politische Maßnahmen lässt sich die Schlussfolgerung ableiten, dass die Migration zu unterstützen ist. Ferner werde die Integration der Arbeitsemigranten in die städtischen Arbeitsmärkte durch Investitionen in moderne arbeitsintensive Industrien begünstigt (Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 9).

2.1.2 Das Fei-Ranis Modell (1961)

Ranis und Fei (1961) erweitern das Modell von Lewis und greifen dabei vor allem den von ihm außer Acht gelassenen Aspekt der Notwendigkeit der Entwicklung des traditionellen landwirtschaftlichen Sektors auf. Das Fei-Ranis Modell ist wie das Modell von Lewis ein dualistisches Modell und basiert auf drei Entwicklungsphasen. In der ersten Phase gelten die Annahmen des Lewis Modells. Die Grenzproduktivität der Arbeit liegt hier bei Null. In der zweiten Phase kommt es zu einer Steigerung der Grenzproduktivität in dem traditionellen landwirtschaftlichen Sektor, was als Grundvoraussetzung für das Aufrechterhalten des industriellen Wachstums des modernen Sektors gesehen wird. Trotz des Anstiegs liegt die Grenzproduktivität im landwirtschaftlichen Sektor unter dem Niveau der (institutionellen) Löhne im modernen Sektor. Die zweite Phase stellt eine notwendige Bedingung dar, um die dritte und wichtigste Phase der Entwicklung erreichen zu können: In dieser Phase ist die überschüssige Arbeitskraft in dem traditionellen Sektor, die in der ersten und zweiten Phase noch vorhanden war, vom modernen Sektor nun vollständig absorbiert und der traditionelle landwirtschaftliche Sektor ist kommerzialisiert. Die Grenzproduktivität der Arbeit in dem traditionellen Sektor erreicht das (institutionelle) Lohnniveau in dem modernen Sektor oder übertrifft es sogar. Die Löhne in beiden Sektoren bestimmen sich nun nach marktwirtschaftlichen Kriterien. Es herrscht ein Gleichgewicht (vgl. Ranis und Fei, 1961, S. 536f.; Ghatak, 1986, S. 67ff.).

Auch wenn die Erweiterung des Modells von Lewis, die auch als Lewis-Fei-Ranis Modell bekannt ist (vgl. Todaro, 1980, S. 21), die Bedeutung des traditionellen landwirtschaftlichen Sektors berücksichtigt, weist es Schwächen des ursprünglichen Modells auf. So bleibt z.B. die Bestimmung der Grenzproduktivität bzw. die Annahme einer Grenzproduktivität im Bereich Null eine umstrittene Angelegenheit (Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 9).

Schlussfolgerungen im Bezug auf politische Maßnahmen stimmen mit denen des Lewis Modells überein. Insgesamt gesehen leisten die beiden vorgestellten Modelle einen geringen Beitrag zur Analyse der Politik im Zusammenhang mit Migration und Beschäftigung in Entwicklungsländern (vgl. Todaro, 1980, S. 25; Qian, 1998, S. 36).

2.2 Migration in Todaro Modellen

Das Todaro Modell (1969) – einschließlich einiger wichtiger Erweiterungen des ursprünglichen Modells, die unter dem Begriff "Todaro Modelle" zusammengefasst werden – markiert eine Wende für die traditionelle Migrationsforschung aus den 60er Jahren (vgl. Zhang, 2003, S 12.). Zwar handelt es sich hierbei, wie bei den Lewis und den Lewis-Fei-Ranis Modellen, um Modelle, die von einer dualen Ökonomie ausgehen, in der der moderne industrielle Sektor überschüssige Arbeitskräfte aus dem traditionellen landwirtschaftlichen Sektor bezieht. Doch lassen die Todaro Modelle die Migration in einem gänzlich anderen Licht erscheinen. Sie untersuchen den Zusammenhang zwischen der Abwanderung aus den ländlichen Gebieten und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den städtischen Gebieten (vgl. Williamson, 1988, S. 443; Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 10).

Neben dem ursprünglichen Todaro Modell werden hier die aus der Sicht des Autors in Bezug auf den Fokus dieser Arbeit, insbesondere mögliche Politikempfehlungen, nützlichsten Erweiterungen Harris-Todaro (1970) und Fields (1974) näher erläutert.

2.2.1 Die Modelle von Todaro (1969) und Harris-Todaro (1970)

Todaro (1969)

Die Ausgangsannahme des Todaro Modells ist, dass die Migrationsentscheidung eines Individuums auf rationalen ökonomischen Überlegungen basiert. Es wird weiterhin vorausgesetzt, dass die Migration durch Einkommensdisparitäten zwischen dem traditionellen und dem modernen Sektor, also zwischen Land und Stadt, verursacht wird, wobei nicht das gegenwärtige Einkommen, sondern das erwartete Einkommen die entscheidende Rolle spielt. Die potentiellen Migranten vergleichen also ihre Perspektiven auf den Arbeitsmärkten der beiden Sektoren und treffen eine Entscheidung, von der sie eine Maximierung ihres geschätzten ökonomischen Nutzens erwarten. Der ökonomische Nutzen wird zum einen durch die Differenz der Realeinkommen in den beiden Sektoren und zum anderen durch die Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigung im Falle der Migration definiert (vgl. Todaro, 1969, S. 139; Todaro, 1980, S. 28f.; Williamson, 1988, S. 444).

Gerade weil die Schätzung des ökonomischen Nutzens bzw. des erwarteten Einkommens die Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigung einbezieht, kann es unter Umständen zur Migration trotz gegenwärtig steigender Arbeitslosigkeit in dem modernen Sektor kommen. Denn auch wenn die kurzfristigen Aussichten auf eine gut bezahlte Beschäftigung in dem modernen städtischen Sektor eher schlecht sind, kann eine Migrationsentscheidung rational sein, wenn langfristig die Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigung mit einem ausreichend hohen Einkommen aus der Sicht des potentiellen Migranten hoch genug ist. In diesem Fall ist er sogar bereit, einen vorübergehenden Einkommensrückgang hinzunehmen (vgl. Todaro, 1980, S. 31f.; Ghatak, 1986, S. 207).

Unter diesen Voraussetzungen kann es zu dem so genannten Todaro Paradoxon kommen. Eine Politik, die auf einen Anstieg des Arbeitsangebots in dem modernen Sektor abzielt, kann durch herbeigeführte Migration die Situation auf dem Arbeitsmarkt des modernen Sektors insgesamt verschlechtern. Wenn die Rate der Zuwanderung die Wachstumsrate des Arbeitsangebots übersteigt, kommt es zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit aufgrund der Zuwanderung (vgl. Somik, 2006, S. 10).

In den Schlussfolgerungen für die Politikoptionen hebt Todaro (1969) die Bedeutung der Steigerung des Lebensstandards in den ländlichen Regionen hervor. Er ist der Überzeugung, dass verstärkte Investitionen in den ländlichen Raum unter dem Strich mehr Nutzen verursachen würden, als ständige Förderung der Attraktivität der Städte und daraus resultierende Massenzuwanderung. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen von übertriebener Zuwanderung sollten nicht unterschätzt werden (vgl. S. 147).

Williamson (1988) zieht aus dem Todaro Modell einige wichtige Schlüsse in Bezug auf die soziale Situation der Migranten und insbesondere ihre Eingliederung in die städtischen Arbeitsmärkte. Die Migranten verdienen weniger als die städtische Bevölkerung und werden bei der Besetzung von attraktiveren Stellen benachteiligt. Die Migranten sind stärker von der Arbeitslosigkeit betroffen. Das Lohniveau in dem informellen Dienstleistungssektor liegt unter dem im industriellen Sektor. Und die Migranten verdienen bei ihrer Ankunft in den Städten zunächst weniger als in ihrer Heimat (vgl. S. 445).

Für weitere Untersuchungen lässt sich indes die Interpretation ableiten, dass Todaro die Migration in die Städte nicht grundsätzlich negativ sieht. Eine erfolgreiche Integration der Migranten in die städtischen Arbeitsmärkte ist jedoch nur dann denkbar, wenn die Zuwanderung das Arbeitsangebot in den Städten nicht übersteigt. Eine exzessive Zuwanderung erschwert die Situation der Migranten auf dem städtischen Arbeitsmarkt und könnte zu der oben beschriebenen Situation führen. Eine Politik der Förderung des Lebensstandards auf dem Land könnte den Migranten, die bereits auf dem städtischen Arbeitsmarkt sind, bei ihrer Integration indirekt helfen.

Harris-Todaro (1970)

Es gibt wahrscheinlich kein Modell, das der Realität in jeder Hinsicht vollkommen angemessen wäre. Auch das Modell von Todaro wurde in der wissenschaftlichen Literatur vielfach kritisiert und im Hinblick auf größere Realitätsnähe modifiziert. Trotzdem blieb das Kerngerüst des Todaro Models in der Migrationsforschung bis heute tonangebend. Eine bedeutende Weiterentwicklung verdient jedoch an dieser Stelle kurz erwähnt zu werden (vgl. Todaro, 1980, S. 36). Im Rahmen des Harris-Todaro Modells (1970) wird der Versuch einer detaillierten Analyse des traditionellen ländlichen und des modernen städtischen Sektors unternommen. Die Effekte der Migration auf Output, Einkommen und Wohlfahrt in den beiden Sektoren stehen dabei im Mittelpunkt der Untersuchung (Harris und Todaro, 1970, S. 135ff.; Ghatak, 1986, S. 210).

Im Rahmen des Modells stellt der traditionelle Sektor landwirtschaftliche und der moderne Sektor industrielle Güter her. Die beiden Sektoren tauschen ihre Produkte. Der landwirtschaftliche Sektor, in dem Vollbeschäftigung herrscht, hat die Option, die gesamte vorhandene Arbeitskraft in der Produktion landwirtschaftlicher Güter einzusetzen, oder einen Teil der Arbeitskraft an den modernen städtischen Sektor (über Migration) abzugeben. Im Gegenzug erhalten die abgewanderten Arbeitskräfte einen Lohn in Form von Industriegütern, die in dem modernen Sektor hergestellt werden. Dieser Lohn kommt letztendlich dem traditionellen Sektor zugute. In dem modernen Sektor herrschen institutionell festgesetzte Mindestlöhne, die über dem gleichgewichtigen Lohnniveau liegen. Die wichtigste Annahme bezüglich der Nutzenmaximierung bei der Migrationsentscheidung bleibt unverändert (vgl. Harris und Todaro, 1970, S. 127f.; Todaro, 1980, S. 37; Fields, 1975, S. 167).

Die Analyse dieses Handels-Migrations-Modells ergibt eine Reihe von politischen Optionen für Entwicklungsländer. Die übermäßige Migration, die aufgrund von Einkommensdisparität und Nutzenmaximierung auf Basis von geschätzten Einkommen stattfindet und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit im modernen Sektor sowie Verknappung des Arbeitsangebots im traditionellen Sektor verursacht, wird als suboptimal im Bezug auf die allgemeine Wohlfahrt betrachtet. Es bieten sich neben den Maßnahmen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in dem modernen Sektor (vgl. Fields, 2005, S. 128) zum einen restriktive Migrationspolitik und zum anderen lohnpolitische Maßnahmen – Lohnbegrenzung in dem modernen Sektor oder aber Lohnsubvention zwecks Maximierung des Outputs kombiniert mit restriktiver Migrationspolitik (vgl. Harris und Todaro, 1970, S. 132ff., Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 13ff.). Welche Politik letztendlich zum Optimum führt, ist schwer abzuschätzen. Es gibt jedoch die Erkenntnis, dass Lohnsubventionen im traditionellen Sektor bzw. Schaffung von Beschäftigung im traditionellen Sektor immer einen positiven Effekt versprechen[7], was von den gleichen Maßnahmen in dem modernen städtischen Sektor nicht unbedingt zu erwarten ist (vgl. Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 15f.; Bahns, 2005, S. 47; Fields, 2005, S. 142ff.).

Ähnlich wie bei Todaro (1969) wird die Migration in diesem Modell als potentielle Gefahr gesehen. Die abgeleiteten Maßnahmen tragen höchstens im Fall von Investitionen in den traditionellen Sektor indirekt zur Integration bei. Restriktionen der Migration gefährden jedoch die Integration von Migranten in die städtischen Arbeitsmärkte.

2.2.2 Das Modell von Fields (1974)

Eine umfassende und bedeutende Weiterentwicklung des Harris-Todaro Modells wurde von Fields (1975) formuliert (vgl. Todaro, 1980, S. 41). Er übernimmt zunächst den theoretischen Rahmen des Harris-Todaro Modells und erweitert ihn um vier Faktoren, um die Realitätswiedergabe zu verbessern. Im Ergebnis stellt sich die im Harris-Todaro Modell prognostizierte Arbeitslosigkeit (als Folge der Migration) als zu hoch geschätzt dar.

Die erste Modifikation ist die Definition des Prozesses der Beschäftigungssuche. Aufgrund der Existenz von informellen Kanälen – wie Freunde oder andere Netzwerke – kommt Fields zu der Annahme, dass es für potentielle Migranten durchaus möglich ist, eine Beschäftigung in der Stadt zu suchen, ohne dafür ihre Heimat auf dem Land verlassen zu müssen (vgl. Fields, 1975, S. 168ff.). Der potentielle Migrant ist unter Umständen sehr gut über die Situation auf dem städtischen Arbeitsmarkt informiert, was seine rationale Entscheidungsfindung vereinfacht.

Im nächsten Schritt wird der informelle Sektor[8][9] des städtischen Arbeitsmarktes identifiziert, in dem die Migranten die Option haben, bei geringfügiger Beschäftigung nach einer attraktiven Vollzeitbeschäftigung zu suchen, wobei man natürlich weniger Zeit für die Suche aufbringen kann (vgl. Fields, 1975, S. 172ff.). Weiterhin führt Fields den positiven Effekt der Bildung ein. Es konnte beobachtet werden, dass besser ausgebildete Personen bei der Besetzung von Stellen bevorzugt behandelt werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigung im modernen industriellen Sektor steigt also in Abhängigkeit von der Bildung eines Migranten (vgl. Fields, 1975, S. 176f.; Ghatak, 1986, S. 212). Schließlich beschäftigt sich Fields mit der Fluktuationsrate am Arbeitsmarkt und stellt fest, dass das Harris-Todaro Modell eine zu hohe Fluktuationsrate impliziert (vgl. Fields, 1975, S. 178).

Auf der Grundlage seiner Analyse formuliert Fields (1975) drei politische Empfehlungen. Es sollen von staatlicher Seite aus bessere Möglichkeiten der Arbeitssuche und Arbeitsvermittlung geschaffen werden, so dass die Kosten der Arbeitssuche für Migranten minimiert werden können. Der informelle Sektor könnte so verkleinert und die Arbeitslosigkeit auf dem städtischen Arbeitsmarkt effizienter bekämpft werden, was zu einem Anstieg des Bruttoinlandprodukts führen würde (vgl. S. 185).

Im zweiten Punkt soll das allgemeine Bildungssystem verbessert, was ebenfalls zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen würde. Dabei stellt Fields (1975) fest, dass die besser ausgebildeten Migranten die schlechter gebildeten Migranten vom städtischen Arbeitsmarkt zurück auf den ländlichen Arbeitsmarkt verdrängen würden. Die Verdrängung habe aber paradoxerweise einen positiven Effekt auf das Bruttoinlandsprodukt. Die besser ausgebildeten Migranten tragen in der Stadt und die verdrängten auf dem Land dazu bei (vgl. S. 185). Schließlich stellt Fields (1975) fest, dass ein relativ geringer Anstieg der Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze einen überproportionalen Ansturm verursacht, also auch eine überproportionale Migration, die in einem Anstieg der Arbeitslosigkeit resultiert. Hier bietet sich die Politik des moderaten Wachstums als Instrument der Migrationseindämmung an (vgl. S. 186).

Das Modell von Fields (1974) bietet politische Maßnahmen an, die auf der Makro- und vor allem Mikroebene konkrete Wege zur Integration von Migranten in die städtischen Arbeitsmärkte aufzeigen.

2.3 Neue Migrationsökonomie

In den vergangenen Jahren schlug die Migrationsforschung eine neue Richtung ein. Der Ansatz der Neuen Migrationsökonomie ("The New Economics of Migration"), dessen bekanntester Vertreter Stark (1991) ist, geht im Gegensatz zu den älteren mikroökonomischen Theorien davon aus, dass nicht das einzelne Individuum, sondern der Haushalt bzw. die Familie des Individuum durch die Migrationsentscheidung den Nutzen zu maximieren versucht (vgl. Möller, 2002, S. 55; Lebhart, 2002, S. 10). "Just as it is clear that neither a brick nor a bottle of wine can decide to move between markets, so should it be equally clear that a migrant is not necessarily the decision-making entity accountable for his or her migration. Migration decisions are often made jointly by the migrant and by some group of nonmigrants." (Stark, 1991, S. 25)

Dieses Verhalten der kooperativen Entscheidungsfindung ist durchaus rational. Durch die Verteilung der Kosten bzw. Risiken und der Einkommen können die Haushalte bzw. Familien die Risiken ihres wirtschaftlichen Wohlstands reduzieren. Die Migration eines Mitglieds einer Gemeinschaft in eine Region mit höheren Einkommen und besserer Beschäftigungssituation kann als eine Rückversicherung gesehen werden (vgl. Stark, 1991, S. 25f.; Lebhart, 2002, S. 10). Der Migrationsprozess kann dabei in zwei Phasen unterteilt werden. Die Migration des Familienmitglieds wird zunächst durch die Familie unterstützt. Die sichere finanzielle Unterstützung in der Anfangsphase der Migration erleichtert die Migrationsentscheidung. Nachdem der Migrant eine Existenz in der Empfängerregion aufgebaut hat, beginnt die zweite Phase. Der Migrant transferiert einen Teil seines höheren Einkommens an die Familie in der Senderregion (vgl. Möller, 2002, S. 55f.). Der Wohlstand der Familie steigt.

Die Notwendigkeit einer solchen Rückversicherung des Wohlstands resultiert aus den unvollkommenen Märkten. In den Entwicklungsländern[10] muss man von nicht vorhandenen, mangelhaft ausgestatten oder nicht zugänglichen Versicherungs- und Kapitalmärkten ausgehen (vgl. Massey et al ., 1994, S. 711).

Als ein weiterer wichtiger Grund für die Migrationsentscheidung im Rahmen der Neuen Migrationsökonomie gilt die relative Verelendung – "relative deprivation". Die Individuen neigen dazu, ihr eigenes Einkommen mit dem Einkommen anderer zu vergleichen und auf diese Weise ihren Status in ihrem sozialen Gefüge (z.B. Dorf, Arbeitskollegen usw.) zu bestimmen. In Abhängigkeit von dieser Einschätzung werden psychologische Kosten oder Nutzen generiert. Fühlt sich ein Individuum in Relation zur Vergleichsgruppe zu schlecht aufgestellt, kann er sich für Migration entscheiden, um seinen Status zu verbessern (vgl. Stark, 1991, S. 24; ebd. S. 93; Massey et al ., 1994, S. 714; Möller, 2002, S. 56; Lebhart, 2002, S. 10f.; Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 22).

Aus der Perspektive der Land-Stadt-Migration auf nationaler Ebene ergeben die Analysen im Rahmen der Neuen Migrationsökonomie einige Schlussfolgerungen für politische Optionen. Wenn die Regierung eines Entwicklungslandes die Landflucht grundsätzlich eindämmen möchte, sollte zunächst eine Ursachenforschung stattfinden. Sind z.B. unvollkommene Versicherungsmärkte ein Antrieb der Migration, sollten die politischen Maßnahmen hauptsächlich auf die Schaffung funktionierender Versicherungsmärkte abzielen statt auf die ausschließliche Reduzierung der Einkommensdisparitäten. Bei unvollkommenen Kapitalmärkten als Hauptgrund für Migration sollte die Regierung entsprechend bemüht sein, die Kapitalmärkte auszubauen und den Zugang zum Kapital zu erleichtern (vgl. Stark, 1991, S. 48).

Gezielte wirtschaftliche Unterstützung der ärmeren Haushalte in den ländlichen Regionen würde den Aspekt der relativen Verelendung und somit die Migrationsbereitschaft beeinflussen (vgl. Lebhart, 2002, S. 11).

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden solche Maßnahmen, die auf eine Verbesserung der Funktion der Märkte und Steigerung des Wohlsandes der Haushalte abzielen und somit zur strukturellen Entwicklung beitragen, als indirekt integrativ betrachtet.

Wird die Migration als eine positive und nützliche Erscheinung betrachtet, kommen weiterhin unterstützende Maßnahmen seitens der Regierung in Frage. Aufgrund von unvollkommenen Informationen auf den städtischen Arbeitsmärkten kann es zur suboptimalen Allokation der zugewanderten Arbeitskräfte kommen. Durch entsprechende Maßnahmen kann die Effizienz bei der Stellenbesetzung erhöht werden (vgl. Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 25). Dies würde zur Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt beitragen.

Darüber hinaus ergeben sich politische Maßnahmen aus der Annahme, dass die Geldtransfers der Migranten an ihre Familienangehörigen einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der ländlichen Regionen leisten. Hierbei kann die Regierung sowohl bei der Abwicklung der Geldtransfers als auch bei der effizienteren Distribution der Mittel auf dem Land aktiv werden. Politische Maßnahmen, die zur Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte der Migranten mit der Heimat beitragen, würden sich positiv auf die Integration der Migranten in die städtischen Arbeitsmärkte auswirken und damit wiederum die Entwicklung der ländlichen Regionen vorantreiben (vgl. Lall, Selod und Shalizi, 2006, S. 26).

Stark (1991) als wichtigster Vertreter der Neuen Migrationsökonomie betrachtet den Nettonutzen der Land-Stadt-Migration für die Gesellschaften in den Entwicklungsländern als insgesamt positiv (vgl. S. 319). Die politischen Konzepte und Maßnahmen sollten versuchen, die negativen Nebenerscheinungen der Migration, wenn vorhanden, effektiv zu reduzieren. Sie sollten aber keineswegs versuchen, die Migration zu beseitigen (vgl. S. 19).

[...]


[1] Es wird vorsorglich darauf hingewiesen, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die auf Initiative des Staates migrieren und im Besitze einer entsprechenden Aufenthaltsgenehmigung (städtisches hukou) sind. In der einschlägigen Literatur werden solche Migranten oft als permanente Migranten bezeichnet. Viele der verfügbaren Erhebungen machen aber keinen Unterscheid zwischen temporären und permanenten Migranten.

[2] Es muss vorab geklärt werden, dass die große Mehrheit der Migrationsmodelle die internationale Migration beschreiben, jedoch fast ausnahmslos auf nationaler Ebene auf die Land-Stadt-Migration übertragbar sind.

[3] Dies erweckt den Eindruck, dass die Migrationsforschung heute durch mangelnde Übersicht geprägt ist.

[4] Weiterführende Literatur – z.B. Williamson (1988).

[5] Die Bezeichnungen "modern" und "traditionell" beziehen sich im Fall von China stets auf den städtischen bzw. den ländlichen Sektor.

[6] Übersetzung des englischen Begriffs "subsistence wage".

[7] Solange die institutionellen Mindestlöhne im modernen städtischen Sektor konstant bleiben und keine Vollbeschäftigung herrscht.

[8] Die erste Formulierung des Modells stammt aus dem Jahr 1974. Als Referenz wir hier aber die aktualisierte Version aus dem Jahr 1975 verwendet.

[9] Der Begriff "informeller Sektor" muss im jeweiligen Kontext eingegrenzt werden. Hier versteht man darunter den Sektor des Arbeitsmarktes, der den Puffer zwischen Arbeitslosigkeit und Vollbeschäftigung darstellt. Typisch sind geringfügige und schlecht bezahlte Beschäftigungen ohne ein festes Arbeitsverhältnis. Bei Fields kann man den informellen Sektor verlassen. Migranten in China können das meistens nicht.

[10] Die Ansätze der Neuen Migrationökonomie untersuchen die Zusammenhänge der internationalen Migration. Wie die meisten Modelle der internationalen Migration, lassen sie sich auf nationaler Ebene auf Land-Stadt-Migration übertragen.

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Der chinesische Arbeitsmarkt - Konzepte und Maßnahmen zur Integration von „Landflüchtigen“ in städtische Arbeitsmärkte
Hochschule
Universität Paderborn
Note
2,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
86
Katalognummer
V113046
ISBN (eBook)
9783640137244
ISBN (Buch)
9783640137336
Dateigröße
1145 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arbeitsmarkt, Konzepte, Maßnahmen, Integration, Arbeitsmärkte
Arbeit zitieren
M.A. Int. Econ. Alexander Fedossov (Autor:in), 2007, Der chinesische Arbeitsmarkt - Konzepte und Maßnahmen zur Integration von „Landflüchtigen“ in städtische Arbeitsmärkte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113046

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