'Frühe Störungen' - Eine psychoanalytische Betrachtung zum Missverständnis von Diagnose und Behandlung beim 'Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom'


Magisterarbeit, 2008

86 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhalt

1. Zusammenfassung

2. Einleitung

3. Begriffsbestimmung ‘ADHS’

4. Psychoanalytische Positionen beim Verständnis von ‘ADHS’
4.1. Störungen der Selbst- und Objektabgrenzung
4.2. Abwehr depressiver Gefühle mit Sexualisierung und Aggressivierung
4.3. Bindungs- und Trennungsstörungen
4.4. Analytisch-systemische Verstehensgründe
4.5. Neurophysiologische Hintergründe zum Verständnis von ‘ADHS’
4.6. Zusammenfassung psychoanalytischer Positionen

5. Diagnostik
5.1 Geschichte der Diagnostik beim ‘ADHS’
5.2. Zur Situation der Diagnostik beim ‘ADHS’
5.3. Praxis der Diagnosestellung
5.4. Diagnoseinstrumente
5.4.1 . Intelligenzdiagnostik
5.4.2. Fragebogenverfahren zur Erfassung von Verdachtsmomenten auf das ‘ADHS’
5.4.2.1. Die Conners-Skala zur Verhaltensbeurteilung hyperaktiver Kinder
5.4.2.2. Der Stärken und Schwierigkeiten Fragebogen
5.4.2.3. Der Cargive-Teacher-Report Form
5.4.2.4. Die Child Behaviour Checklist (CBCL)
5.4.2.5. DISYPS
5.4.3. Projektive Verfahren
5.4.3.1. Familie-in-Tieren
5.4.3.2. Sceno-Test
5.4.4. Zusammenfassung Diagnose

6. Diagnostiker
6.1. Lehrer/ Pädagogen
6.2. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
6.3. Ärzte/ Psychiater

7. Diskussion

8. Schlussfolgerungen

9. Literaturverzeichnis

Ich verwende in dieser Arbeit ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit durchgehend männliche Bezeichnungen. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, stets auch die weibliche Form mit einbezogen verstanden zu wissen. Ich bitte um Nachsicht, diesen mir wichtigen Aspekt nicht jedes Mal aus Platz- und praktischen Gründen ausdrücklich in beiden schriftlichen Formen dargestellt zu haben.

1. Zusammenfassung

Anliegen der vorliegenden Arbeit ist, einen gezielten Blick aus psychoanalytischer Sichtweise auf die gängige Praxis der Diagnostik bei ‘ADHS’ zu werfen.

Zunächst werden psychoanalytische Gesichtspunkte, gezielter die Bindungstheorie, zum Verständnis beim Auftreten von ‘ADHS’ dargestellt. Anschließend erfolgt eine darstellende Inhaltsanalyse gängiger Diagnosepraxis und dabei angewendeter Diagnosemethoden bzw. –mittel.

Die Diagnostik wird auf dem Hintergrund analytischer Gesichtspunkte zum Verständnis von ‘ADHS’ auf ihre Brauchbarkeit aus analytischer Sicht hin untersucht. Ich vermute, dass die aktuelle diagnostische Praxis bei dem Verdacht auf ‘ADHS’ anhand standardisierter Verfahren den individuellen Verstehenshintergrund beim Verdacht auf ‘ADHS’ negiert und verleugnet.

Dadurch, so die These, werden wichtige Gesichtspunkte bei der Diagnostik übergangen und es kommt zum in der Praxis existierenden methodischen Bruch verschiedener therapeutischer Schulen, der letzten Endes das Kind und sein Lebensumfeld übergeht.

Anschließend wird diskutiert, ob die gängige Praxis heutiger Diagnostik bei dem Verdacht auf ‘ADHS’ nicht von Anfang an analytische Grundpositionen schlicht übergeht.

2. Einleitung

Das sich inflationär auszubreiten scheinende Krankheitsbild ‘ADHS’ – Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom – hat in den letzten Jahren fachlich äußerst kontroverse Diskussionen hervorgerufen. Die dabei stark polarisierenden Standpunkte erzeugen heftige Affekte und treffen wie ideologische Weltanschauungen aufeinander. Es herrschen in der Fachwelt diametral unterschiedliche Auffassungen über die Erkrankung, die Beziehung von Körper und Geist, von Psycho-Logik im Sinn einer Kausalität, von Individuum und Gesellschaft sowie Determinismus und Finalität.

Das vorherrschende Verständnis von ‘ADHS’ entspricht einer monokausalen, körperlich genetischen Erkrankung. Ich vertrete in meiner Untersuchung die psychoanalytische Minorität als Gegenpol zum vorherrschenden Verständnis, die allerdings in letzter und nächster Zeit eine nicht mehr zu überhörende Haltung gegenüber dem Verständnis von ‘ADHS’ vertritt, die die Erkrankung in einem beziehungs- und sozialorientierten, sinnverstehenden Zusammenhang zu verstehen sucht. Dieser Blick versteht ‘ADHS’ als Folge eines komplexen Bedingungs- und Entstehungsgefüges, in folge dessen das Kind mit ‘ADHS’ ein Kind einer psychosozialen-somatischen Einheit gesehen wird. Damit wird das Kind mit ‘ADHS’ samt seiner sozialen Umgebung ein Ab- und Sinnbild heutiger Moderne.

Der Titel der Arbeit formuliert überspitzt eine Gegenübertragungsreaktion beim Lesen von Lektüre über die ‚Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung’ (‘ADHS’). Keine Verhaltensauffälligkeit erzürnt und entzweit die fachlichen und direkt davon betroffenen Geister mehr. ‚Frühe Störungen’ greift als Gegenübertragungsphänomen die Standortbestimmung der ‚einen Seite’, der Psychoanalyse auf. Die ‚andere Seite’, die Verhaltenstherapie findet sich nicht darin wieder. Verhaltenstherapeutische Interventionen und deren biologistische Sicht auf das Kind dominieren den therapeutischen Umgang mit der Verhaltensauffälligkeit. „Mit behavioraler Didaktik und Psycho-Pillen will sie [Verhaltenstherapie, H.B.] funktionale Anpassung erreichen.“ „Sie ist“ – wie Gerspach sagt – „blind für die tiefenstrukturelle Dimensionen des Geschehens.“ (2002, S. 99)

Gleichwohl viele Autoren (Grothe und Horlbeck/ Lehmkuhl und Döpfner) Modelle einer „differentiellen Indikation“ vertreten, „tauchen entsprechende Überlegungen weder im öffentlichen noch im wissenschaftlichen Diskurs auf“ (Leuzinger-Bohleber, S. 25).

Diese Einseitigkeit des Vorgehens im Umgang bei Diagnostik, Behandlung und Diskussion mit ADHKS und die damit einhergehende Diskussion über genetische oder hirnphysiologische Ursachen bei der Entstehung von ADHKS engen die Sicht auf das Phänomen ein. „Dem erwünschten Normbereich wird ein davon abzugrenzender unerwünschter, ‚irrsinniger’, letztlich verhaltens-‚behinderter’ Seinsbereich gegenübergestellt, der differentialdiagnostisch verifiziert, terminologisch etikettiert und verwaltungstechnisch verortet wird.“ (Mattner, 2002, S. 25)

Entsprechend – so scheint es – werden psychoanalytische Positionen in der Diskussion marginalisiert und wie Ansätze einer modernen Heilpädagogik bei der Bewertung ihrer Wirksamkeit beim Verständnis von und im Umgang mit der Verhaltensauffälligkeit abgewertet. Die Determinante des Wissenschaftlichen wird diesen Ansätzen nahezu aberkannt – eben mit den Mitteln, mit denen das Symptombild ‘ADHS’ manifestiert wird. Diese Unterdrückung von Denk- und Anerkennungsprozessen im Sinn einer Achtung anderer Meinungen wirkt wie ein mit bei der Entstehung von ‘ADHS’ beim Kind auslösender Teil: Die Eigenheit, ‚Wehrhaftigkeit’ des Kindes gegenüber vorherrschenden erwachsenen Meinungen und Haltungen wird übergangen, bleibt unerhört und soll letztlich verschwinden. Entsprechend hoch wird von dem Kind oft der familiäre Druck auf das Kind erlebt. Ähnlich ergeht es im Wissenschaftsbetrieb der Minorität von Menschen mit psychoanalytischen Sichtweisen.

Gesellschaftliche Veränderungen und deren Einfluss (Heinemann und Hopf 2006/ Wenke/ Gerspach 2002) auf die heutige Erziehung und damit das seelische Erleben von Kindern werden von verhaltenstherapeutischer Seite (Emrich und Ohlmeier 2005, S. 428) als „Zuweisung von Schuld und Versagen ... als besonders kränkend“ (zitiert nach Heinemann und Hopf, S. 136) für die betroffenen Familien von Kindern mit ‘ADHS’ erlebt beschrieben. Dieses Gefühl der Kränkung wird als Unterstellung persönlicher Verantwortung zurück gewiesen. So kann keine innere Reflexion mit der Thematik beginnen – analog können Kinder und deren Familien ohne das Erkennen von einem inneren Sinnzusammenhang zwischen ihnen und dem ‘ADHS’ keine Zusammenhänge sehen bzw. erleben. Entsprechend wird dann wie von zwei Dingen gesprochen: Kinder und ‘ADHS’ als getrennte Systeme ohne scheinbare Berührungspunkte.

Im Widerspruch dazu bestätigt der Sprecher der Fachgruppe für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie gesellschaftliche Auswirkungen auf Kinder und ihre Familien: „Je größer potentielle Stress- und Konfliktquellen sind, desto mehr werden das Familienleben und die soziale Unterstützung in Mitleidenschaft gezogen.“ (Zurhorst, 2005, S. 5 zitiert nach Gahlleitner und Borg-Laufs, S. 109) Damit wird eine Kritik von Gerspach (2006, S. 95) aufgegriffen, der das „unsägliche Zusammenwirken der Vorherrschaft eines einseitig rationalistisch ausgelegten und ausgelebten Lernmodells mit der gleichzeitigen Entwertung des spielerisch Gelernten“ als Ursache für Unaufmerksamkeit annimmt.

So werden einerseits die Geister der Befürworter der genetischen Ursachendiskussion und folglich medikamentösen Behandlung von Kindern mit ‘ADHS’ geweckt und – sobald die gerufen wurden – wieder zur Ruhe gebeten. Das versperrt den Blick auf die Individualität betroffener Kinder und ihrer Familien und pauschalisiert die Existenz unterschiedlicher Symptome zu einem unspezifischen Syndrombegriff. Gleichzeitig wird mit dem Widerspruch deutlich, wie sehr erlebte und nicht verarbeitete Kränkung auch kollektiv abgewehrt werden kann (Mitscherlich1968/ Maaz 1991). Die Verleugnung der Realität bzw. der Individualität der Kinder dient vor allem dem Schutz des Selbstgefühls vor schroffen Entwertungen (die von betroffenen Kindern mit ‘ADHS’ oft erlebt werden). Ich stimme mit der Beobachtung von Leuzinger-Bohleber (S.16) überein, „dass der Dialog zu ‘ADHS’ zwischen verschiedenen Disziplinen und Berufsgruppen entgleisen könnte und in eine Polarisierung mündet statt in ein gemeinsamen kritischen Versuch, die unbestrittene Zunahme von Kindern, die an dieser Symptomatik leiden, zu verstehen.“ Auf mich wirkt die Zerstrittenheit der Fachdisziplinen wie die Inszenierung eines möglichen inneren Konflikts eines Kindes mit ‘ADHS’: Statt als Eltern gegenüber dem Kind einig zu sein, erlebt das Kind einen Streit der Eltern; diese sind mit sich beschäftigt und verlieren darüber den Blick auf das Kind, in diesem Fall die Symptomatik. So kreisen die Diskussionen oftmals auf einer sehr theoretischen Ebene und verlieren das Konkrete, das Kind und sein Leiden an eben dem, aus dem Blick. Die Aufmerksamkeit muss vom Kind mit seinem Verhalten eingefordert bzw. aufrechterhalten werden. So wird der Blick verschoben – er richtet sich nun auf das Kind und das eigene Handeln gerät aus dem Blickfeld, weil immer wieder der Umkehrschluss der Symptomatik vermieden und verleugnet wird.

Meinem Eindruck nach entsteht von Anfang an, also ab dem ersten Wahrnehmen der Verhaltensauffälligkeit beim Kind, eine innere Weichenstellung, die sehr von der subjektiven Haltung des Wahrnehmenden geprägt ist. Diese Prägung ist so einprägend, analog dem frühen Mutter-Kind-Dialog, dass daraus eine Haltung werden kann oder zu werden droht, die die Subjektivität des anfangs beobachteten Objekts mit Übertragungen des Beobachters überdeckt. Allein schon dieser mögliche Vorgang verändert das Objekt, also das verhaltensauffällige Kind, in seinem Agieren und seinem Erleben von der Welt. Ich möchte mit dieser Arbeit anfängliche Schwierigkeiten beim Auftreten von ADHKS und der Diagnostizierung des Phänomens beschreiben, aufdecken und aus analytischer Sicht werten.

Meine These ist, dass die biologistisch-medizinische Sichtweise im Umgang mit ‘ADHS’ von Anfang an, also von der Diagnostik an, dominiert und die darauf folgenden Handlungsschritte prägt. Dadurch werden psychoanalytische Ansätze, ich betone: Keine alternativen Ansätze – sondern andere wissenschaftlich fundierte Theorien übergangen bzw. verleugnet. Als möglichen Hintergrund für diese Vorgehensweise vermute ich den alten Zwist seit Aufkommen der Psychologie zwischen Medizinern und Psychologen. Dieser Zwist begann mit der Auseinandersetzung um die Laienanalyse, also die Anwendung der Psychoanalyse durch andere Berufsgruppen als Mediziner. Diese Auseinandersetzung findet sich auch an anderen überschneidenden Arbeitsfeldern zwischen Medizin und Psychologie, z. Bsp. in der Geschichte und Gegenwart von Erziehungsberatungsstellen und deren Stellenwert neben Sozialpädiatrischen Kliniken. Es geht um eine Auf- und Abwertung zweier Berufsgruppen, die letztlich zulasten der Patienten oder Klienten gehen würde. Auf diesen Disput der Fachdisziplinen gehe ich nicht näher ein. Analog dazu findet sich z. B. als eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von ‘ADHS’ beim Kind die Uneinigkeit und Unterschiedlichkeit von Erziehungsstilen bei Eltern wieder, die ein Kind beunruhigen könnte. (Stork)

Ich verfolge das Ziel, in meinem Alltag als analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut gemachte Beobachtungen exakter erfassen zu wollen. Ich vernehme bei allem Anspruch an eine sorgfältige Diagnostik eine diagnostische Laxheit im Umgang mit ‘ADHS’, eine verwunderliche Schnelligkeit bei der Diagnosestellung und eine – bei bekannter Skepsis und Kritik gegenüber einer medikamentösen Behandlung – Hilflosigkeit bei der Entscheidung für eine Medikation. Mit Laxheit meine ich eine Überbewertung der Diagnose mit Betonung auf die Kognition, die beim Kind noch gar nicht so weit entwickelt ist. Gängige Diagnoseinstrumente verzichten auf den spielerischen Aspekt als Wert des Kindes in seinem Ausdruck, der „auf den analogen Ebenen des Spiels und des Phantasierens zusätzlich zum Verstehen und Verarbeiten bereits die Lösung der Konflikte“ beinhaltet. Deshalb solle man „diese Transformation ins Symbolische … nicht zurückübersetzen in die Realität“ (Fahrig, S. 705).

Im (absichtslosen) Spiel kommt der innere Prozess zum Tragen, entsteht eine Szene im Sinn des szenischen Verstehens. Dieses Spiel wird von gängigen Diagnoseinstrumenten – so meine These – abgewertet und negiert. Damit wird der Diagnoseprozess eine „Heimtücke“, die darin besteht, „dass unsere Eltern und wir in einer Kultur leben, die Selbstachtung direkt aus der Fähigkeit bezieht, andere zu beherrschen (ökonomisch, politisch, sozial, intellektuell, sexuell, usw.). Eltern sind als in der Lage, die Abhängigkeit eines Kindes zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls auszunutzen“. Eltern und Diagnostiker gehen einen Pakt gegen den lebendigen Ausdruck, der Hyperkinese, des Kindes ein. Sie schaffen ein Bündnis gegen das Kind, stellen sich ihm gegenüber: „da dieses Ausnutzen unbeabsichtigt geschieht, erreicht es auch nicht das Bewusstsein der Eltern und der Gesellschaft, kann also gar nicht richtig wahrgenommen werden.“ Dieser Verdrängungs- und Projektionsprozess bewirkt den aktuell herrschenden Umgang mit ‘ADHS’. „Das führt unvermeidlich dazu, dass sich das Kind fremden Anforderungen unterwirft. Wenn aber ein Kind seine eigenen Neigungen unterdrücken muss, verliert das lernen das Spielerische und wird zur Pflicht. Die Eltern erwarten von ihrem Kind Leistungen. Das Lernen wird dadurch programmiert, zerstückelt und fängt an, auf Wiederholung und Übung ausgerichtet zu sein.“ (Gruen, S. 27) Pointierter kann die vorherrschende Konzentration auf die verhaltenstherapeutische Behandlung von ADS nicht beschrieben werden.

Die analytische Praxis bei der Diagnostik betont das szenische Verstehen bzw. die gründliche Erfassung der Anamnese (Argelander/ Eckstaedt/ Dührssen). Beide Instrumente kommen in der Praxis der Diagnostik von ‘ADHS’ meiner Beobachtung nach unzureichend vor. Insofern liegt es nahe, den Anfang, die Diagnose und die Schritte hin zu ihr, genauer zu betrachten, um möglicherweise an dieser Stelle bereits ein szenisches Verstehen zu ermöglichen. Was wird vom Patienten bzw. vom Kind mit seiner Verhaltensauffälligkeit inszeniert? Und was inszeniert die Seite der Aufnahmeseite, die Seite der Diagnostik? Was bringt diese Seite der dialektischen Begegnung mit sich? Wo bleibt der lebendige Ausdruck des Spiels vom Kind? Erfolgt eine scheinbar objektive Sicht auf das Kind oder bereits eine Form der Gegenübertragungsreaktion auf die Verhaltensauffälligkeit des Kindes und deren Bedeutung in der Gesellschaft?

Diesen Fragen werde ich nachgehen. Dazu werde ich den Begriff der Verhaltensauffälligkeit der Symptomatik festlegen, das psychoanalytische Verständnis der Symptomatik skizzieren und folglich die Situation und Methoden der Diagnostik näher darstellen, woraus sich die Diskussion ergibt.

Ich bin analytisch positioniert. Damit unterstelle ich bei den ursächlichen Überlegungen zur Entstehung von ‘ADHS’ überwiegend Störungen bei der Psychosozialenstruktur. Diese setzen die klassische Annahme von interpersonellen und intrapsychischen Konfliktlagen bei dem Kind und entsprechend seiner Familie voraus. Ich möchte mit dieser Positionierung einen klaren Standpunkt bekennen, um von diesem her pädagogisch-therapeutische Konsequenzen zu entwickeln und nicht in der Vielfalt möglicher Sichtweisen zu verschwimmen bzw. darin unterzugehen. So gehe ich davon aus, „dass die Psychoanalyse ihren Wahrheitsanspruch aus einer besonderen Verstehensart bezieht, die er [Lorenzer in „Sprachzerstörung und Rekonstruktion“ (1970) sowie „Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis“ (1974); H. B.] als ‚szenisches Verstehen’ charakterisiert und die sich, vermittelt über die Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung, zur Tiefenhermeneutik ausweitet. ... die Aufgabe des Psychoanalytikers besteht darin, aus den Mitteilungen des Patienten über vergangene Vorfälle wie auch aus seinem aktuellen Verhalten charakteristische Konstellationen herauszulösen, die sich jeweils auf einen gemeinsamen Sinnzusammenhang beziehen lassen. Dabei kann es nicht um die Rekonstruktion realer Ereignisse gehen, sondern entscheidend sind allein die Phantasien und Vorstellungen des Patienten, die diesen Vorfällen ihre subjektive Bedeutung verleihen“ (Dohmen-Burk, S. 45) – und ihm seine Subjekthaftigkeit durch das Verstehen und Deuten (Rückmelden) dieser inneren Vorgänge habhaft werden, spüren lassen. Bedeutsam ist, dass sich „das szenische Verstehen ... immer auf Interaktionszusammenhänge“ (ebd.) bezieht. „So lässt sich das aktuelle Geschehen als Inszenierung einer Interaktionsmusters betrachten, das durch frühere Beziehungen zu andern Personen geprägt wird. Die besondere Schwierigkeit für den Psychoanalytiker ergibt sich dabei aus der Konfrontation mit solchen Äußerungen, die Ausdruck der im Sozialisationsprozess erfahrenen Deformierungen sind und die auf eine gestörte Interaktion verweisen.“ (ebd.) Dieser Verstehens- und Verständnisprozess setzt außerordentlich viel Feinfühligkeit und „lebenspraktische Vorannahmen voraus, die der Psychoanalytiker aus seinem Vorwissen über geregelte Interaktionsabläufe bezieht und die reflektierbar sein müssen.“ (ebd., S. 46) Dazu benötigen Psychoanalytiker Supervisionsrunden, also lebendige Interaktion, die bei statistischen Diagnoseverfahren durch Computer abgelöst zu sein scheint. Entsprechend fehlen das lebendige Gegenüber und das psychoanalytische Instrument der Gegenübertragung. „In der Gegenübertragung begibt sich der (ebd., S. 45) Analytiker in einer funktionellen Regression auf die Ebene der desymbolisierten Interaktionsformen, um von dort aus seine eigene Position wie die des Patienten zu begreifen und die unterdrückten Inhalte wieder mit der sprachlichen Praxis zu vermitteln.“ (ebd., S. 46) Das Kind mit und ohne ‘ADHS’ teilt sich vom ersten Augenblick an ‚szenisch’ dem Psychoanalytiker mit. In der Begegnung, in der Wahl seines Spiels und seiner Spielmittel wird deutlich, was desymbolisiert wurde, welche Wünsche unbewusst in dem Kind lebendig sind und verstanden werden wollen, damit es seine Symptomatik aufgeben kann. Ebenso wichtig ist bei der psychoanalytischen Behandlung von Kindern die Einbeziehung der Eltern, um denen die Sprache des Kindes neu zu vermitteln und ihre eigene Kommunikationsform, die sie oftmals auf das Kind übertragen, aufzudecken und verändern zu können. Szenisches Verstehen spielt in der gegenwärtigen Behandlungssituation eine tragende Rolle, „als die beobachteten Verhaltensweisen zu früheren Situationen in Beziehung gesetzt werden“ können und „frühe Störungen im sozialen Austausch aufzudecken.“ (ebd., S. 47) Dabei geht es um die Erfassung mikrostörungsrelevanter Kommunikation, die Außenstehenden nichtig, nicht vorhanden oder geringfügig erscheinen mögen und das Kind in seinem Handeln bedrohen, seine darauf folgenden Reaktionen unverständlich erscheinen lassen. Dieser kommunikative Aspekt wird mit Fragebögen nicht erfasst, nicht reflektiert, völlig übergangen.

Das Kind benötigt „ein ausreichendes Maß an Empathie“ bei seinen Bezugspersonen, um sich „neuen Erfahrungen öffnen zu können.“ (ebd.) Geschieht dies nicht, wird das Kind nach psychoanalytischem Verständnis mit seinen unverstandenen Assimilationsbestrebungen „auf sehr archaische Regulationsmechanismen zurückgreifen.“ (ebd.)

Psychoanalytische Positionen in genannten Sinn werden bis heute im universitärem Raum und anderen psychosozialen Ausbildungsgängen häufig reduziert vermittelt durch Lehrpersonen, denen selbst nur ein sehr eingeschränktes Bild der Psychoanalyse vermittelt wird (vergl. Eichenberg). Selten lehren Psychoanalytiker Psychologie. So blieb und bleibt Psychoanalyse in der Vermittlung häufig reduziert auf die Triebtheorie und Grundlagen von Freud und im Vergleich dazu Adler. Psychoanalytische Entwicklungen und Fortschreibungen sind nicht in den Lehrkanon aufgenommen, heute unter Psychoanalytikern bekannte Namen (s. u.) sind außerhalb psychoanalytischer Kreise nur Wenigen bekannt und deren Inhalte noch Wenigeren. So ist es nicht verwunderlich, dass die Ablehnung der Psychoanalyse als moderne Wissenschaft bis heute auf einer Kritik an Freud aufbaut und auf ihn aufbauende Theorien vollkommen auszublenden versucht.

3. Begriffsbestimmung ‘ADHS’

‚ADS’, ‚HKS’, ‘ADHS’ oder ‚ADHKS’ oder doch ‚ADHD’? „Termini wie „Hyperaktivitätsstörung“, „Hyperkinetisches Syndrom“ oder „ADS“ schaffen Verwirrung, weil sie sich in ihrer Terminologie an unspezifischen Symptomen orientieren, ätiologisch unspezifisch sind und vor allem auch für eine differenzierte therapeutische Orientierung unbrauchbar sind, weil sie symptomatische Behandlungsstrategien provozieren.“ (Gerspach, 2002, S. 61)

Die „Halbwertzeit“ der unterschiedlichen Begrifflichkeiten wäre – so Heinz - nicht weiter schlimm, „wenn sie von ihren Erfindern und Benützern nicht als ernsthafte Diagnosen verstanden würden“, mit denen „das so schwer verstehbare Verhalten der Kinder und Jugendlichen auf den Begriff gebracht“ wird: „ es wird als eine Krankheit begriffen mit einem bekannten Namen und wird so scheinbar begriffen.“ (Heinz, S. 315) Die Abkürzungen versuchen etwas kurz zu machen, was als ganzer Begriff für noch mehr Verwirrung sorgt, weil er unpräzise bleibt. „ADS oder HKS sind nicht gleichzusetzen mit all dem, worunter unaufmerksame oder unruhige Kinder leiden. Der Begriff allein erklärt gar nichts. Im Gegenteil – er suggeriert ein nicht vorhandenes Wissen und verschleiert die Ungewissheit.“ (Heinz, S. 325) Mit ADS und HKS summieren sich zwei Syndrome zu ‘ADHS’, zu einem ‚noch-mehr-Syndrom’ im Sinn von noch mehr Unklarheit. Entsprechend wird unspezifisch zur Behandlung etwas Multimodales unter unabdingbarer Einbeziehung einer Medikation gefordert. Der Begriff ‘ADHS’ beinhaltet möglicherweise die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, präzisiert aber keinesfalls das, was beim Kind vorliegt. (vergl. Heinz, S. 327/8)

Der Begriff des Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom kann meiner Meinung nach aus Sicht des Kindes an sich als falsch bezeichnet werden. Es ist nicht ein Defizit an Aufmerksamkeit, dass Kinder aufbringen, sondern vielmehr ein Aufmerksamkeitshypersyndrom. Nach außen hin fallen diese Kinder deskriptiv auf, indem sie nicht die geforderte oder erforderliche Aufmerksamkeit bei der Bewältigung einer von außen an sie herangetragener Aufgabe zeigen. Sie entsprechen damit nicht den Erwartungen ihrer Umwelt; Die Begrifflichkeit ist demnach aus der Erwartungshaltung der sozialen Umwelt des Kindes heraus definiert. Was im Inneren der Kinder dabei vor sich geht, spielt für die Beobachtung von außen zunächst keine Rolle. Ob innere Konfliktlagen ggf. die Aufmerksamkeit der Kinder absorbieren, bleibt zunächst ungeklärt.

Oft sind Kinder mit ‘ADHS’ superaufmerksam, sie nehmen viel zu viel sehr penibel wahr und haben Schwierigkeiten bei der inneren Differenzierung dieser mannigfaltigen Eindrücke. Ihr Gehirn nimmt ungefiltert Massen an Informationen wahr und es ließe sich die Frage stellen, ob das ein hirnfunktionelles Problem sei, ob es innerpsychische Konfliktlagen sind oder ob äußere Faktoren das Kind dermaßen überfordern, dass es unbewusst ‚meint’, alles wahrnehmen zu müssen, um psychische Überforderung ausblenden, verdrängen zu können. Bei einer Biologisierung des Begriffs müsste man bei dieser Annahme von einer Reizüberflutung eines Jägers in einer Gefahrensituation sprechen: Er ist steif vor Schreck und muss sich die Anspannung anschließend, als körperliche Reaktion auf das traumatische Ereignis, abzittern, abzappeln, um wieder zur Ruhe zu kommen. In diesem Beispiel wäre die Hyperaktivität eine natürliche Reaktion auf eine Überforderungssituation im Sinn einer traumatischen Reaktion. Der Jäger wäre für den Kampf gewappnet. Vielleicht findet im Kind ein innerer Kampf statt, der es auf innere Höchstspannung bringt? Das Defizit würde sich so jedenfalls nur nach außen zeigen, weil der innere Aufmerksamkeitsfokus ganz woanders liegt.

Deutlich werden die unterschiedlichen Perspektiven beim Blick auf das Verständnis für das Kind mit ‘ADHS’: Den Blick von außen oder von innen.

Der ICD-10 gruppiert Hyperkinetische Störungen in die Kategorie „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (ICD-10, S. 212) ein. Hyperkinetische Störungen sind im ICD-10 unterteilt in

- Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung,
- Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens,
- Sonstige hyperkinetische Störungen und
- Hyperkinetische Störungen, nicht näher bezeichnet.

Charakterisiert werden die hyperkinetischen Störungen „durch einen frühen Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren, einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität. Verschiedene andere Auffälligkeiten können zusätzlich vorliegen.“ (ebd.) Folgend werden soziale Verhaltensauffälligkeiten erwähnt, die zu sozialen Schwierigkeiten gegenüber Erwachsenen und Gleichaltrigen führen und damit bereits reziproke Auswirkungen vorher beschriebener Handlungen als Diagnosemerkmal beschreiben – insofern begreifen sie die Reaktion der Umwelt als durch das Verhalten des Kindes verursachte Reaktionen und nehmen damit einem wechselseitig bedingten Entstehungshintergrund die Schärfe zulasten einem ‚Defekt’ beim Individuum. „Sämtliche für die Diagnose relevanten Merkmale liegen in der psychosozialen Dimension. Bereits an dieser Stelle liegt die Vermutung einer Biologisierung abweichenden Verhaltens nahe.“ (Wenke, S. 66) Während die Verhaltenstherapie Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten als Symptomträger einstuft, beziehen systemisch-analytische Sichtweisen die soziale Umwelt des Kindes als potentiell mit verursachende Quelle für dann beim Kind - als schwächstes Glied eines sozialen Systems – entstehende Verhaltensauffälligkeiten ein.

Die beim ICD-10 skizzierten Beobachtungen weisen allesamt auch auf die Möglichkeit einer möglicherweise vorliegenden Bindungsstörung hin, die in ihrer Definition allerdings die mögliche Ursächlichkeit in einem für das Kind schädlichen frühen Umfeld mit in Betracht ziehen. So gibt es die ‚reaktive’ Bindungsstörung, die als Symptom eine vorliegende Reaktion impliziert. Interessanterweise wird diese Möglichkeit beim Hyperkinetischen Syndrom gar nicht erwähnt. Die Skizzierung hat allein das Kind im Blick, also die Symptomatik, die nach psychoanalytischem Verständnis aus einer Konflikthaftigkeit im inneren Erleben als Leistung des Ichs erwächst. Auch eine neuere Studie über „Vorboten hyperkinetischer Störungen“ (Esser et al.) sieht als „spezifische Risikofaktoren … die Herkunft der Mutter aus zerrütteten Verhältnissen (Heimaufenthalte, häufiger Wechsel der Bezugspersonen) als der bedeutsamste Prädiktor hyperkinetischer Störungen in Abgrenzung zu unauffälligen Kindern und solchen mit emotionalen Störungen.“ (S. 128) Entsprechend sieht die Studie „eine Kombination aus frühen Verhaltensauffälligkeiten, einen ungünstigen Erziehungsstil und der Häufung psychosozialer Risikofaktoren“ begünstigend für „die Ausbildung einer hyperkinetischen Störung“. (S.129)

Präziser gegenüber dem ICD-10 definiert das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition, Text Revision (DSM-IV-TR) das ‘ADHS’ aufgrund seiner Unterteilung in Subtypen. „Während bei der HKS nach ICD-10 (15) sowohl Unaufmerksamkeit als auch Überaktivität vorliegen müssen, eröffnet das DSM-IV (1) die Möglichkeit, auch Subtypen zu klassifizieren, die entweder nur die Aufmerksamkeitsstörung oder nur die Merkmale Hyperaktivität/ Impulsivität umfassen. ... Diese Unterschiede sind dafür verantwortlich, dass bei einem Vorgehen nach DSM-IV rund doppelt so viele Kinder die Diagnose erhalten wie nach einem Vorgehen nach ICD-10.“ (Remschmidt/ Heiser, S. 2) Neuhaus merkt ergänzend an, „dass immer mehr akzeptiert werden muss, dass ‘ADHS’ eben nicht nur eine ‚psychiatrische Problematik’ ist, sondern sehr deutlich auch eine motorische Komponente hat.“ (S. 4) Sie geht davon aus, dass motorische Entwicklungsdefizite vorliegen, die sich im Sinn einer motorischen Retardierung „nicht nur durch Übung und Beüben, sondern offensichtlich auch durch Reifung“ (ebd.) verbessern. Dabei geht sie vermutlich von vorliegenden psychomotorischen Schwierigkeiten aus, die sich durch Reifung des Hirns oder doch Auswirkungen steter Übung verzögert einstellen. Belegt ist heute, dass zur Reifung des Gehirns eine akzeptierende emotionale Bindung, Haltung der Bezugspersonen gegenüber dem Kind notwendig ist (vergl. Hüther).

Ich werde stets den Begriff Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom (‘ADHS’) verwenden, weil er umfassend der ICD-10 Definition entspricht und ‚umfassend verschleiernd’ die Unschärfe der Symptomatik, die sich meiner Meinung nach hinter der Verschleierung durch den Begriff ‚Syndrom’ verbirgt, am ehesten gerecht wird bzw. nicht versucht, eine Präzision der Begrifflichkeit vorzutäuschen, deren „Diagnose auf einem unpräzisen System, bei dem es um die Häufigkeitsdichte von Verhaltensweisen geht, die ansonsten für normal angesehen werden“ (DGR, 2002, 78, zitiert in Wenke, S. 67) basiert.

Die Skizzierung vom ‘ADHS’ durch „eine Gruppierung von Verhaltensweisen ohne gemeinsame Ursache, die unter anderen Umständen als normal gelten, zum ‚Syndrom’ ist noch keine Diagnose. (Wenke, S. 69). Deshalb erscheint mir der Versuch, durch Weglassung oder Hinzufügung eines Buchstabens bzw. einer dadurch benannten Verhaltensauffälligkeit zur ‚Diagnose ‘ADHS’’ (ADS, HKS, ADHKS) vermeintlich Genaueres ausdrücken zu wollen, überflüssig. Die Skizzierung kann nur so unscharf bleiben wie ihre Diagnose. Aus diesem Grund verwende ich nicht die differenzierten Begrifflichkeiten des DSM-IV. Beide Diagnosemanuale beschreiben ein Syndrom – da es mir um die Herausarbeitung ursächlicher Symptome geht, verzichte ich auf eine Syndromunterteilung.

4. Psychoanalytische Positionen beim Verständnis von ‘ADHS’

Psychoanalytisches Erleben und Denken legt ein Konfliktmodell zugrunde. „Spezifische intrapsychische und interpersonale Konflikte und Strukturdefizite“ (Heinemann/ Hopf, S 7) tragen zur Symptombildung bei.

Aus psychoanalytischer Sicht liegen die „zentralen Konflikte ... in Bindungs- und Trennungsstörungen, Störungen der Selbst- und Objektabgrenzung (Individuationsstörung), in einer Sexualisierung und Aggressivierung als Abwehrleistung und in einem Reizschutz gegen Depression.“ (Heinemann/ Hopf, S. 7/8) „Hyperaktivität gehört, so gesehen, zu den narzisstischen Störungen.“ (Heinemann/ Hopf, S. 102), da – so die folgende heilpädagogische Hypothese – „aus psychodynamischer Perspektive … mit Hilfe des kontrollierenden bzw. parentifizierten Verhaltens aus der zugrunde liegenden Beziehungsunsicherheit (Fehlen einer sicheren Basis) resultierende Ängste, Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle bzw. Abhängigkeits- und Anlehnungsbedürfnisse abgewehrt“ (Dülks, S. 189) werden. Diese Verdichtung psychoanalytischer Grundannahmen findet sich in den folgenden Unterteilungen einzeln aufgefächert wieder.

Was bedeuten diese einzelnen Konfliktebenen beim Verständnis von ‘ADHS’? Sie präzisieren zunächst mögliche Ursächlichkeiten für das Erscheinungsbild des ‘ADHS’. Dadurch trägt die Psychoanalyse bedeutsam zu einer genaueren Sicht auf die Individualität und die familiär-gesellschaftliche Verflochtenheit des Kindes mit ‘ADHS’ und seiner Familie bei.

Zur Erklärung stelle ich komprimiert die unterschiedlichen und doch immer wieder zusammenfließenden, nur schwer voneinander zu trennenden, Konfliktfelder einzeln dar, die auffällige Erlebens- und Verhaltensweisen als soziales Phänomen sehen, das von spezifischen Interaktions-, Wahrnehmungs- und Definitionsprozessen abhängt.

Ich führe die einzelnen Theorien in der historischen Reihenfolge ihrer Entstehung an. Letztendlich bauen die Theorien ineinander auf, da die jeweils zeitlich neuere Forschung das Verständnis der vorherigen These aufgrund ihrer Forschungsinhalte bestätigen bzw. nachweisen kann. So greift die psychoanalytische Sichtweise des ‘ADHS’ auf eine lange Forschungsgeschichte zurück, die sich im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, dieser teilweise wiederum erst aus nationalen gesellschaftlichen Entwicklungen der jeweiligen Herkunftsländer der Forscher verstanden werden kann, verstehen lässt. Man könnte annehmen, dass der Begriff ‘ADHS’ der Versuch einer bündelnden Zusammenfassung bis dahin multipler Verursachungs- und Verstehenshintergründe darstellt. Allerdings ist der Begriff anders – als psychoanalytisch verstanden – ‚besetzt’ und vertuscht die in der Psychoanalyse immer gepflegte Tradition des Versuchs der Genauigkeit auf dem jeweils individuellen Hintergrund.

Die englische Schule, entstanden durch die Emigration von Siegmund Freud und seiner Tochter Anna Freud nach England, prägte fortführend von Winnicott und Bowlby begründete, bis heute anerkannte – und interessanterweise durch heutige naturwissenschaftliche Forschung sich bestätigende - Theorien. Anna Freud setzte Arbeiten ihres Vaters fort und formulierte die Abwehr-Lehre seelischer Konflikte ausführlich. Als Erweiterung allein subjektiver Erlebenswelten entwickelte Melanie Klein die Objektbeziehungstheorien, die sich mit dem Verhalten des Objekts und deren Auswirkungen auf das subjektive Erleben auseinandersetzt. Mit dieser Theorie erhielt die dialogische Verantwortung für die Entstehung seelischer Welten mehr Bedeutung.

In weiter Folge entwickelte sich als psychoanalytische Strömung, gerade hinsichtlich psychoanalytischer Arbeit mit Kindern, die Richtung der ‚Kinder-Forscher’ oder ‚baby-watcher’, der Mahler, Bowlby, Winnicott, Stern zuzurechnen sind. Mit diesen Forschern schloss sich der Kreis zur Naturwissenschaft, da nunmehr konkrete Beobachtungssituationen erfasst und systematisch ausgewertet wurden. Darauf aufbauend haben sich moderne Forschungszweige aus anderen Fachgebieten (Medizin/ Biologie) wie die Neurowissenschaften aufgebaut, die innerlich erfassen können, was bisher äußerlich beobachtet wurde.

4.1. Störungen der Selbst- und Objektabgrenzung

Lars, 11 Jahre alt, wird von beiden Elternteilen zur psychotherapeutischen Behandlung vorgestellt. Er ist bereits in kinderpsychiatrischer Behandlung, erhält hoch dosiert Medikamente zur Eindämmung seines ‘ADHS’ durch das er in der Schule stark stört und zuhause nicht mehr steuerbar ist. Einerseits sind die Eltern mit der Medikation nicht einverstanden, andererseits wissen sie sich aber nicht anders zu helfen. Lars soll und muss funktionieren. Von Geburt an. Er selbst ist sehr aufmerksam bei dem Erstgespräch dabei, hört genau zu und kommentiert Ausführungen seiner Eltern. Er wünscht keine psychotherapeutische Behandlung, sieht sich aber genau in den Räumlichkeiten um.

Lars ist einziges Kind seiner Eltern, einem Gastwirtehepaar, das über der Gaststätte wohnt, in der beide berufstätig sind. Die Eltern der Mutter helfen bei der Erziehung aus, sind ausgesprochen nachgiebig, die Mutter pendelt zwischen Wohnung und Arbeitsplatz mit schlechtem Gewissen hin und her: Entweder wird sie ihre Ansprüchen an die Erziehung ihres Sohnes nicht gerecht oder sie erfüllt nicht die Ansprüche ihres Mannes, der sie dringend zur Mitarbeit in der Gastwirtschaft benötigt. So schaltet sie Lars oft und anhaltend den Fernseher ein, damit er seine Mutter nicht so vermisst und ruhig ist, während sie arbeiten geht. Anfangs erschien Lars häufig im Gastraum und suchte die Nähe zu seinen Eltern. Er wurde wieder in die Wohnung geschickt, wo seine Großmutter ihn – zu ihrer eigenen Beruhigung – vor den Fernseher setzte und ihm Essen anbot. So gewöhnte sich Lars an eine mediale Welt, setzte alle Erwachsenen mit seinen Wünschen und einer Verweigerungshaltung unter Druck und macht eigentlich – sehr auf sich allein gestellt – was er will, was sich laufend in deutlichen Grenzüberschreitungen mit Gleichaltrigen im Dorf zeigt und die Umwelt appellativ zum haltenden, begrenzenden Handeln auffordert.

Er will nicht zur Behandlung kommen, nur, wenn sein Meerschwein mit kommen dürfe, zu dem er sich sehr zärtlich und sehr quälerisch äußert. Trotz der Erlaubnis kommt er nie mit dem Meerschwein, löst sich nur mit einem klaren Abschiedwort des Vaters von diesem zu Beginn der ersten Stunden und sitzt dann an einem Spieltisch, nicht wissend, was er mit dem Angebot der Räume und dem Angebot des Gegenübers anfangen soll. Sehr deutlich ist in der Gegenüberragung seines Hilflosigkeit spürbar, sich einerseits auf einen Beziehung einlassen zu wollen, andererseits über kein Repertoire zu verfügen, diese anzugehen oder zu gestalten. Er sieht auf die Uhr und überlegt, wie lange die verbleibende Zeit noch andauern wird drückt damit seine Not aus, nun eine Beziehung ohne elektronisches Medium gestalten (und genau vorgegebener TV-Zeiten) zu sollen. Er ist nach kurzer Zeit während der Stunde und auch - so berichten die Eltern – die Zeit des Tages danach augenscheinlich ruhiger als sonst. Die Kontaktnahme von Lars ist von starken Ambivalenzen geprägt, einer deutlich zu spürenden Anspannung, die er bisher mit Unruhe korporalisierte.

Lars wurde und wird - aktualisiert durch die Trennung der Eltern mit erheblichen Konfliktherden und –potentialen – immer wieder hin und her gerissen zwischen seinen Eltern, die selbst hin und her gerissen zwischen ihrem Beruf und elterlichen Wünschen (auch ihrer eigenen Eltern an sie als nun handelnde Eltern) pendeln. Erschwerend kommt für Lars die Uneinigkeit seiner Bezugspersonen hinzu, die sich untereinander alle streiten und sich durch die Notsituation zu leistender Erziehung zusammen raufen und damit andere herrschende Konflikte überdecken können (so hat z. B. der Vater von Lars die Gastwirtschaft seiner Schwiegereltern übernommen, die aber nicht von seiner Geschäftsführung angetan sind). Bei Lars ist in diesem Hin und Her eine „Pseudounabhängigkeit“ (Heinemann/ Hopf, S. 109) entstanden, mit der er sich immer wieder in die Fremde, nach draußen, begibt und dort in Situationen gerät, mit denen er den Schutz und Beistand seiner Eltern provozierend inszeniert (die ihn dann aber aufgrund dessen nur erneut wieder ablehnen). Lars erfuhr keinen Halt durch seine Eltern, die selbst sehr haltlos erscheinen. So kann Lars sein „Defizit an Zuwendung ... durch eine verstärkte Wahrnehmung des eigenen Körpers kompensiert“ (ebd.) haben, und durch „die gesteigerte Körperwahrnehmung ... Ängste des Selbst- und Objektverlusts“ (ebd.) abzuwehren. So kann bei Lars „das hyperkinetische Syndrom ... in seinem Hin und Her Ausdruck des Schwankens und Oszillierens zwischen narzisstischer Verbundenheit mit den Mutterbildern und einer Öffnung in Richtung auf eine eigenen Identität und Individuation“ (ebd.) verstanden werden. Er möchte auch seinem Meerschwein eine gute Mutter sein und verliert sich – in Identifikation mit dem Handeln seiner Eltern – im Außen auf der Suche nach sich und seinem (s)Selbst. Mit Winnicott’s Worten benötigt Lars „Gelegenheit zur Entwicklung eines Ichs, zur Integration des Ichs als Körper-Ich; das Ich kann auch zum ersten Mal eine äußere Umwelt ablehnen, während Beziehungen zu Objekten in Gang kommen. Zum ersten Mal kann es Es-Impulse erleben und sich dabei, aber auch während es sich vom Erleben ausruht, wirklich fühlen.“ (1955, S. 224) So sehr diese Bemühungen von Lars ansatzweise in Abgrenzung von seinen Eltern und der wirklich nur sehr zögerlich zu bezeichnenden Beziehungsaufnahme zu sehen sind, so lange wird sein Weg zur Integration eines Körper-Ich andauern.

4.2. Abwehr depressiver Gefühle mit Sexualisierung und Aggressivierung

Depressive Gefühlszustände zeigen sich gewöhnlich in trauriger Stimmung und/ oder Apathie. Bei Kindern können sie sich auch in ganz anderem Gewand zeigen: Sie verstecken sich hinter Aggressionen oder dem Erscheinungsbild vom ‘ADHS’. Diese für Depression eher untypischen Verhaltensauffälligkeiten werden von Eltern und Fachleuten oftmals verkannt und aufgrund ihres auffälligen Agieren mit Erscheinungsbildern anderen neurotischer Störungsformen diagnostisch fehl gedeutet. Die Gefahr, dass bei starken Verhaltensauffälligkeiten wie z. Bsp. ‘ADHS’ eine vorhandene depressive Symptomatik quasi unsichtbar hinter der vordergründigen Symptomatik steckt und dadurch übersehen wird, ist groß. ‘ADHS’ würde demnach als Überdeckung einer ‚stilleren’, ganz anderen Symptomatik dienen, die diese zu verschleiern versucht. Symptome einer depressiven Gefühlsverstimmung wie z. B. „Verträumtheit, Unkonzentriertheit und Autoaggression der Mädchen“ zeugen „von narzisstischen Rückzug und Depression, die Bewegungs- (S. 121) Unruhe und Aggression der Jungen wehrt dagegen manisch eine zugrunde liegende Depression ab.“ (Heinemann/ Hopf, S. 121/2)

Die Autoren beziehen sich dabei auf Winnicott, der 1954 dieses Phänomen beschrieben hat: „Im Umgang des Individuums mit dieser Niedergeschlagenheit, die spezifisch mit Ängsten der depressiven Position verknüpft ist, gibt es einen bekannten Ausweg: die manische Abwehr. In der manischen Abwehr wird alles Ernsthafte negiert. Der Tod wird zur übertriebenen Lebhaftigkeit, Stille wird zum Lärm, es gibt weder Kummer noch Besorgnis, weder konstruktive Arbeit noch ruhevolle Muße. Dies ist die Reaktionsbildung, die zur Depression gehört, und man muss sie als ein eigenes Konzept untersuchen. Wenn man ihr klinisch begegnet, heißt das, dass die depressive Position erreicht worden ist und dass sie in der Schwebe gehalten und negiert wird, aber nicht verloren gegangen ist.“ (S. 291) Erlebte Ruhe beunruhigt und sorgt für Aktivität, um Unruhe zu erleben, damit die erlebte und gefürchtete innerer Ruhe abgewehrt werden kann. So würden beispielsweise oftmals propagierte Entspannungsübungen Kinder mit ‘ADHS’ eher beunruhigen, denn zur Ruhe bringen. Sobald der physische Tonus herabsinkt, geraten diese Kinder in eine Unruhe, wird ihre psychische Abwehr unterlaufen. Dieser kontraindizierte Therapieversuch wird angeboten, weil lediglich die Oberfläche des ‘ADHS’ gesehen und erlebt wird und nicht das Innen(er)leben betroffener Kinder.

„Durch das In-Aktion-Bleiben werden unerträgliche depressive Affekte und Leeregefühle abgewehrt und eine Beziehung zu sich selbst aufrechterhalten ...“ (Heinemann/ Hopf, S. 122)

Depressionen im Kindesalter werden selten erkannt, weil es jüngeren Kindern schwer fällt, diese sprachlich mitzuteilen. Zudem gibt es häufig eine Wechselwirkung zwischen Kindern mit depressiven Symptomen und Eltern mit depressiven Störungsbildern. So wird die Diagnostik erschwert, da Eltern oftmals keinen ausreichenden Einblick in bestimmte Symptome und Erlebnisweisen ihrer Kinder haben und die Ausprägung einer frühen Depression unterschätzen bzw. auch dazu neigen, diese aufgrund ihres eigenen Krankheitsbildes zu verleugnen. So kann durch das ‘ADHS’ bei Kindern „auch die Depression der Mutter abgewehrt werden.“ (ebd.)

4.3. Bindungs- und Trennungsstörungen

„Bindungsstörungen können als eine wesentliche Ursache für Unaufmerksamkeitsstörungen und Überaktivität gesehen werden.“ (Heinemann/ Hopf, S. 103)

Bindung ist ein Interaktionsprozess, der pränatal beginnt und ca. mit dem dritten Lebensjahr, also im vorsprachlichen Zeitraum, abgeschlossen ist. In diesem Zeitraum der frühkindlichen Entwicklung ist das Kind am stärksten auf die Versorgung seiner Primärbedürfnisse durch eine Hauptbezugsperson angewiesen. Mit dem Beginn des Spracherwerbs setzt wahrscheinlich auch unsere bewusste Erinnerung ein. Die Zeit bis dahin ist vorwiegend körperlich repräsentiert. Entsprechend der Regressionsidee zeigen sich im späteren Lebensalter seelische Störungen, die in dieser Zeit mit ursächlich ausgelöst wurden, durch eine körperliche Symptomatik. ‘ADHS’ kann als eine mögliche Ausdrucksform betrachtet werden. Der Begriff der ‚sicheren Bindung’ ist – womöglich mit der verstärkten Debatte um das ‘ADHS’ – zu einem zentralen Begriff der Psychologie geworden. Insbesondere ist durch die Säuglingsforschung seit Beginn des 20. Jahrhunderts das „Wissen über die Bedeutung und Wirkung frühester Interaktionserfahrungen ... rapide gewachsen. Heute müssen sich Psychoanalytiker, Lerntheoretiker und Systemiker mit der Wichtigkeit biologischer Bindungsorganistation und der Unzulänglichkeit konstruktivistischer Ansätze im Traumabereich auseinandersetzen. Wirklichkeit wird nicht willkürlich oder zufällig erfunden, vielmehr hat die Konstruktion subjektiver Realität mit der Geschichte früher Bindungserfahrungen zu tun. (Christ, S. 88). Diese Feststellung kann für das ‘ADHS’ übernommen werden.

‚Bindung’ im Sinn vom englischen Biologen und Psychoanalytiker Bowlby „postuliert ein biologisch angelegtes Bindungssystem, das in Gefahrensituationen aktiviert wird und so genanntes Bindungsverhalten auslöst.“ „Bindungsverhalten“ ist „unabhängig von Ernährungs- oder Sexualverhalten“ und „entspricht also nicht etwa einem generellen ‚Abhängigkeitsbedürfnis’.“ Es hat „sein Gegenstück im biologisch präformierten Pflegeverhalten Erwachsener.“ „Die ontogenetische Ausgestaltung findet in den ersten sechs Lebensmonaten statt und ist von den konkreten Eigenschaften der jeweiligen Pflegeperson während dieser Zeit abhängig.“ (Köhler, S. 225) Bindung ist demnach wechselseitig bedingt und vor allem durch das Verhalten Erwachsener, in der Regel Eltern, ein prägender Prozess. Diese Tatsache findet in der biologistischen Sichtweise des ‘ADHS’ keine Berücksichtigung. Bindung wird nicht als biologischer Prozess angesehen, die Auswirkungen auf das neurophysiologische System werden negiert.

Es gibt für Säuglinge innere Gefahrenmomente wie Krankheit, Schmerz oder Müdigkeit und äußere Bedrohungen wie Trennung, Unsicherheit und Reizüberflutung. Ein Kind erschließt sich die Welt durch die Interaktion mit seiner Hauptbezugsperson und verschmilzt mit dieser in einem Identifikationsprozess. Aus dieser Verschmelzung nimmt das Kind als Entwicklungsaufgabe permanent Abschied und wächst in die Eigenständigkeit. Eine ungünstige Interaktion erschwert entsprechend das ‚Zu – sich – finden’ nach innen und außen. Bindungsverhalten balanciert das Wechselspiel beider Beteiligter zwischen den Antipoden Sicherheit und Erkundung sowie Bindung und Autonomie aus. Äußere Interaktion wird zu einer inneren Erwartung des Kindes, „Erwartungen dessen was kommen wird, und Verhaltensprogramme, die gestatten, damit in optimal angepasster Weise umzugehen.“ (Köhler, S. 222) Köhler (1992) beschreibt an anderer Stelle, die Bedeutung rhythmischer Erfahrungen für das Kleinkind: „Für die Ausprägung der Bindung ist wesentlich, ob und inwieweit die Mutter im zeitlich für das Kind richtigen Rhythmus das Angemessene tut: D. H. teilt sie seinen Affekt, teilt sie auch dessen zeitliche Verlaufskontur und Intensität, also das, was Stern als Vitalitätseffekt bezeichnete. Quantitative Momente spielen dabei insofern eine beachtliche Rolle, als die Mutter den Intensitätsgrad, in dem das Kind sich ausdrückt, teilen, ihn übertreffen oder untertreiben kann.“ (S. 269)

„Je näher die Mutter mit ihren Pflegehandlungen den Eigenrhythmen des Säuglings kommt, desto schneller wird die Phasenübereinstimmung der Biorhythmen erreicht, desto eher kann das Kind ein Gefühl entwickeln, Ursache zu sein, und auf diese Weise seine Effektanz wahrzunehmen.“ (Köhler, S. 225)

Knut, 14 Jahre alt, als Säugling schwer körperlich von seinen leiblichen Eltern verletzt worden (ca, 25 unversorgte Brüche wurden bei ihm geröntgt), erfuhr neben den körperlichen Qualen über Jahre keine angemessene Versorgung in früher Kindheit. Er wurde sich selbst in der Familie selbst überlassen, nachdem schon seine Schwangerschaft nicht durch Alkoholabusus beendet werden konnte.

Im Rahmen der Therapie, zu der er vordergründig aufgrund der psychiatrisch erstellten Diagnose ‘ADHS’ vorgestellt wurde, kam es zu Urlaubsunterbrechungen. Zudem ‚vergaß’ die Pflegemutter Knut mehrere Male pünktlich abzuholen. Anfangs wartete Knut stundenlang ohne etwas zu sagen vor der Praxis. Nachdem der Therapeut dies bemerkt hat, ihn wieder zu sich bat und die Mutter in seinem Beisein telefonisch verständigte, begann Knut zunächst, seine Telefonnummer auswendig zu lernen, auf die Zeit zu achten (er konnte bis dahin die Uhr nicht lesen), selbst an das Telefon zu gehen und seiner Pflegemutter ihr Vergessen vorzuhalten. Er erfuhr, dass sein Erleben ‚richtig’ ist, er das Kommen der Pflegemutter zurecht mit eigener Kraft erwirken konnte und erhielt von dieser – wie zuvor vom Therapeuten – die Bestätigung, dass sein Erleben und sein Handeln absolut richtig von ihm erlebt wird und angemessen ist. Aufgrund dessen nahm Knut auf einmal Urlaubsunterbrechungen wahr, warf am Ende der Therapiestunden den Blick auf die nächste Stunde. Er begann seine Welt durch die Stundenfrequenz zu unterteilen in ‚von dann bis dann’, da er in den Therapiesitzungen die innere Anteilnahme und Zuwendung erfuhr, die ihm in früher Kindheit verwehrt blieb.

[...]

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
'Frühe Störungen' - Eine psychoanalytische Betrachtung zum Missverständnis von Diagnose und Behandlung beim 'Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom'
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,1
Autor
Jahr
2008
Seiten
86
Katalognummer
V113937
ISBN (eBook)
9783640136858
ISBN (Buch)
9783640137077
Dateigröße
760 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frühe, Störungen, Eine, Betrachtung, Missverständnis, Diagnose, Behandlung, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom
Arbeit zitieren
Harald Bussenius (Autor:in), 2008, 'Frühe Störungen' - Eine psychoanalytische Betrachtung zum Missverständnis von Diagnose und Behandlung beim 'Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113937

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