In den letzten Jahrzehnten ist die Frage nach Identität im Mittelalter in der mediävistischen Literaturwissenschaft vermehrt ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt, wobei besonders die Identitätskonzepte des höfischen Romans Aufmerksamkeit erhalten. Hartmanns zweiter Artusroman "Iwein", der auf der altfranzösischen Vorlage "Yvain" von Chrétien de Troyes basiert, ist im Zusammenhang mit der Identitätsbildung des titelgebenden Protagonisten wiederholt Gegenstand der Literaturwissenschaft gewesen. Dennoch ist die Forschung bis dato zu keinem Konsens in der Beurteilung des um 1200 entstandenen höfischen Romans gekommen. Daher ist das Ziel dieser identitätsanalytischen Arbeit, zu prüfen, ob und zu welchem Grad Iwein am Ende des Epos eine neue sublimierte Identität aufbaut und annimmt. Um die Identitätsmodifikation des Protagonisten nachvollziehen und beurteilen zu können, ist eine textnahe Interpretation unabdinglich. Zuvor muss jedoch der Begriff der (fiktionalen) Identität definiert werden. Des Weiteren werden Identitätskonzepte im Mittelalter von Identitätskonzepten in der Neuzeit abgegrenzt, um zu verhindern, dass moderne Vorstellungen auf eine vormoderne literarische Figur projiziert werden. Der Großteil dieser Arbeit widmet sich der identitätsanalytischen Interpretation von Hartmanns Werk, welche anhand von drei Identitätsgenesen versucht, die Identitätsbildung des Protagonisten nachzuvollziehen und zu beurteilen. Besonders im Hinblick auf Iweins Identitätsbildung bestehen zwei Forschungspositionen, die entweder für oder gegen Iweins Erlangen von „größerer Vollkommenheit“ argumentieren. Um einen kurzen Einblick in diese Diskussion zu gewährleisten, werden an dieser Stelle zwei Positionen gegenübergestellt. Auf der einen Seite wird eine Weiterentwicklung seitens Iwein verneint, da der mittelalterliche Protagonist nicht als Individuum, sondern als Träger von spezifischen gesellschaftlichen Rollen dargestellt wird. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass Iweins Minne zu Laudine einen identitätsstiftenden Wandel im Protagonisten auslöst, der ihn schließlich von anderen Artusrittern und somit von der Gesellschaft unterscheidet. Die Arbeit argumentiert, dass Hartmann die konflikthafte Identitätsbildung des Protagonisten in den Vordergrund des epischen Prozesses stellt und zeigt darüber hinaus einen neuen, alternativen Mittelweg zwischen den etablierten Forschungspositionen auf.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung – literaturwissenschaftliche Relevanz
- 2. Identität - Definition und methodischer Zugriff
- 3. Identitätsbildung im Iwein
- 3.1 Erste Identitätsgenese: Der Artus- und Minneritter
- 3.2 Zweite Identitätsgenese: tôre in dem walde und rîter mittem leun
- 3.3 Dritte Identitätsgenese: der rîter mittem leun wird zu Îwein
- 4. Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht die Identitätsentwicklung des Protagonisten Iwein in Hartmanns gleichnamigem Artusroman. Sie analysiert, ob und in welchem Umfang Iwein am Ende des Romans eine neue, sublimierte Identität erlangt. Dabei werden die Identitätskonzepte des Mittelalters, insbesondere die Rolle der gesellschaftlichen Erwartungen und die Unterscheidung zwischen adligen und nicht-adligen Personen, in den Fokus genommen. Die Arbeit konzentriert sich auf die textnahe Interpretation der Identitätsbildungs-Prozesse, die sich in drei Phasen vollziehen.
- Identitätsbildung im Kontext der höfischen Gesellschaft
- Entwicklung des Selbstbildes in Relation zu gesellschaftlichen Rollen
- Die Bedeutung von Liebe und Abenteuer für Iweins Identitätswandel
- Unterscheidung zwischen individueller Identität und gesellschaftlicher Rolle
- Die Frage nach Iweins ethischer Entwicklung und seinem moralischen Status
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet die literaturwissenschaftliche Relevanz der Identitätsfrage im mittelalterlichen höfischen Roman und insbesondere in Hartmanns Iwein. Es werden verschiedene Forschungspositionen zur Frage der Identitätsbildung des Protagonisten vorgestellt.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der Definition von Identität, wobei die Herausforderungen einer einheitlichen Begriffsbestimmung sowie die verschiedenen Disziplinen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, beleuchtet werden. Es werden außerdem die Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Identitätskonzepten aufgezeigt.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Analyse der Identitätsbildung Iweins in drei verschiedenen Phasen. Hier werden die einzelnen Identitätsgenesen untersucht, um die Entwicklung des Protagonisten vom Artusritter über den "tôre in dem walde" bis hin zum "rîter mittem leun" nachzuvollziehen.
Schlüsselwörter
Identitätsbildung, höfischer Roman, Iwein, Hartmann von Aue, Mittelalter, gesellschaftliche Rollen, Identitätskonzepte, Artusritter, Liebe, Abenteuer, Moral, ethische Entwicklung, Individuum, Typus.
- Arbeit zitieren
- Jella Delzer (Autor:in), 2021, Identitätsbildung in Hartmanns "Iwein", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1139472