Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Melancholische Subjektkonstitution bei Freud
2.1 Inkorporationvonnicht-betrauertenLiebesobjekten
2.2 Ich-Spaltung durch Narzissmus und Gewissen
3 Heterosexuelle Melancholie bei Butler
3.1 Homosexuelles Begehren als nicht-betrauerter Verlust
3.2 Männlichkeit und Weiblichkeit als melancholische Ontologien
3.3 Aufführung der melancholischen Verluststruktur von Geschlecht in der drag performance
4 Schluss
Literaturverzeichnis
Anhang
1 Einleitung
Wenn eine Person in der Alltagswelt als melancholisch bezeichnet wird, so soll damit in der Regel der Eindruck eines momentanen Gemütszustands zum Ausdruck gebracht werden. Oftmals wird der Begriff der Melancholie dabei auch synonym für die Beschreibung einer traurigen Betrübtheit verwendet. Das Geschlecht der betreffenden Person scheint bei einer trivialen Betrachtungsweise nicht relevant für die Entstehung von melancholischen Zuständen zu sein.
Die vorliegende Seminararbeit widmet sich der psychoanalytischen Theorie zur melancholischen Verfasstheit. Zur grundlegenden Literatur auf diesem Gebiet gehört Sigmund Freuds Aufsatz Trauerund Melancholie aus dem Jahr 1917. Bis heute wird dieser Aufsatz vielfach rezipiert.
Die queerfeministische Philosophin Judith Butler greift Freuds Theorie für ihre dekonstruktivistischen Thesen zur normativen Regulierung der Geschlechtsidentität und des Begehrens über die heterosexuelle Matrix auf. Die Ausgangsfrage für diese Arbeit lautet, welchen Stellenwert Butler der Melancholie für die geschlechtliche Subjektwerdung in ihrem Werk einräumt. Es soll herausgearbeitet werden, weshalb sie sich in ihrer machtkritischen Haltung gegenüber dem heteronormativen Modell der Geschlechterbinarität auf das Konzept der Melancholie bezieht und in welcher Weise sie dieses für ihre eigene Theorie nutzbar macht.
Zunächst soll in Kapitel 2 das subjektkonstituierende Moment der Melancholie anhand einer theoretischen Einbettung von Freud nachgezeichnet werden. Hierzu wird der melancholische Modus im Verhältnis zum Prozess der Trauer definiert. Überdies werden sowohl die narzisstische Libido als auch das selbstkritische Gewissen als Instanzen der Melancholie beleuchtet.
In Kapitel 3 werden sodann die von Butler formulierten Implikationen für das heterosexuelle Subjekt herausgestellt. Es soll eingangs verdeutlicht werden, inwiefern das Verbot von Homosexualität als melancholische Verluststruktur zu verstehen ist. Zudem werden die heteronormativen Voraussetzungen ermittelt, die männliche und weibliche Identifizierungen als melancholische Ontologien hervorbringen. Abschließend wird evaluiert, ob und in welcher Weise die drag performance das melancholische Modell der Geschlechterbinarität subvertieren kann.
Diese Arbeit will die Aufmerksamkeit auf das unzureichende Maß des Betrauerns von gleichgeschlechtlicher Liebe lenken. In diesem Sinne möchte die Arbeit zu einer kritischen Selbstreflexion in Bezug auf die eigene Geschlechtsidentität anregen.
2 Melancholische Subjektkonstitution bei Freud
Dieses Kapitel widmet sich zunächst der Unterscheidung von Trauer und Melancholie bei Freud mit dem Ziel, den Prozess der Subjektivierung durch die Einverleibung von verlorenen Objekten nachzuvollziehen.
In einem weiteren Schritt sollen dann die Phänomene Narzissmus und Gewissen hinzugezogen werden, um eine umfassendere psychische Innenperspektive auf die melancholische Subjektspaltung einzunehmen.
Die Ausführungen Butlers werden die Thesen von Freud komplementieren.
2.1 Inkorporation von nicht-betrauerten Objekten
In seinem Aufsatz Trauer und Melancholie unternimmt Freud den Versuch einer Abgrenzung des Konzepts der Melancholie vom Begriff der Trauer. Während er die Trauer zunächst lediglich als „Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw."1 beschreibt, charakterisiert er den melancholischen Verlust mit folgenden Zuschreibungen:
Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert.2
Die durch den Verlust hervorgerufenen Affekte des melancholischen Subjekts verlagern sich demnach von der Beziehung zur äußeren Welt der Objekte auf das eigene Innenleben. Freud führt in seiner weiteren Argumentation aus, dass die genannten Symptome auch eine schwere Trauer kennzeichnen könnten und nennt in dieser Konsequenz das gestörte Selbstgefühl als das signifikante Merkmal einer Melancholie.3 Innerhalb der psychischen Struktur einer melancholischen Person bildet sich somit eine gegen das eigene Ich gerichtete Zurückweisung heraus, wie Freud anhand dieses sprachlichen Bildes illustriert:
Der Melancholiker zeigt uns noch eines, was bei der Trauer entfällt, eine außerordentliche Herabsetzung seines Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung. Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.4
Im Gegensatz zur Trauer um ein verlorenes Objekt, die laut Freud ein Bewusstsein über den stattgefundenen Verlust voraussetzt, könne das melancholische Subjekt ihren Objektverlust nicht vollständig realisieren.5 Die Verlusterfahrung wird demzufolge im Zustand der Melancholie nicht durch einen aktiven Trauerprozess verarbeitet.
Wie Butler in Rückgriff auf Freud konstatiert, inkorporiere das melancholische Subjekt das verlorene Objekt aus der äußeren Welt in die innere Struktur der Psyche, anstatt die verlorene Bindung zum Objekt zu betrauern und allmählich in Distanz zu diesem zu treten.6 Dadurch dass das Objekt im Selbst bewahrt und nicht aufgegeben wird, leistet es einen bedeutsamen Anteil zur Ich-Bildung:
Soweit Identifizierung die psychische Bewahrung des Objekts ist und solche Identifizierungen das Ich bilden, bewohnt und verfolgt das verlorene Objekt weiterhin das Ich als eine seiner konstitutiven Identifizierungen. In diesem Sinn wird das verlorene Objekt koextensiv mit dem Ich selbst.7
Butler wertet die melancholische Einverleibung als „eine Weise der Ableugnung des Verlustes"8 und meint damit die Verweigerung der Trauer. Indem das Subjekt sich weigert, die Realität des Verlustes anzuerkennen, gelingt es diesem nicht, ohne das verinnerlichte Objekt weiterzuleben. In der Trauer entstehe hingegen die Akzeptanz, dass ein Verlust die eigene Identität verändere.9 Die Fähigkeit zur Trauer wird damit zu einer notwendigen Voraussetzung, um die inkorporierten Anteile, die das Selbst in Mitleidenschaft ziehen, zu externalisieren. Das Modell der Melancholie demonstriere jedoch die Konstitution der eigenen Identität, die immer schon an die Aufnahme des Anderen in sich selbst geknüpft ist.10
In der psychoanalytischen Praxis offenbart sich allerdings die Schwierigkeit einer eindeutigen Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie. Wellendorf zufolge erweist sich auch die Trauerarbeit als „ein Prozess, in dem wir die Weise des Seins des Anderen in uns und unsere Beziehung zur Welt, die für immer ohne ihn sein wird, verwandeln"11. Dies steht dem Argument Freuds insofern nicht entgegen, als der durch die Erfahrung eines Verlustes induzierte Gemütszustand einer Person kontextgebunden und auf das Bewusstsein hin interpretiert werden muss. Schließlich können sowohl die Trauerarbeit als auch die melancholische Einverleibung als identitätsstiftende Prozesse in Erscheinung treten, die in Abhängigkeit zu vorangegangenen Verlusten stehen.
2.2 Ich-Spaltung durch Narzissmus und Gewissen
Freud nutzt den von Näcke 1899 in die psychiatrische Diskussion eingeführten Begriff des Narzissmus und greift damit das Phänomen der Selbstliebe auf, bei dem das Individuum sich selbst wie ein sexuelles Begehrensobjekt behandelt.12 Die melancholische Einverleibung mit dem verlorenen Objekt, die in Kapitel 2.1 beschrieben wurde, kann in diesem Sinne als narzisstische Identifizierung verstanden werden: Da die Liebe zum verlorenen Objekt des Begehrens idealisiert und als Relation internalisiert werde, könne das melancholische Subjekt die Beziehung auch ohne Beteiligung seines Gegenübers fortleben lassen.13 Es lässt sich daher schlussfolgern, dass die narzisstische Libido als Begleiterscheinung einer Melancholie auftreten kann.
Zugleich ist die Beziehung zu einem unbetrauerten Begehrensobjekt aufgrund der Verlusterfahrung als konfliktbehaftet zu bezeichnen. Diese prekäre Lage werde in der melancholischen Disposition, so die Auffassung Freuds, intrasubjektiv über den Mechanismus der Ichkritik ausgehandelt.14 Im melancholischen Selbst entstehe auf diese Weise eine Spannung zwischen dem Ich als Gewissensinstanz und seinem durch kritische Wertungen objektifizierten Anteil.15 Insofern lasse sich, so rekurriert Feldmann auf Abraham, das selbstkritische Gemüt der melancholischen Person auf die narzisstische Identifikation mit dem verlorenen Liebesobjekt zurückführen.16 Das Gewissen wird in der Rezeption von Freuds Schriften unterschiedlich bewertet. Tellenbach akzentuiert die prohibitive Funktion des Gewissens.17 Butler hingegen stellt heraus, dass das Gewissen zur Selbstreflexion befähige.18 Die bei der Melancholie unbewusst verlaufende Reflexion über den erlebten Verlust erachtet Butler als auslösendes Moment einer Spaltung des Subjekts:
Die Melancholie spaltet das Subjekt, indem sie die Grenze dessen markiert, auf was es sich noch einstellen kann. Weil das Subjekt über diesen Verlust nicht reflektiert, nicht reflektieren kann, markiert dieser Verlust die Grenze der Reflexivität, markiert er, was deren Zirkularität übersteigt (und bedingt). Als Verwerfung verstanden, inauguriert dieser Verlust das Subjekt und bedroht es mit Auflösung.19
Der Narzissmus und das Gewissen sind somit als psychische Phänomene zu verstehen, die insbesondere auf das melancholische Subjekt einwirken.
[...]
1 Freud, Sigmund: „Trauer und Melancholie" (1917J. In: Freud, Anna et al. (Hg.j: Gesammelte Werke. Bd. X - Werke aus denjahren 1913-1917, Frankfurt am Main 1999, S. 429.
2 Ebd.
3 Vgl. ebd.
4 Freud: „Trauer und Melancholie", S. 431.
5 Vgl. Ebd.
6 Vgl. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001, S. 126f.
7 Ebd., S. 126.
8 Ebd., S. 127.
9 Vgl. Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2012, S. 36.
10 Vgl. Butler: Psyche derMacht, S. 182.
11 Wellendorf, Franz: „Verletzbar durch Verlust und Endlichkeit - Trauern und Überleben". In: Ders.; Wesle, Thomas [Hg.J: Über die (UnJMöglichkeitzu trauern, Stuttgart 2009, S. 25.
12 Vgl. Freud, Sigmund: „Zur Einführung des Narzißmus" 1914, In: Freud, Anna et al. [Hg.J: Gesammelte Werke. Bd. X- Werke aus denjahren 1913-1917, Frankfurt am Main 1999, S. 138.
13 Vgl. Redecker (von), Eva: ZurAktualitätvonJudith Butler. Einleitung in ihr Werk, Wiesbaden2011, S. 89f.
14 Vgl. Freud: „Trauer und Melancholie", S. 435.
15 Vgl. ebd., S. 433.
16 Vgl. Feldmann, H.: „Hypochondrische Leibbezogenheit und Melancholie". In: Schulte, Walter; Mende, Werner (Hg.): Melancholie in Forschung, Klinik und Behandlung, Stuttgart 1969, S. 29f.
17 Vgl. Tellenbach, Hubertus: Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik, Berlin u.a. 1983, S. 83.
18 Vgl. Butler: Psyche derMacht, S. 26.
19 Ebd., S. 28.