Zurück zu den Anfängen? – Eine qualitative Untersuchung zur Wiederentdeckung der Geschlechtertrennung im gegenwärtigen Sportunterricht

Koedukation oder Geschlechtertrennung im Sportunterricht


Examensarbeit, 2008

124 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung Fehler! Textmarke nicht definiert

2. Sozialisationstheorien
2.1 Identitätstheorien
2.1.1 Identität nach Tajfel
2.1.2 Männliche und weibliche Geschlechtsidentitäten im Sport
2.2 Rollentheorien
2.2.1 Die Rollentheorie nach Parsons
2.2.2 Die soziologische Handlungstheorie nach Habermas
2.3 Konstruktivistische Theorien
2.3.1 Die Genderforschung
2.3.2 Doing Gender im Sport
2.4 Zwischenfazit

3. Koedukation im Sportunterricht
3.1 Terminologie ‚Koedukation’
3.2 Koedukationsgeschichte
3.3 Sportengagement von Jungen und Mädchen
3.4 Reflexive Koedukation
3.4.1 Grundlegende Überlegungen zur Mädchen - und Jungenarbeit
3.4.2 Mädchenförderung
3.4.3 Jungenförderung
3.5 Einstellungen zu koedukativem Unterricht
3.5.1 Einstellungen von Schülern zur Koedukation
3.5.2 Einstellungen von Lehrern zur Koedukation
3.6 Sportlehrerrolle

4. Zusammenfassung und Fragestellung

5. Forschungsdesign
5.1 Begründung der Methode ‚Problemzentriertes Interview’
5.2 Leitfadenkonstruktion
5.3 Stichprobe
5.4 Erhebungssituation
5.5 Aufbereitungs - und Auswertungsverfahren

6. ERGEBNISDARSTELLUNG
6.1 Ergebnisse Kategorie ‚Unterrichtsziele’
6.1.1 Ziele koedukativer Sportunterricht
6.1.2 Ziele getrennter Sportunterricht
6.1.3 Geschlechterrollen im Sportunterricht
6.2 Ergebnisse Kategorie ‚Sportarten’
6.2.1 Einflussfaktoren thematisierter Sportarten
6.2.2 Thematisierte Sportarten
6.3 Ergebnisse Kategorie ‚Methodik’
6.3.1 Heterogenität in gemischten Gruppen
6.3.2 Heterogenität in getrennten Gruppen
6.4 Ergebnisse Kategorie ‚Konflikte’
6.4.1 Konfliktbewältigung in gemischten Gruppen
6.4.2 Konflikte in gemischten Gruppen
6.4.3 Konfliktbewältigung in getrennten Gruppen
6.4.4 Konflikte in getrennten Gruppen
6.5 Ergebnisse Kategorie ‚Diskrepanzen zwischen Berufs - und Geschlechtsrolle von Sportlehrern’
6.5.1 Gleichgeschlechtlichkeit von Schülern und Lehrern
6.5.2 Geschlechtsrolle und Sportsozialisation des Lehrers
6.5.3 Hilfestellung des Lehrers bei andersgeschlechtlichen Schülern
6.5.4 Interaktionsunterschiede zu Jungen - und Mädchengruppen
6.5.5 Respektlosigkeit gegenüber Lehrern
6.6 Ergebnisse Kategorie ‚Prozess der Trennung’
6.6.1 Ursachen der Trennung
6.6.2 Beteiligte Personen
6.6.3 Zusätzliche Maßnahmen zur Geschlechtertrennung

7. Diskussion
7.1 Interpretation der Untersuchungsergebnisse
7.2 Untersuchungsergebnisse im Kontext des Doing Gender
7.3 Untersuchungsergebnisse im Kontext rollentheoretischer Überlegungen
7.4 Untersuchungsergebnisse im Kontext zur Identitätstheorie Tajfels

8. Ausblick

9. Anhang
9.1 Tabellarischer Anhang

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Männer haben's schwer, nehmen's leicht
Außen hart und innen ganz weich
Werden als Kind schon auf Mann geeicht
Wann ist ein Mann ein Mann?“

(Herbert Grönemeyer, 4630 Bochum, Männer)

Der Refrain dieses deutschen Klassikers Männer von Herbert Grönemeyer konkretisiert in nur wenigen Zeilen das Dilemma einer geschlechtsspezifischen Sozialisation von Männern und Frauen. Demnach entstehen Geschlechtsidentitäten nicht nach einem genetisch unveränderbaren Bauplan, sondern richten sich vielmehr nach kulturellen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen. Die Ursachen offenkundiger Differenzen zwischen Mann und Frau sind mannigfaltig und nicht immer eindeutig zuzuordnen. Mit Sicherheit kann jedoch behauptet werden, dass die so genannte Primärsozialisation innerhalb der Familie und des Freundeskreises die jeweilige Ausprägung einer besonders männlichen bzw. weiblichen Geschlechtsidentität unmittelbar beeinflusst. Eine Erklärung ist darin zu sehen, dass vorbildliches Verhaltensmuster von Eltern oder Freunden häufig imitiert werden, so dass eigene Einstellungen und Ansichten mit denen der Vorbilder korrelieren. Neben indoktrinierter Einstellungen und Verhaltensmuster äußert sich der Grad einer Geschlechtsidentität oftmals über die berufliche Tätigkeit, die Auswahl der Kleidung oder die jeweilige Freizeitaktivität. Im Bereich des Sports existieren ebenfalls vereinzelte Disziplinen, die als besonders weiblich oder männlich gelten und deren Ausübung unmittelbar zur geschlechtlichen Inszenierung eines Sportlers oder einer Sportlerin beitragen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern der außerschulische Sport besonders ausgeprägte und tradierte Geschlechtsidentitäten ausbildet und womöglich zu einer Verfremdung oder Distanzierung der Geschlechter beiträgt.

Eine gemeinsame schulische Erziehung von Jungen und Mädchen geht hingegen der Überwindung tradierter Geschlechterklischees zu Gunsten einer alternativen und emanzipierten Neuausrichtung nach. Die Diskussion, inwiefern ein gemeinsamer Sportunterricht zur Verstärkung oder Abschwächung geschlechtlicher Differenzen beiträgt, ist seit den siebziger Jahren nicht abgeklungen. Nicht zuletzt aufgrund gegenwärtiger Entwicklungen gewinnt die Thematik an zusätzlicher Brisanz und Aktualität. Demzufolge wird in Baden-Württemberg seit dem Jahre 2003 an allen weiterführenden Schulen ein geschlechtshomogener Sportunterricht in den Klassen 7 bis 10 durchgeführt, zudem ist es bundesweit einzelnen Schulen freigestellt, die Geschlechtertrennung im Sportunterricht durchzusetzen. Die Ausarbeitung „Zurück zu den Anfängen? – Eine qualitative Untersuchung zur Wiederentdeckung der Geschlechtertrennung im gegenwärtigen Sportunterricht“ thematisiert die Repression des koedukativen Sportunterrichts an weiterführenden Schulen und geht der Frage nach, inwiefern unterschiedliche Inhalte und Schwerpunkte in geschlechtsheterogenen und - homogenen Gruppen thematisiert werden. Mittels der qualitativen Methode problemzentrierter Interviews von Sportlehrern soll der Frage nachgegangen werden, ob ein geschlechtergetrennter Sportunterricht durch die Auswahl thematisierter Sportarten zu einer Verstärkung oder Überwindung tradierter Geschlechterrollen beiträgt.

In dem theoriegeleiteten Kapitel 2 wird daher der konstruktivistische Ansatz des Doing Gender diskutiert, der sich vor allem auf angesprochene Sportsozialisationen von Jungen und Mädchen bezieht. Diesbezüglich soll verdeutlicht werden, inwiefern Doing Gender bzw. die außerschulische Sportsozialisation Inhalte und Schwerpunktsetzungen des Schulsports beeinflusst. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, ob Sportunterricht dem Doing Gender im Sport durch geschlechtsunspezifische Inhalte entgegenwirken kann oder eine Forcierung geschlechtsspezifischer Sportsozialisationen von Schülern betrieben wird. Zum anderen werden rollentheoretische Überlegungen mit nachfolgenden Untersuchungsergebnissen verknüpft. Obwohl die Frauenbewegung während des vergangenen Jahrhunderts zu einem permanenten Wandel von Geschlechterrollen beitragen konnte, haben tradierte Geschlechterklischees und klassische Rollenverteilungen innerhalb der Familie Bestand. Diese Ambivalenz soll einerseits auf klassische rollentheoretische Überlegungen und handlungsorientierte Rollentheorien bezogen werden. Darüber hinaus wird anhand nachfolgender Untersuchungsergebnisse verdeutlicht, welche beider Ansätze im Rahmen dieser Arbeit Gültigkeit beansprucht oder widerlegt werden kann. Einleitend werden jedoch identitätstheoretische Überlegungen Henri Tajfels in die Geschlechterthematik einbezogen. Dies ist zum einen darin begründet, dass Tajfels gedankliches Konstrukt Aspekte von Individuation und Integration sehr plastisch behandelt, andererseits rollentheoretische und konstruktivistische Ansätze anhand der Terminologie anschaulich dargestellt werden können. Inwiefern die nachfolgende Untersuchung detaillierte Einblicke in Geschlechtsidentitäten von Schülern ermöglicht, bleibt abzuwarten.

Das anschließende Kapitel 3 zur Koedukation im Schulsport bezieht sich hingegen auf pädagogische, sportwissenschaftliche als auch historische Erkenntnistheorien und Forschungsergebnisse. Auf den einleitenden Verlauf der Koedukationsgeschichte folgt die Darstellung unterschiedlicher Sportengagements von Jungen und Mädchen. Eine zentrale Gewichtung erfahren in diesem Kapitel die Ausführungen zur reflexiven Koedukation und den damit verbundenen Maßnahmen zur Mädchen - und Jungenförderung. Anschließend sollen Einstellungen von Lehrern und Schülern gegenüber koedukativem Sportunterricht verdeutlicht und die jeweilige männliche und weibliche Sportlehrerrolle diskutiert werden.

2. Sozialisationstheorien

2.1 Identitätstheorien

Um soziologische, psychologische und pädagogische Theorien zur Identitätsentwicklung im Kindes - und Jugendalter in ihrer Gesamtheit erfassen und verstehen zu können, muss stets der Kontext zu gesellschaftlichen Gegebenheiten und Veränderungen hergestellt werden. Durch die Trennung von Wohn - und Arbeitsplatz im Zuge der Industrialisierung und der daraus resultierenden Verlängerung der Ausbildungszeit im ausgehenden 20. Jahrhundert entstand mit der Jugendphase ein eigener biografischer Lebensabschnitt zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, welcher durch einen Übergang von elterlicher Abhängigkeit zu finanzieller und sozialer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gekennzeichnet ist. Im Einzelfall kann jedoch nicht immer eindeutig beurteilt werden, inwiefern ein Heranwachsender bereits den Erwachsenenstatus erfüllt, da dieser formal an eine Erwerbs -, Familien -, Konsumenten -, und Bürgerrolle gebunden ist (Hurrelmann, 2004, S. 71). Bevor jedoch im Folgenden näher auf Identitätstheorien eingegangen wird, die in Zusammenhang mit der Geschlechterthematik stehen, soll zunächst eine Definition von Identität gegeben werden:

„Identität bezeichnet das über einen längeren Zeitraum stabile Bild und Erleben der eigenen Person und der Selbstdarstellung. Sie meint die unverwechselbare und einheitliche Verfassung des Ichs, die zugleich mit den durch verschiedenartigen Rollen abverlangten Verhaltenserwartungen in Übereinstimmung stehen muss, damit sich der Einzelne trotz seiner (angestrebten) Einzigartigkeit nicht aus Kommunikation und Interaktion ausschließt“ (Heinemann, 2007, S. 188).

Heinemann verbindet in seiner Definition sowohl klassisch soziologische als auch psychologische Aspekte von Identitätstheorien. Soziologische Theorien richten sich nach den äußeren Anforderungen und nehmen die Umwelt als Bezugspunkt für das Verhalten Heranwachsender. Entwicklungsimpulse werden von außen an das Individuum herangetragen, so dass die Persönlichkeitsentwicklung als Anpassung an gesellschaftliche Strukturen verstanden wird. Psychologische Theorien gehen hingegen von Entwicklungsimpulsen des Organismus aus, die sich ähnlich wie ein Entwicklungsplan von innen heraus entfalten. Erfahrungen der Vergangenheit haben jedoch gezeigt, dass eine einseitige Fokussierung auf innere Entwicklungsimpulse bzw. äußere Umwelteinflüsse nur bedingt befriedigende Erkenntnisse liefert. Interdisziplinäre und integrierende Theorien versuchen daher psychologische und soziologische Theorien zu verbinden, da Person und Umwelt in einer wechselseitigen Beziehung stehen und sich permanent beeinflussen. Die Vereinigung psychologischer und soziologischer Identitätstheorien und die damit einhergehende Fokussierung auf Individuation und Integration, kann mit dem Begriff der Sozialisation gleichgesetzt werden. Heinemann versteht Sozialisation als einen Prozess,

„durch den Mitglieder einer Gesellschaft oder einzelner gesellschaftlicher Daseinsbereiche in die Lage versetzt werden, in moralisch, sozial-normativ und symbolisch strukturierten Handlungssituationen angemessen zu interagieren“ (Heinemann, 2007, S. 187).

Diese Definition beinhaltet einerseits die Integration kultureller Werte und Normen und impliziert zudem die individuelle Interpretation dieser Erwartungen innerhalb eines gesellschaftlich akzeptierten Rahmens.

2.1.1 Identität nach Tajfel

Die interdisziplinäre Identitätstheorie nach Henri Tajfel (1978) eignet sich für den Gegenstandsbereich dieser Ausarbeitung, da Tajfel sowohl mit Rollentheorien als auch konstruktivistischen Ansätzen in Verbindung gebracht werden kann. Für Tajfel ist die Jugendphase dadurch gekennzeichnet, dass Heranwachsende durch Individuation und Integration eine Ich-Identität entwickeln. Das Selbstkonzept einer Person besitzt demnach zwei Aspekte. Integration ist zum einen der Prozess der Vergesellschaftung und der Anpassung an gesellschaftliche Werte und Normen, welcher die Basis für die Entwicklung einer sozialen Identität und Vorraussetzung für die Anerkennung einer gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrolle bildet. Individuation hingegen beschreibt den Aufbau einer „individuellen Persönlichkeitsstruktur mit unverwechselbaren kognitiven, motivationalen, sprachlichen, moralischen und sozialen Merkmalen und Kompetenzen“ (Hurrelmann, 2004, S. 67). Die erlebte Einmaligkeit dieser eigenen Persönlichkeit wird als personale Identität bezeichnet. Die Dichte und Vielfalt von Entwicklungsaufgaben, die in einer kurzen Lebensspanne an den Jugendlichen herangetragen wird, führt zu Spannungsverhältnissen. Jugendliche sind daher mit dem synchronen Aufbau einer sozialen und personalen Identität oftmals überfordert (Tajfel, 1978, S. 61 ff).[1] Inwiefern Jugendliche die an sie gestellten Anforderungen bewältigen, hängt in entscheidendem Ausmaß von dem Umfang institutioneller, emotionaler und sozialer Hilfestellungen ab (Hurrelmann, 2004, S.70).

2.1.1 Männliche und weibliche Geschlechtsidentitäten im Sport

Heinemann versteht in Bezug auf Tajfel Geschlechtsidentität als einen Teil der Ich-Identität:

„Geschlechtsidentität beschreibt einen Aspekt der Identität, also das Selbstverständnis einer Person als „Mann“ oder „Frau“. Sie ergibt sich aus einer Bilanz zwischen dem Verhältnis zum eigenen Geschlecht und dessen jeweiliger sozio-kulturellen Prägung und Überformung. Dabei sind in den meisten Gesellschaften soziale Positionen auf Geschlechter verteilt und entsprechende geschlechtsspezifische Rollen daran geknüpft; Rollenerwartungen müssen in die Identität eingepasst werden. Insofern stellt Geschlechtsidentität eine Balance zwischen geschlechtsspezifischer Rolle und dem individuellen Entwurf der eigenen, unverwechselbaren Persönlichkeit dar“ (Heinemann, 2007, S. 256).

Diese Definition impliziert, dass bereits verhältnismäßig früh im Sozialisationsprozess das Individuum typisch weibliche und männliche Verhaltensweisen zu unterscheiden erlernt und diese in Anlehnung an die eigene Geschlechtzugehörigkeit verinnerlicht. Wie im Kapitel 3.1 zur Koedukationsgeschichte ausführlicher dargestellt wird, werden Tätigkeiten wie Arbeit, Nahrungserwerb, Verteidigung, Angriff und Flucht als typisch männliche Eigenschaften bewertet. Alles Bewahren, Besorgen und jeglicher Umgang mit Dingen gelten als weibliche Lebensprinzipien (Buytendijk, 1956, S. 325). Der Entwicklungspsychologe Remplein (1971, S. 535) geht daher von unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Geschlechter aus.

„Für den weiblichen Typus ist kennzeichnend eine vergleichsweise stärkere Verwurzelung in den tieferen Schichten des Gefühls, die sich aus der biologischen Bestimmung ableiten lässt [...]. Der männliche Typus ist relativ differenzierter, [...] Übergewicht der sachlichen Strebungen, Verstandesbetontheit, Abstraktheit und logische Folgerichtigkeit des Denkens. Merkmale wie Aktivität und Vernunft entsprechen den Aufgaben eines Mannes in Öffentlichkeit und Beruf, Passivität und Emotionalität entsprechen der Rolle der Frau und gehören daher zum privaten und familiären Bereich.“

Remplein (1971, S. 537-541) erkennt im Kleinkindalter psychische Geschlechtsunterschiede, die er auf das menschliche Spiel zurückführt. Demnach bedeute männliches Spiel vor allem Kampfspiel im Gegensatz zum weiblichen Puppenspiel. Weibliche Begabung reduziert er auf Sprache, Hauswirtschaft und Familienpflege, männliche Begabung hingegen auf Rechnen, Physik und Sport. Durch den Siegeszug des vornehmlich männlich geprägten englischen Sports wurde diese Entwicklung zusätzlich forciert. Da dem weiblichen Geschlecht keine Spiel- und wettkampfbetonten körperlichen Betätigung zugetraut wurden, fanden weiblich geprägte Leibesübungen stets unter dem Gesundheitsaspekt statt. Möckelmann (1971, S. 64) führt an, dass Jungen im so genannten Spielalter sich vermehrt mit Kampfspielen beschäftigen, Mädchen hingegen vor allem darstellende und gymnastische Bewegungsformen wählen. Bei der Entstehung von Geschlechtsidentitäten bieten die dargestellten Geschlechterklischees eine Orientierungshilfe für das Individuum. Die Aneignung typisch männlicher Verhaltensmuster im Sport birgt jedoch für Frauen den Verlust von Weiblichkeit und Attraktivität, so dass sich Frauen vornehmlich den vom sozialen Umfeld und Medien propagierten weiblichen Sportarten zuwenden. Die Art und Weise, wie mit dem eigenen Körper umgegangen wird, ist durch gesellschaftliche Normen und Regelungen bestimmt. Demzufolge existieren für Frauen und Männer völlig unterschiedliche Beziehungen zum eigenen Körper und differierende Körperideale (Pfister, 1983, S. 182f).

Neuber (2006, S. 126) ist der Ansicht, dass die gesellschaftliche Rolle des Mannes nicht mehr durch die „Triade Erzeuger-Beschützer-Versorger “ gekennzeichnet ist. Jungen fehle es gemeinhin an eindeutigen Männerbildern, wie das Kapitel 3.4.3 zur Jungenförderung noch zeigen wird, so dass die männliche Peer-Group oftmals als Erfahrungs - und Experimentierfeld eigener Identitätsentwürfe diene (Böhnisch & Winter, 1997. S. 79) und Jungengruppen häufig durch Dominanzbeziehungen und hierarchische Strukturen gekennzeichnet seien (Budde, 2005, S. 237ff). Neuber (2006, S. 128 ff) charakterisiert Jungenfreundschaften, die anders als Mädchenfreundschaften weiniger von Intimität und Attraktivität geprägt sind, durch gemeinsame Sportaktivitäten. Der Sport präsentiere sich als männlich, da er vom Einzelnen körperliche Härte, Wettkampf und Erfolg abverlangt und nur Sieger als männlich gelten (Neuber, 2004, S. 402ff). Insofern biete die im außerschulischen Sport vorherrschende Leistungsorientierung, welche stets an Körperlichkeit und Erfolg geknüpft ist, ein gängiges Mittel zur Inszenierung von Männlichkeit. Alternative Männlichkeitsentwürfe im Sport verbinden indessen vermeintlich weibliche Anteile, gepaart mit Leistungsorientierung und Stolz auf das eigene Können. Zudem bestehe durch eine stärkere Orientierung auf soziale Bezüge für Jungen die Möglichkeit, einen persönlichen und individuellen Stil zu finden. Der Sport biete demnach „eine Vielzahl von alternativen Identifikationsmöglichkeiten“ und ermögliche ein „Experimentieren mit individuellen Identitäten“ (Neuber, 2006, S. 134.)

2.2 Rollentheorien

2.2.1 Die Rollentheorie nach Parsons

Ein älteres theoretisches Konstrukt der 1920er Jahre bildet die Rollentheorie des Symbolischen Interaktionismus nach Georg Herbert Mead (1973), welches bis in die 1980er Jahre als theoretischer Bezugsrahmen der Koedukationsbefürworter diente. Koedukationsgegner bemängeln jedoch, dass der Symbolische Interaktionismus zwar in der Lage sei, soziale Beziehungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu beschreiben, jedoch die Tatsache verkenne, dass gesellschaftliche Strukturen durch hierarchische Geschlechterverhältnisse geprägt seien und der Einzelne nur bedingt Einfluss nehmen könne (Kugelmann, 1996, S. 275).[2] Die nachfolgenden Ansätze der klassischen Rollentheorie und der soziologischen Handlungstheorie fungieren zwar in erster Linie als rollentheoretische Sozialisationsmodelle, sollen jedoch in dieser Ausarbeitung als Erklärungsansätze für die Tradierung und Veränderung von Geschlechterrollen herangezogen werden. Bevor im Weiteren auf die einzelnen Rollentheorien eingegangen wird, soll einleitend der Begriff der sozialen Rolle definiert werden:

„Unter sozialer Rolle versteht man die Summe sozialer Normen und Werte, denen der Inhaber einer sozialen Position entsprechen muss; sie sind also positionelle Verfestigungen eines Satzes von sozialen Normen und Werten. Die soziale Rolle sagt also nichts über das faktische Verhalten eines Positionsinhabers, sondern nur etwas über die Rechte und Pflichten, die in seiner Rolle zusammengefasst sind und die ein Positionsinhaber wahrnehmen sollte, wenn er nicht Sanktionen erleiden will.“ (Heinemann, 2007, S. 226)

In den 1930er Jahren trägt der amerikanische Soziologe Talcott Parsons entscheidend zur Ausgestaltung des Sozialisationsmodells der klassischen Rollentheorie bei. In Anlehnung an Mead versteht Parsons die soziale Rolle als ein Verbindungsglied zwischen System und Verhalten, wobei soziale Systeme und Gesellschaft nach seinen Vorstellungen aus Interaktionen bestehen (Parsons, 1976, 87f).

Ausgehend von dieser Annahme hat Parsons die Vorstellung, dass in einer sprachlichen Interaktion beide Gesprächspartner Kongruenz zwischen Wertorientierungen und Bedürfnisdispositionen herstellen wollen. (Parsons, 1999, S. 29) Durch die Gleichheit der Erwartungen sei der Zweck der Interaktion die gegenseitige Bedürfnisbefriedigung der Gesprächsteilnehmer. Zudem versuchen beide Gesprächspartner Kongruenz zwischen ihrer Rollendefinition und Rolleninterpretation herzustellen. Dies impliziert, dass das Verhalten der Interagierenden determiniert ist und während einer Kommunikation der Platz mit dem Gegenüber getauscht werden kann. Ebenfalls bestehe in Interaktionssituationen eine Kongruenz zwischen geltenden Normen und wirksamen Verhaltenskontrollen. Gesellschaftliche Wertorientierungen an eine Rolle werden vom Rolleninhaber dahingehend erfüllt, dass dieser gesellschaftliche Normen in dem Maße internalisiert, dass er sie für seine eigenen hält (Parsons, 1976, S. 177 ff). Rollenhandeln sei somit durch kulturelle und gesellschaftliche Vorschriften und Erwartungen bestimmt. Demnach richten sich gesellschaftliche Erwartungen ebenfalls an Männer - und Frauenrollen, wobei Ausgangspunkt von klassischen Geschlechterrollen die konventionelle Arbeitsteilung als Lebensbewältigungsstrategie darstellt. Krappmann fasst die Annahmen der konventionellen Rollentheorie wie folgt zusammen. Vorraussetzung für erfolgreiches Rollenhandeln ist die Übereinstimmung von Rollennormen und - interpretationen, die situative Orientierung an eine Rolle, die Kongruenz der Erwartungshaltungen bei Interaktionspartnern, die Gleichartigkeit gesellschaftlicher Wertmuster und individueller Bedürfnisse, Bedürfnisbefriedigung beider Interaktionspartner durch Interaktion und die vollständige Internalisierung geltender Wertmuster an eine Rolle (Krappmann, 2000, S. 100f).

Für Parsons bedeutet Sozialisation das Erlernen eines Rollenspiels mit dem Ziel, gesellschaftliche Sanktionen zu vermeiden, indem den Anforderungen des Systems entsprochen werde, ohne Befriedigung eigener Bedürfnisse zu erlangen. Plakativ ausgedrückt impliziert Parsons Sozialisationstheorie, dass Individuen bestehende gesellschaftliche Werte und Normen internalisieren und Gesellschaft keinen Wandel erfährt, sondern lediglich einen Austausch von Individuen mit gleichen Wertestrukturen und Verhaltensmustern.

2.2.2 Die soziologische Handlungstheorie nach Habermas

Dieser Kritik nimmt sich der deutsche Soziologe Jürgen Habermas an, indem er den Annahmen der klassischen Rollentheorie eigenen Theoremen gegenüberstellt. Als Verfechter der kritischen Rollentheorie erkennt Habermas (1973, S. 125) in allen bisher bekannten Gesellschaftssystemen ein Missverhältnis zwischen den interpretierten Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Wertorientierungen. Eine vollständige Gleichheit der Erwartungen mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen, so wie es die klassische Rollentheorie annimmt, kann nur unter Zwang hergestellt werden. Habermas widersetzt sich der Annahme, dass der Zwang einer Rolle zur Befriedigung aller Bedürfnisse führen kann. Eine bestehende Diskrepanz aufgrund empirischer und sprachphilosophischer Aspekte mache zudem eine Unterscheidung in Rollendefinition und - interpretation unabdingbar (Habermas, 1973, S. 126). Sowohl Habermas als auch Krappmann sprechen diesbezüglich von Rollendistanz und setzen sie mit einem autonomen Rollenspiel gleich, bei dem keine vollständige Internalisierung einer Rolle stattfinde (Habermas, 1973, S. 127). Eine gleichzeitige Synthese und Internalisierung aller Rollen sei für das Individuum unmöglich und mache eine Rollendistanz unabdingbar (Krappmann, 2000, S. 133-142). Der Vorgang der Internalisierung und Aneignung von Werten und die damit einhergehende Persönlichkeitsentwicklung ist demnach kein reiner Aneignungsprozess, sondern setzt ein Maß an Eigenaktivität und Autonomie voraus. Somit wirkt das Individuum bei der Gestaltung einer Rolle aktiv mit, indem es sie ständig neu auslegt und interpretiert.

Um die Terminologie Tajfels zu verwenden, betont Parsons die Einflüsse der sozialen Identität auf das Individuum. Für ihn ist Sozialisation vor allem durch gesellschaftliche Integration und den Entzug gesellschaftlicher Sanktionen verbunden. Hinsichtlich der Geschlechterklischees impliziert dies, dass tradierte Geschlechterrollen bzw. hegemoniale Männerbilder[3] unveränderbar sind und im Laufe des Sozialisationsprozesses reproduziert werden. Dessen widersetzt sich Habermas, der, um in der Terminologie Tajfels zu bleiben, die personale Identität und Individuation betont. Habermas manifestiert, dass die Erfüllung und Einhaltung sozialer Rollen nach gesellschaftlichen Erwartungshaltungen zu Frustrationspotenzialen auf Seiten des Rollenspielers führen kann. Sozialisation bedeutet für ihn die Erfüllung gesellschaftlicher Rollenerwartungen, verbunden mit der gleichzeitigen, individuellen Ausgestaltung einer sozialen Rolle. Dieser Aspekt der Individuation impliziert gesellschaftliche Veränderungen in Einstellung und Verhaltensmustern. Bezüglich der Geschlechterproblematik besteht nach Habermas die Möglichkeit, tradierte Männer - und Frauenbilder im Laufe des Sozialisationsprozesses zu verändern. Weshalb allerdings traditionelle Geschlechterklischees Bestand haben und nur allzu schwer zu überwinden sind, versucht das folgende Kapitel 2.3 zu ergründen.

2.3 Konstruktivistische Theorien

2.3.1 Die Genderforschung

Bevor konstruktivistische Theorien Einzug in die Diskussion über die Unterschiedlichkeit von Mann und Frau erhielten, waren im 19. und auch 20. Jahrhundert Defizit - und Differenztheorien allgegenwärtig.[4] Differenztheorien schafften eine begriffliche Unterscheidung in sex als biologisches und gender als kulturelles Geschlecht mit dem Ziel, Geschlechterverhältnisse verständlicher darstellen zu können. Mitte der 1980er Jahre eröffnete Carol Hagemann-Whites „ Sozialisation: Weiblich – Männlich?“ neue Perspektiven eines kulturell geprägten Systems der Zweigeschlechtlichkeit und der sozialisationsbedingten Konstruiertheit von Geschlecht. Differenzen innerhalb eines Geschlechts bezüglich Bildung, Schichtzugehörigkeit, Einstellung etc. seien oftmals erheblicher als Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Hagemann-White, 1984, S. 13). Hagemann-White kommt zu dem Ergebnis, dass für Jungen und Mädchen unterschiedliche Sozialisationsmodi gelten. Mädchen werden demnach intensiver vom Elternhaus sozialisiert, da sie aufgrund elterlicher Ängste bezüglich körperlicher Unversehrtheit vermehrt in der Nähe des häuslichen Umfelds aufwachsen und somit in erhöhtem Maße den Erwartungen Erwachsener entsprächen. Mädchen seien demnach einem „Druck der normativen Erwartungen der Erwachsenen“ ausgesetzt (Hagemann-White, 1984, S. 53). Jungen hingegen werde mehr Freiraum gewährt, so dass diese einen größeren Aktionsradius besäßen und stärker innerhalb der Peer-Group sozialisiert werden. Der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman (1977) prägte den Begriff des gender oder Genderismus und kritisierte damit die Vorstellung vom unterschiedlichen Wesen der Geschlechter und den damit verbundenen Idealen von Männlichkeit und Weiblichkeit.[5] Die selbstauferlegte Aufgabe der Genderforschung bestehe weniger in der Fortsetzung der Kritik an der Repression von Frauen aus bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, sondern in der Erkenntnis über die Hierarchisierung der Geschlechter. Zudem sei eine Pauschalisierung in männliche Herrschaft und weibliche Unterdrückung nicht mehr zulässig, da die Reflexion über die eigene Beteiligung an der bestehenden Genderkonstruktion eine zusätzliche Unterscheidung innerhalb der Geschlechter vorsehe (Goffman, 1977).

Der konstruktivistische Ansatz des Doing Gender impliziert, dass Unterschiede zwischen Mann und Frau konstruiert und keinesfalls biologischer Natur sind, Zweigeschlechtlichkeit und Unterschiedlichkeiten sind durch allgegenwärtige und alltägliche Verhaltensmuster und Zwänge geschaffen. Obwohl Individuen über ein vielfältiges Verhaltensrepertoire verfügen, wählen sie in den überwiegenden Situationen ein Verhalten, das mit der eigenen Geschlechtszugehörigkeit konform geht. Dieses Markieren der eigenen Geschlechtszugehörigkeit wird von der sozialwissenschaftlichen Forschung als Performanz bezeichnet (Kreienbaum, 2006, S. 44). Der Ansatz des Gender Mainstreaming versucht derweilen die Gleichstellung der Geschlechter auf jeglicher gesellschaftlicher Ebene durchzusetzen. Dabei wird jede Maßnahme, Struktur und Bedingung dahingehend analysiert, inwiefern sie eine demokratische Teilhabe beider Geschlechter ermöglicht. Die amerikanische Soziologin und Genderforscherin Judith Butler (1991) ist derweil der Ansicht, dass nicht nur die Kategorie gender sondern auch die Kategorie sex eine soziale und kulturelle Konstruktionen darstellt. Ihre Forderungen bezüglich einer Dekonstruktion von Zweigeschlechtlichkeit wurden höchst kontrovers diskutiert und kritisiert. Butler widersetzt sich der Annahme, dass Geschlecht eine natürliche Eigenschaft des Körpers sei, die Grundlage einer natürlichen Ordnung der Geschlechter ist. Ebenfalls vollzieht sie den Bruch mit der Annahme einer biologischen Unterschiedlichkeit von Mann und Frau, die eine Geschlechterdifferenz begründet. Der in Geschlechterverhältnissen verankerte Dualismus von Natur und Kultur und das damit einhergehende Denken in männlichen und weiblichen Kategorien sei historisch begründet und somit vom Menschen konstruiert. Butler stellt daher das christlich-abendländischen Organisationsprinzip einer binären Geschlechterkonstruktion und Heterosexualität in Frage (Butler, 1991).

2.3.2 Doing Gender im Sport

Doing gender soll im Folgenden auf den schulischen Bereich und den Sport bezogen werden. Die Genderforschung versteht unter dem Begriff des Doing gender, dass die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht in der alltäglichen Praxis immer wieder hergestellt werden muss. Mädchen und Jungen aber auch Frauen und Männer müssen sich in ihren Einstellungen, Verhaltensweisen und äußeren Erscheinungen kontinuierlich als geschlechtliche Wesen inszenieren, um soziale Anerkennung zu erfahren. Der Jugendphase kommt eine besondere Bedeutung zu, da Individuen aufgrund körperlicher, psychischer und sozialer Veränderungen sich in besonderer Weise mit der eigenen körperlichen Erscheinung und ihrer Geschlechtsidentität auseinandersetzen müssen und unter dem gesellschaftlichen Zwang des Sich-Positionieren-Müssens stehen. Das eigene Körperkonzept bzw. die jeweilige somatische Kultur stellt eine Gelegenheit dar, die eigene Geschlechtsrolle auszudrücken, um Weiblichkeit bzw. Männlichkeit herzustellen. „Die Wirksamkeit dieses doing gender zeigt sich z.B. in den Sportartenpräferenzen von Jungen und Mädchen“ (Schmidt, 2003, S. 315). Der Sport bietet somit eine besondere Gelegenheit, das eigene Geschlecht sozial zu konstruieren. Im Sport steht der Körper und die körperliche Leistung im Mittelpunkt, so dass wettkampforientierte Sportarten vor allem für Jungen und Männer ein besonderes Inszenierungsfeld zur Darstellung von Männlichkeit bieten.

Heinemann hinterfragt in diesem Zusammenhang, welche Einflussgrößen und Ursachen für den Umfang und die Art des Sportengagements herangezogen werden können. Im Kontext von Sport und Sozialisation geht er von einer vorgängigen Sozialisation durch Familie und Peers aus. Diese Primärsozialisation sei entscheidend für die Einbindung in den Sport verantwortlich. Die ausschlaggebenden Einflussfaktoren seien vor allem Eltern, Geschwister, Freunde und Medien. Die Wahl der Sportart sei häufig an das Sportengagement der Eltern und besonders an das des Vaters, der älteren Geschwister und der Peergruppe gebunden. Zudem werde das Individuum durch den Sport sozialisiert, da ein Transfer der Sozialisationswirkungen des Sports auf andere gesellschaftliche Bereiche und Institutionen zu beobachten sei (Heinemann, 2007, S. 184ff). Doing Gender kommt in diesem Zusammenhang durch unterschiedliche Kleidung, Spielzeuge, Spiele und Freiräume von Jungen und Mädchen zum Ausdruck und äußert sich später in divergierenden, geschlechtsspezifisch geprägten Sportkulturen.[6] Die Abkehr von tradierten geschlechtsbezogenen Sportkulturen hin zu einer gemeinsamen Sportkultur war daher ein didaktischer Ansatz von Brodtmann und Kugelmann in den 1980er Jahren. Brodtmann und Kugelmann (1984) setzen sich in ihrem Konzept einer gemeinsamen Sportkultur für die Vielfalt der sportlichen Sinnorientierungen ein. Neben Wettkampf und Leistung müssen Anreize zum gemeinsamen Sporttreiben der Geschlechter geschaffen werden. Kraft müsse ohne Aggressivität und Gewalt, sondern vielmehr spielerisch und weniger ernsthaft eingesetzt werden. Das gemeinsame Miteinander müsse situationsbedingt erprobt werden ohne die Möglichkeit des Rückzugs in geschlechtshomogene Gruppen auszuschließen.

Eine Alternative zum Konzept der gemeinsamen Sportkultur stellt das persönlichkeitspsychologische Konstrukt der Androgynie dar. Der auf die Psychologin Sandra Bem zurückgehende Ansatz versteht Androgynität als Idealvorstellung eines reifen und psychisch gesunden Menschen, der sowohl über männliche als auch weibliche Verhaltensmuster verfügt. Bem (1975, S. 634) geht in ihrem konstruktivistischen Modell davon aus, dass sozialisationsbedingte, konventionelle Geschlechterrollen ein psychologisch gesundes und flexibles Verhalten einschränken und dem Individuum ein situationsadäquates Verhalten verwehren. Eine androgyne Sozialisation soll daher freiere Geschlechtsrollenorientierungen und größere Verhaltensspielräume zulassen. Androgynität meint die Ablehnung traditioneller Geschlechterrollen und nicht die Ablehnung des eigenen Geschlechts. Androgyn ist, wer situationsangemessen weibliche oder männliche Verhaltensweisen zeige. Die Übertragung dieses Konstrukts auf den Bereich des Schulsports impliziert die Erweiterung schulischer Sinnperspektiven, das heißt, dass androgyne Qualitäten in den Sportunterricht einfließen müssen, um neben den auf Leistung und Konkurrenz ausgerichteten Handlungsorientierungen auch expressive Sinnperspektiven zu integrieren.[7]

2.4 Zwischenfazit

Das theoriegeleitete Kapitel 2 geht über die unterschiedlichen Zugänge der Identitäts - und Rollentheorie sowie konstruktivistischer Ansätze der Frage nach, welche Einflussgrößen während der Sozialisation von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung einer Geschlechtsidentität sind. Henri Tajfel vereint in seinem Entwurf einer Ich-Identität sowohl psychologische und soziologische Theorien und berücksichtigt somit kulturelle als auch biologische Einflussfaktoren, die bei der Ausbildung der Persönlichkeit zum Tragen kommen. Prozesse der Integration gesellschaftlicher Normen und Werte und der Herausbildung einer unverwechselbaren Persönlichkeit durch Individuation sind für Tajfel im Gegensatz zu Parsons und Habermas gleichbedeutend. Parsons setzt Sozialisation mit der Aneignung kultureller Verhaltensmuster und dem Erlernen eines Rollenspiels gleich. Für ihn ist die Internalisierung einer Rolle stets mit dem Bestreben verbunden, gesellschaftliche Sanktionen zu vermeiden, so dass eigenes Rollenhandeln gesellschaftlichen Normen und Werten entspricht. Habermas und Krappmann widersetzen sich hingegen dem Ideal der klassischen Rollentheorie „Wir wollen, was wir sollen“ und betonen den individuellen und interpretativen Prozess bei der Ausgestaltung einer sozialen Rolle. Von einer völligen Rolleninternalisierung könne beim Rollenhandeln nicht ausgegangen werden, da dies beim Rolleninhaber zu keiner Bedürfnisbefriedigung führe und stets eine gewisse Rollendistanz gewahrt werde. Auch wenn die klassische Rollentheorie und die Handlungstheorie in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Genderforschung stehen, eignen sich beide Ansätze, um gesellschaftlichen Wandel bzw. Stagnation unter dem Aspekt der Geschlechterrollen zu thematisieren. Im Gegensatz zu Krappmann und Parsons, nehmen konstruktivistische Theorien vor allem die Integration kultureller und gesellschaftlicher Einstellungen und Verhaltensweisen während der Sozialisation zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Doing gender geht davon aus, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern keinesfalls biologischer Natur, sondern sozial konstruiert sind. Das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit verlangt dem Individuum ein geschlechtskonformes Verhalten in jeder Alltagssituation ab. Dieses Markieren der eigenen Geschlechtszugehörigkeit kommt besonders im Sport zum Tragen und äußert sich in einem unterschiedlichen Sportengagement der Geschlechter, hervorgerufen durch die Primärsozialisation über Familie und Peers.

3. Koedukation im Sportunterricht

Die gemeinsame und gleichzeitige Erziehung von Jungen und Mädchen in schulischen Institutionen hatte mit ihrer Einführung eine permanente Diskussion um ein Für und Wider zur Folge. Das nachfolgende Kapitel skizziert daher den historischen Verlauf von koedukativer Schulgeschichte und erläutert bedeutende und für den thematischen Gegenstand dieser Arbeit relevante Forschungsergebnisse einer Koedukationsdebatte der vergangenen dreißig Jahre. Darüber hinaus kommt der in Nordrhein-Westfalen praktizierten reflexiven Koedukation mit ihren Maßnahmen zur Mädchen - und Jungenförderung eine gesonderte Gewichtung zu.

3.1 Terminologie ‚Koedukation’

Nach den Verbrechen des Naziregimes während des 2. Weltkrieges sollte die 1949 ausgerufene Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ein Garant für den Schutz sämtlicher Minderheiten und Interessengruppen sein. Artikel 3, Absatz 1 bis 3 des Grundgesetzes besagt:

(1) „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“
(2) „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
(3) „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder seiner sexuellen Identität benachteiligt oder bevorzugt werden.“ (Fabio, 2007, S. 15)

Trotz gesetzlicher Fixierung wirken kulturelle Traditionen und persönliche Gewohnheiten als massive Störfaktoren bei der Realisierung dieses Artikels. Institutionelle Maßnahme zur Umsetzung des zitierten Artikels ist die gemeinsame und gleichzeitige unterrichtliche Erziehung von Jungen und Mädchen an allen staatlichen Schulen. Diese reformpädagogische Idee wird gemeinhin als Koedukation bezeichnet und hat den Abbau von Geschlechterhierarchien und - stereotypen zum Ziel (Röthig & Prohl, 2003, S. 294). Koedukativer Unterricht diene der Befähigung einer wechselseitigen und andersgeschlechtlichen Rollenübernahme. Kooperatives und gemeinschaftliches Lernen soll Jungen und Mädchen dazu verhelfen, sich in Interaktionssituationen als Individuum zu verhalten und als solches wahrgenommen zu werden (Sinning, 2003). In diesem Zusammenhang muss ebenso der Begriff der Koinstruktion erläutert werden, da dieser eine Auslegungsart der Koedukation darstellt und von ihr unterschieden werden muss. Koinstruktion meint zwar den gleichzeitigen, jedoch nicht den gemeinsamen Sportunterricht der Geschlechter. Jungen und Mädchen haben bei dieser Auslegungsform der Koedukation unterschiedliche Aufgabenstellungen zu bewältigen, so dass geschlechtliche Unterschiede eine besondere Betonung erfahren. Koinstruktion verkennt die pädagogischen Ziele eines geschlechtsheterogenen Unterrichts, indem sie den Eigenarten und Interessen der Geschlechter nachkommt, ohne jedoch besonderen Wert auf Interaktionen von Jungen und Mädchen zu legen. Das Prinzip der Koinstruktion wird in diesem Zusammenhang explizit erwähnt, da es vor allem im Sportunterricht zum Tragen kommt und für den späteren Verlauf dieser Ausarbeitung noch Bedeutung sein wird.

3.2 Koedukationsgeschichte

Die schulische Situation hinsichtlich einer koedukativen oder geschlechtsspezifischen Ausrichtung ist und war stets an gesellschaftliche Rahmenbedingungen geknüpft. Die Errungenschaften der Französischen Revolution und die politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungsprozesse der Industrialisierung ermöglichten Frauen die Teilhabe am Berufs - und Erwerbsleben. Der Übergang einer feudalen Gesellschaft zum liberalen Privatkapitalismus ließ ein von Vernunft und Rationalität geprägtes Welt - und humanistisches Menschenbild entstehen. Der Aufstieg und die zunehmende Bedeutung des Bürgertums brachte nicht nur eine gesellschaftliche Neuorientierungen mit sich, sondern ebenso die neuerliche Fundierung und Legitimation der Geschlechter. Daher gestattete das preußische Kultusministerium Frauen 1908 den Einstieg in universitäre Ausbildungen, indem höhere Mädchenschulen institutionalisiert wurden und der Weg für eine akademische Laufbahn geebnet wurde (Kreienbaum, 2006, S. 19f).

Theorien zur Leibeserziehung dieser Zeit orientieren sich jedoch weiterhin am männlichen Geschlecht, da körperliche Ertüchtigung ausschließlich Jungen und Männern vorbehalten war. Rousseaus fiktiver Sohn Emil beispielsweise erfährt im Gegensatz zu seiner Schwester Sophie, die anmutig und keinesfalls körperlich aktiv sein darf, eine körperliche Erziehung. Auch die Pädagogik GutsMuths mit dem Titel „Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes“ sowie das Deutsche Turnen unter Friedrich Ludwig Jahn richten sich ausschließlich an das männliche Geschlecht. Die Bedenken gegenüber weiblicher Leibesübungen waren im 18. und 19. Jahrhundert durch unzählige Vorurteile begründet. Demnach stand der Mythos des schwachen Geschlechts einem Männlichkeitsideal, das durch Stärke, Wehrhaftigkeit und Leistung gekennzeichnet war, gegenüber. Das Bild der bürgerlichen Frau war vor allem durch Zerbrechlichkeit und Hilflosigkeit geprägt. Frauen waren zu beschützen und hatten sich mit Mode und Schicklichkeit zu beschäftigen, daher die Bezeichnung des schönen und schwachen Geschlechts. Weibliche Leibesübungen dieser Zeit waren auf ein Minimum reduziert und orientierten sich an medizinischen und ästhetischen Schönheitsidealen. Mädchenturnen stand um 1900 in Einklang mit den Ideen des deutschen Konservatismus und reduzierte die Rolle der Frau auf ihre so genannten natürlichen Aufgaben als Ehefrau und Mutter.[8] In Preußen wurde 1842 die Leibesübung als ein "notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung" (Denk, 1981, S. 145) anerkannt und im Spieß’schen Sinne als Schulfach etabliert. Geturnt wurde anfänglich nur an höheren Lehranstalten für Jungen, erst in den 1860er Jahren wurde das Schulturnen auch an Volksschulen eingeführt, allerdings durchliefen dort ebenfalls nur Jungen den Turnunterricht. Erst um 1900 wurde auch an höheren Töchterschulen, den vier oberen Klassen der Gemeindeschulen und an höheren Mädchenschulen geturnt. Anders als in den städtischen Volksschulen fand in den ländlichen Volksschulen nur vereinzelt Mädchenturnen statt, so dass dem Großteil weiblicher Schüler eine körperliche Erziehung verwehrt blieb (Salomon, 1969, S. 90). Ein gemeinsamer Turnunterricht von Jungen und Mädchen war aufgrund offenkundiger Unterschiede in der körperlichen Leistungsfähigkeit als auch sittlicher Bedenken ausgeschlossen. Darüber hinaus verfolgte das Schulturnen bei beiden Geschlechtern völlig unterschiedliche Ziele, Jungen sollten auf den Wehrdienst und Mädchen auf die Mutterschaft vorbereitet werden. Rossow (1910, S. 225) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei Unterschichtskindern weniger Wert auf geschlechtsspezifische Verhaltensweisen sowie Anstand und Sittlichkeit gelegt wurde und einzelnen Kommunen und Schulen freigestellt war, eine entsprechende Regelung in der Umsetzung einer geschlechterheterogenen Praxis für die Volksschulen zu finden.[9]

In der Weimarer Republik hingegen verfolgte man das Prinzip der Chancengleichheit der Geschlechter durch eine gemeinsame vierjährige Grundschulzeit für alle Kinder. Während des Nationalsozialismus wurden jedoch die demokratischen Lehrpläne von Weimar verworfen, so dass Schule dahingehend funktionalisiert wurde, Kinder mit nationalsozialistischem Gedankengut und Ideologien auszustatten und Mädchen auf ihre Rolle als Mutter und Jungen auf ihre Rolle als Soldat vorzubereiten. Die vierjährige Grundschulzeit wurde abgeschafft und einer achtjährigen Volksschullaufbahn angegliedert. Mädchen hatten die Möglichkeit nach der vierten Klasse der Volksschule, eine höhere Schulbildung an einer Oberschule, so genannten Lyzeen einzuschlagen, die jedoch ausschließlich auf die Ausbildung hauswirtschaftlicher Tätigkeiten ausgerichtet waren, daher die Bezeichnung Puddingabitur (Kreienbaum, 2006, S. 28).

Nach dem 2. Weltkrieg war das Bildungssystem an die Vorgaben der Siegermächte gebunden. Im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands galt von Anbeginn das Prinzip der Koedukation, der Westen orientierte sich hingegen an der Idee der Verschiedenheit der Geschlechter und trennte Jungen und Mädchen. Das dreigliederige Schulsystem wurde wiederbelebt und die Geschlechtertrennung in zahlreichen Realschulen und Gymnasien praktiziert. In diesem Zusammenhang muss der Einfluss der katholischen Kirche erwähnt werden, da diese auf eine traditionelle und konservative Mädchenschulbildung größten Wert legte. Die Kirche vertrat eine Geschlechterideologie, die Sittlichkeit, Harmonie, Ordnung, Beschützen und Dienen zu den Aufgaben einer Frau zählte (Pfister, 1988, S. 33). Aufgrund moralischer Bedenken wurde ein geschlechtshomogener Unterricht abgelehnt, so dass die Kirche sich verpflichtet sah, zahlreiche Mädchenschulen zu unterhalten. Im Laufe gesellschaftlicher Umbrüche in den 1960er Jahren setzten sich jedoch immer mehr demokratische und liberale Bildungskonzepte durch. Bildungschancen von Jungen und Mädchen sollten angeglichen werden.[10] Die Angst vor dem so genannten Bildungsnotstand veranlasste den Deutschen Bildungsrat die Anzahl an Abiturienten zu erhöhen. Die Sicherung der Chancengleichheit war das erklärte Ziel dieser Bildungspolitik, Unterschiede zwischen den Geschlechtern, Stadt - und Landbevölkerung und Konfessionsgruppen hinsichtlich formaler Bildungsabschlüsse und - chancen sollten beseitigt werden.[11] Kurzum, das Bild des benachteiligten katholischen Arbeitermädchens vom Lande musste revidiert werden.

Entscheidende Maßnahme zur Umsetzung genannter Ziele war die 1965 durchgeführte Schulreform. Sie sah eine vierjährige Grundschul - und anschließende Hauptschulzeit anstelle bisheriger Volksschullaufbahnen vor. Die Hauptschulen erhielten ein neuntes und ein fakultatives zehntes Schuljahr und wurden den weiterführenden Schulformen zugeordnet (Kreienbaum, 2006, S. 32). Diese Reformen sollten gleiche Vorraussetzungen aller Kinder auf eine umfassende Bildung und eine geregelte Durchlässigkeit des dreigliedrigen Schulsystems garantieren. Im Laufe der Oberstufenreform des Jahres 1972 wurde die Aufteilung der Schulen nach so genannten altsprachlichen, neusprachlichen oder mathematischen Zweigen aufgehoben. Somit stand Mädchen in der gymnasialen Oberstufe ein breiterer Fächerkanon zur Verfügung, ähnlich dem Stand und Bildungsniveau der Jungenschulen. Mit der Einführung der Koedukation und der Angleichung der Wahlmöglichkeiten in der gymnasialen Oberstufe entstanden jedoch so genannte Geschlechterreviere des Wissens. Demnach zogen sich Jungen aus den musischen Fächern und Französisch zurück, Mädchen hingegen mieden naturwissenschaftliche Fächer (Kreienbaum, 1992, S. 48). Gegenwärtig überwiegt der Anteil weiblicher Abiturientinnen, die nicht nur zahlenmäßig sondern auch in der Qualität ihrer Bildungsabschlüsse männlichen Mitschülern überlegen sind. Demzufolge scheinen Mädchen die Gewinner gesellschaftlicher und schulischer Reformen zu sein. Die Einführung der Koedukation im Zuge liberalerer Bildungskonzepte hat jedoch seit den 1970er Jahren bei Sportpädagogen und - didaktikern eine Diskussion um das Für und Wider eines gemeinsamen Sportunterrichts entfacht, die bis heute nicht abgeklungen ist. Pfister behauptet in diesem Zusammenhang:

„Die Schule trug so entscheidend zur Herausbildung der unterschiedlichen sportlichen Bedürfnisse, Verhaltensstandards und Fertigkeiten von Jungen und Mädchen bei, die sie dann wieder zur Legitimation ihrer geschlechtsspezifischen Strukturen benutzte. Sie reproduzierte Männlichkeits - und Weiblichkeitsklischees, deren Übertretung beide Geschlechter auch heute noch mit Diskriminierungen bezahlen“ (Pfister, 1985, S. 30).

Gegenwärtig ist es einzelnen Schulen freigestellt, ihren Sportunterricht zu organisieren. Auf der Grundlage von Leistungs - und Interessensunterschieden der Geschlechter distanzieren sich immer mehr Schulen in problembehafteten Altersstufen vom koedukativen Schulsport.[12]

3.3 Sportengagement von Jungen und Mädchen

Unter den Freizeitangeboten gehört der Sport bei Jungen und Mädchen zu den beliebtesten Aktivitäten, wobei Indikatoren wie persönliche Präferenz, Häufigkeit und zeitlicher Umfang bei Jungen und Mädchen unterschiedlich gewichtet sind (Cornelißen et al., 2002). Sowohl bei Mädchen als auch Jungen ist in der Phase der Kindheit und Jugend die aktive Beteiligung am Sport am deutlichsten ausgeprägt. In keiner anderen Lebensphase als der Jugend sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern derartig ausgebildet, nivellieren sich jedoch mit zunehmendem Alter und heben sich ab dem fünfunddreißigsten Lebensjahr wiederum auf (Brettschneider & Kleine, 2001. S. 115).

Für den schulischen Bereich des Sportengagements konstatieren Baur et al. (2002, S. 87), dass Mädchen mit den Inhalten des Sportunterrichts, insbesondere mit der Vielfalt des Angebots deutlich weniger zufrieden seien als Jungen. Im außerschulischen Sportengagement sind 59,5 % der Jungen und 45 % der Mädchen mitgliedschaftlich in Vereinen organisiert. Dabei ist auffällig, dass in der Kindheit beide Geschlechter gleich häufig Vereinensmitgliedschaften eingehen und erst ab der frühen Jugendphase geschlechterbezogene Differenzen entstehen (Brettschneider & Kleine, 2001, S. 88). Eine erhöhte Vereinsfluktuation der Mädchen lässt die Vermutung aufkommen, dass eine traditionelle Orientierung der Sportvereine auf Training, Leistung und Wettkampf bemängelt wird (Baur et al., 2002, S. 235). Die häufigen Vereinswechsel und - austritte verdeutlichen, dass sich Mädchen in einem Suchprozess nach der geeigneten Sportart befinden. Das Sportengagement von Frauen findet daher vermehrt informell statt, d.h. sie binden sich häufiger an private Sportanbieter wie Volkshochschulen, Fitnessstudios etc. (Schmidt, 2003, S. 303 ff).

Hinsichtlich bevorzugter Sportarten und Motive wird oftmals konstatiert, dass Männer Mannschafts - und Spielsportarten mit Wettkampfcharakter und Körperkontakt bevorzugen, Frauen hingegen Individualsportarten mit ästhetisch-kompositorischen Elementen betreiben. Rulofs et al. (2002, S. 47) widersetzten sich solch einer pauschalen Betrachtung und bemerken, dass Vereinssportarten wie Handball oder Volleyball bei 15 bis 18-jährigen in größerem Umfang von Mädchen betrieben werden. Neben den von Jungen bevorzugen Sportarten Basketball bzw. Streetball, Radsport und Schwimmen, sei die alle Altersstufen übergreifende Präferenz der männlichen Jugendlichen für Fußball unbestritten, welche sich je nach Altersstufe zwischen 40% und 60% befinde. Mädchen hingegen favorisieren Radsport, gefolgt von Schwimmen, Joggen und Inline-Skating (WIAD, 2003, S. 45ff). In den letzten Jahren ist dagegen der Trend zu verzeichnen, dass Mädchen immer häufiger typisch männliche Sportarten, wie Fußball betreiben, Jungen jedoch vornehmlich weibliche Disziplinen wie Gymnastik oder Tanz meiden. Diesbezüglich liegt die Vermutung nahe, dass Jungen innerhalb ihrer Peer-Group einen Statusverlust zu befürchten haben, was für Mädchen nicht unbedingt der Fall ist. Als Motive ihrer sportlichen Aktivitäten zählen für Jungen und Mädchen der Spaß - und Gesundheitsfaktor in gleichem Maße. Körperliches Wohlfühlen, etwas für die Figur zu tun und Entspannung seien die von Mädchen bevorzugten Motive, Jungen hingegen werden in der Regel durch Spaß, Leistungsorientierung und Spannung motiviert (Baur & Burrmann, 2000, S. 278). Die eigene körperliche Leistungsfähigkeit wird daher auch von zwei Dritteln der Jungen mit gut bzw. sehr gut eingeschätzt, bei den Mädchen sind es lediglich ein Drittel, die ihre eigene körperliche Leistung eindeutig positiv bewerten.[13]

Die Unterrepräsentation von Frauen im Sport erklärt Heinemann (2007, S. 257 ff) mit der zeitlichen Belastung, den Aufforderungscharakter des Sports, dem Körperethos, der Leistungsorientierung und der männlichen Vereins-Dominanz. Vor allem im Spitzensport seien Frauen in noch stärkerer Form unterrepräsentiert. Bei den olympischen Spielen der letzten Jahrzehnte lag der Frauenanteil bei ca. 25 %, was jedoch auch damit zu erklären ist, dass bei olympischen Spielen vereinzelte Sportarten für Frauen nicht zugängig sind, wie z.B. Boxen, Ringen, Rugby oder der Zehnkampf (Heinemann, 2007, S. 252f).

Jugendliche aus Mittel - und Oberschichten treiben zudem im Vergleich zu unteren sozialen Schichten in der Regel häufiger Sport. Pfister (1983, S. 194) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass in unteren sozialen Schichten traditionelle Geschlechterrollen stärker ausgeprägt seien als in Ober - und Mittelschichten. Frauen aus unteren Schichten seien demnach zu sehr auf ihre Doppelrolle als Mutter und Arbeiterin fixiert und im Handlungsfeld Sport unterrepräsentiert.

3.4 Reflexive Koedukation

Dargelegte Unterschiede im Sportengagement veranlassen Baden-Württemberg zur strikten Geschlechtertrennung in den Jahrgangsstufen 7 bis 10. Solche Maßnahmen können jedoch nicht als Königsweg aufgefasst werden, da in Folge dessen negative Rückwirkungen wie die Verstärkung von Geschlechterstereotypen zu befürchten seien (Faulstich-Wieland, 1991, S. 159 ff). Faulstich-Wieland rät daher davon ab, einzig und allein in geschlechtshomogenen oder geschlechtsheterogenen Kategorien zu denken und fordert eine situationsabhängige Trennung. Das Prinzip der reflexiven Koedukation verfolgt den Grundsatz, Geschlechterverhältnisse und seine Konstitutionsbedingungen im getrennten als auch im gemeinsamen Unterricht zu überdenken und zu reflektieren.

„Reflexive Koedukation heißt für uns, dass wir alle pädagogischen Gestaltungen darauf durchleuchten, ob sie die bestehenden Geschlechterverhältnisse eher stabilisieren, oder ob sie eine kritische Auseinandersetzung und damit ihre Veränderung fördern“ (Faulstich-Wieland, 1996, S. 583).

Das Modell thematisiert neben Veränderungen in Interaktionsverhalten und Einstellung auch die Reflexion inhaltlicher Fragen, wie das von Schulbüchern suggerierte problematische Männer - und Frauenbild. Zudem weist Faulstich-Wieland darauf hin, dass eine inhaltliche Überarbeitung der Lehrpläne notwendig sei, um eine tradierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu vermeiden und auch Mädchen die Möglichkeit einer eigenständigen und selbstbewussten Lebensplanung zu eröffnen. Das unausgeglichene Verhältnis von Lehrern und Lehrerinnen an Grundschulen und Gymnasien solle langfristig ausgeglichen werden, da männliche und weibliche Lehrkräfte „Vorbilder wie Transporteure der kulturellen Bedeutung von Weiblichkeit und Männlichkeit“ (Faulstich-Wieland, 1996, S. 167) seien.

„Das eigene Bild von Weiblichkeit und Männlichkeit, die eigene Einstellung zur Geschlechterhierarchie gilt es zu verdeutlichen – Konsequenzen für ihre Veränderung zu realisieren. LehrerInnenaus - und - fortbildung kann für die Sensibilisierung ebenso wie weitere Forschung zum Geschlechterverhältnis Hilfestellung leisten“ (Faulstich-Wieland, 1996,S. 168).

Ziel einer reflexiven Koedukation ist der Abbau von Geschlechterhierarchien zugunsten neu bestimmter Geschlechterverhältnisse, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben und - lernen beider Geschlechter ermöglichen. Damit verbunden ist die Auflösung geschlechtsspezifischer stereotyper Zuweisungen, indem eine gleiche und umfassende Bildung beider Geschlechter durch die Schule gewährleistet wird. Reflexive Koedukation verfolgt keine Gleichmacherei, sondern lässt Raum für individuelle Unterschiede, ohne dass daraus Benachteiligungen resultieren. Für die zukünftige Lebensgestaltung von Jungen und Mädchen hinsichtlich der Gründung einer Familie und gleichzeitiger Erwerbstätigkeit versucht reflexive Koedukation die Fähigkeiten beider Geschlechter zu fördern. Jungen sollen hinsichtlich der Orientierung auf Familientätigkeit und Kindererziehung unterstützt und gefördert werden, Mädchen hingegen müssen lernen, ihre Ansprüche an Arbeit und Beruf zu artikulieren (Bildungskommission NRW, 1995, S. 130f). Wird die Trennung zeitweise vollzogen, sollen untypische Verhaltensweisen wie Kraft und Härte bei Mädchen und Ängste und Weichheit bei Jungen erprobt werden (Bildungskommission NRW, 1995, S. 130). Die Bildungskommission Nordrhein-Westfalens fordert das Modell der reflexiven Koedukation in das Lern - und Sozialfeld Schule umfassend zu integrieren. Zudem sollen Geschlechterstereotype für Schüler bewusst gemacht, thematisiert und bearbeitet werden.[14] Der Abbau von Geschlechterstereotypen kann in geschlechtergetrennten als auch in geschlechtsheterogenen Gruppen vollzogen werden, dabei bedeutet reflexive Koedukation keinen Rückschritt zu getrennten Gruppen oder Schulen, sondern Anpassung an die jeweilige Lernsituation. Darüber hinaus muss ein Augenmerk auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen bei Jungen und Mädchen gelegt werden. Die Entwicklung von Empathiefähigkeit für die eigene, fremde und andersgeschlechtliche Person ist wesentlicher Bestandteil sozialer Kompetenz und kann über Perspektivenwechsel und Rollenspiele vollzogen werden.

[...]


[1] Ebenso verweist Erikson in seiner Stufentheorie der Identitätsentwicklung darauf, dass in der Adoleszenzphase das Individuum die Krise der Identitätsfindung- und diffusion zu bewältigen hat. (Erikson, 1973)

[2] Zudem seien rollentheoretische Überlegungen zu sehr mit der Beschreibung männlicher und weiblicher Rollen behaftet, so dass Unterschiede innerhalb der Geschlechter ignoriert, dichotomes Denken über Geschlechterdifferenzen verstärkt und Gemeinsamkeiten verkannt werden (Becker-Schmidt & Knapp, 1989).

[3] Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit geht auf Connell (2000, S. 87-107) zurück und meint dominante männliche Verhaltensmuster gegenüber Frauen mit dem Ziel patriarchale Machtstrukturen aufrecht zu erhalten.

[4] Defizittheorien gehen vom Mann als Norm und Frau als defizitärem Wesen aus. Die Misogynie beruft sich auf die Physiognomik und setzt sich dafür ein, dass Bildung ausschließlich vom männlichen Geschlecht beansprucht werden soll, so dass alles Weibliche als schwachsinnig und minderwertig behaftet wurde. Differenztheorien hingegen gehen von der Ebenbürtigkeit und Verschiedenheit der Geschlechter aus und proklamieren typisch männliche bzw. weibliche Eigenschaften (Kreienbaum, 2006, S. 39). Zudem basieren Defizit- und Differenztheorien auf biologischen Annahmen und legitimieren patriarchale Machtstrukturen.

[5] Die Genderforschung stellte heraus, dass Begriffe wie „Weiblichkeit und Männlichkeit eine kulturell bedingte Vielfalt an Bedeutungsmöglichkeiten aufweisen“ (Hof, 1995, S. 15).

[6] Gieß-Stüber (2006) konnte beobachten, dass bereits Kleinkinder sich während des Eltern-Kind-Turnens die für ihr Geschlecht stereotype Sportart entscheiden. Jungen spielen demnach Fußball und betreiben leichtathletische Übungen, Mädchen hingegen betreiben Bewegungsspiele, indem sie sich aus Tüchern Kleider und Schleier basteln. Gieß-Stüber resümiert, dass Geschlechtsidentität sich durch Interaktionen, Anerkennungsverhältnisse und Rückmeldungen entwickele.

[7] Pfister merkt an, dass eine generelle Überwindung der Geschlechtsrollenfixierung in einem gesellschaftlichen Subsystem wie dem Sportbereich durch androgyne Einflüsse nicht möglich sei. Vielmehr könne „eine geschlechtsunspezifische Erziehung im Sport nur dazu beitragen, Barrieren für eine freie Entfaltungsmöglichkeit in diesem Bereich abzutragen“ (Pfister, 1983, S. 260).

[8] Im Zuge der Reformpädagogik entwarfen die Österreicher Margarete Streicher und Karl Gaulhofer eine Fachdidaktik für das Mädchenturnen mit dem vorrangigen Ziel der Förderung der Gebärfähigkeit.

[9] Eine Möglichkeit sah vor, Mädchen während des Turnunterrichts in handarbeitlicher Tätigkeit zu unterrichten bzw. ganz vom Unterricht zu befreien. Eine weitere Option bestand in dem Unterfangen Mädchen und Jungen aus mehreren Klassen gleichzeitig, jedoch in geschlechtshomogenen Gruppen turnen zu lassen. Eine dritte Lösung sah einen gemeinsamen Turnunterricht beider Geschlechter vor, ohne jegliche räumliche und zeitliche Trennung vorzunehmen.

[10] Ein Beispiel dieser Tendenzen sind die Neugründungen zahlreicher Gesamtschulen, welche den Anspruch erhoben, Schulen für Kinder aller Schichten und beider Geschlechter zu sein.

[11] Bislang besaßen Katholiken weniger Bildungsanteile als Protestanten.

[12] Diesbezüglich ist zu erwähnen, dass Baden-Württemberg seit dem Jahre 2003 den Schulsport in den Klassen 7 bis 10 durchgängig in geschlechtshomogenen Gruppen organisiert (Kugelmann, 1996).

[13] In durchgängig allen Jugendaltern wird jedoch die eigene Leistungsfähigkeit von den Mädchen realistischer eingeschätzt, der Hang zur Selbstüberschätzung der Männer nimmt jedoch mit dem Jugendalter ab (WIAD, 2000, S. 34).

[14] Kreienbaum (2006, S. 139) hält jedoch die Thematisierung existierender Geschlechterverhältnisse im Unterricht für kontraproduktiv, da Geschlechterunterschiede konstruiert und nicht aufgeklärt würden.

Ende der Leseprobe aus 124 Seiten

Details

Titel
Zurück zu den Anfängen? – Eine qualitative Untersuchung zur Wiederentdeckung der Geschlechtertrennung im gegenwärtigen Sportunterricht
Untertitel
Koedukation oder Geschlechtertrennung im Sportunterricht
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Sportwissenschaft )
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
124
Katalognummer
V115212
ISBN (eBook)
9783640159277
ISBN (Buch)
9783640160129
Dateigröße
908 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zurück, Anfängen, Eine, Untersuchung, Wiederentdeckung, Geschlechtertrennung, Sportunterricht
Arbeit zitieren
Daniel Pater (Autor:in), 2008, Zurück zu den Anfängen? – Eine qualitative Untersuchung zur Wiederentdeckung der Geschlechtertrennung im gegenwärtigen Sportunterricht , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115212

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