Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
Kellers Sprachwandeltheorie
Invisible-Hand-Erklärungen
Kellers Handlungsmaximen
Der Sprachwandel der Juden in Deutschland
Ein kurzer historischer Abriss
Anwendung von Kellers Sprachwandeltheorie auf das Westjiddische
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Innerhalb der Sprachwissenschaft stellt der Sprachwandel eine äußerst umstrittene Disziplin dar. Hierzu führen verschiedene Forscher unterschiedliche Theorien und Modelle ins Feld, welche wiederum Diskussionsgegenstand der Forschung sind. Informiert man sich über diese Modelle, dann fällt einem schnell auf, dass Rudi Kellers Sprachwandeltheorie besondere Beachtung erhält. Aus diesem Grund wird seine Theorie im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen und zu ihrem Untersuchungsgegenstand gemacht. Dabei sollen vor allem Kellers „Invisible- Hands-Erklärungen“ (Erklärungen der unsichtbaren Hand) und seine Handlungsmaximen im Fokus stehen und ausführlich diskutiert werden. Es wird der Frage nachgegangen, wie diese überhaupt funktionieren und wie man mit ihrer Hilfe den Sprachwandel erklären und darstellen kann. Darüber hinaus sollen Kellers Aussagen im Rahmen dieser Arbeit präsentiert, analysiert und diskutiert werden. An dieser Stelle könnte man darüber nachdenken, mögliche Gegenpositionen und Kritiker Kellers vorzubringen, jedoch verzichtet diese Arbeit auf diesen Punkt, da es sonst in der Kürze der Zeit nicht möglich wäre, Kellers Ausführung gerecht zu werden.
Der zweite Teil dieser Arbeit liefert ein Fallbeispiel für den Sprachwandel. Dabei wird das Verschwinden des Westjiddisch unter den deutschen Juden thematisiert, der Ablauf dessen dargestellt und darüber hinaus mögliche Ursachen dafür untersucht. Was bewirkte überhaupt die Aufgabe der bis dato angestammten Alltagssprache der Juden? In einem abschließenden Kapitel soll geklärt werden, ob sich Hinweise für die Motive des Verschwindens bei Kellers Sprachwandeltheorie finden lassen. Dabei wird die Frage aufgearbeitet, ob und inwieweit Kellers Thesen einen Nährboden zur Erklärung dieses Wandels liefern können.
Kellers Sprachwandeltheorie
Wenn man sich mit den verschiedenen Themen des Sprachwandels befasst, so stößt man früher oder später unweigerlich auf Kellers Sprachwandeltheorie, welche nun zum Einstieg genauer dargestellt werden soll.
Sprachen1 verändern sich mit der Zeit, sie unterliegen einem Wandel. Vergleichbar mit einem Organismus, der neue Zellen erschafft und dafür andere abwirft, so gehören auch bestimmte Wörter einer Sprache mit der Zeit der Vergangenheit an und es bilden sich dafür neue Wörter. Keller führt hierzu unter anderem die Wandlungen des Deutschen seit Mitte des 20. bis ins 21. Jahrhundert als Beispiel an.2 Wenn man als ein weiteres Beispiel die Jugendsprache zu Rate zieht, dann genügt sogar ein wesentlich kürzerer Zeitabschnitt um einen Sprachwandel nachzuweisen. So werden heutzutage durch die Medien, Werbung und andere mehr ständig neue Wortkreationen geschaffen und darüber hinaus in kürzester Zeit an Millionen von Menschen verbreitet. Teilweise geraten diese schnell wieder in Vergessenheit, manche manifestieren sich jedoch in der Alltagssprache, zumindest für einige Zeit, bevor sie dann wieder verschwinden. Ein aktuelles und regionales Beispiel hierfür wäre die Verkettung von „vong“ + Substantiv + „her“. Wenn man also sagt „Diese Hausarbeit ist gut vong Schreibstil her“, dann ist gemeint, dass diese Hausarbeit einen guten Schreibstil innehat. Vor einem Jahr hätte hier noch niemand gewusst, was damit gemeint ist, oder hätte es sich zumindest herleiten müssen3. In einem Jahr gehört dieser Trend wahrscheinlich schon der Vergangenheit an.
Doch was ist der Grund warum sich Sprache überhaupt ändert, was steckt dahinter? Rudi Keller geht an dieser Stelle der Frage nach, ob es nicht ökonomischer wäre, eine Sprache in ihrer Beschaffenheit festzusetzen und unverändert zu lassen. Somit würde es weniger Probleme bei der Kommunikation zwischen verschiedenen Generationen geben. Zwar hätte dies einen gewissen Vorteil, jedoch würde eine solche Festsetzung ebenfalls dafür sorgen, dass sich die Sprache nicht mehr verändern kann. Tagtäglich entwickelt sich unsere Welt weiter, es werden neue Stoffe entdeckt oder Maschinen erfunden. Diese Dinge brauchen Bezeichnungen, einen Namen, es werden kurzum neue Wörter benötigt. Eine zementierte Sprache wäre also nicht nur praktisch nicht umsetzbar, sondern verfolgt auch theoretisch einen vollkommen falschen Ansatz. Wie bereits angedeutet wurde, unterliegt unsere Welt einem stetigen Wandel, Fortschritt geschieht zu jeder Sekunde. Die Welt ist lebendig, eine Sprache die in dieser Welt überleben will muss also ebenso lebendig und in der Lage sein, sich an neue Gegebenheiten anzupassen. Dabei wird keine Rücksicht auf zuvor festgelegte Konventionen genommen4. Dennoch benötigt jede Sprache feste Regeln, denen sie sich unterwerfen muss, damit Kommunikation in ihr überhaupt möglich ist. Das naheliegendste Beispiel sind natürlich Rechtschreibregeln und Grammatik. Wobei selbst diese von Zeit zu Zeit überarbeitet werden5.6
Nun wurde eingangs die Frage formuliert, warum sich Sprache überhaupt verändere. Es fällt jedoch auffallend schwer, eine einfache Antwort darauf zu formulieren. Keller unterscheidet an dieser Stelle zwischen den beiden Fragestellungen „Warum ändert sich die Sprache?“ und „Warum ändern Sprecher die Sprache?“. Diese beiden Fragen bezeichnet er als organistische und mechanistische Versionen.7 Auch ihm fällt es schwer auf die Frage nach dem Warum? des Sprachwandels eine geeignete Antwort zu finden, er findet sich in einem Dilemma wieder. Keller geht dieses Problem an, indem er den Sprachwandel direkt in einer Population lokalisiert, unabhängig vom Individuum. Logisch wird dies, wenn man das Sprachverhalten eines einzelnen Individuums näher betrachtet. Es ist eher unwahrscheinlich, dass eine einzelne Person willentlich den Entschluss fassen würde, die eigene Sprache zu verändern und so aktiv einen Sprachwandel herbeizuführen. Dazu kommt, dass das Umfeld diese Veränderung zuerst einmal akzeptieren, und im Anschluss sich dieser anschließen müsste. Ohne Sprachkontakt zu anderen Menschen und größeren Gruppen ist es für den Sprachwandel nicht möglich sich zu verbreiten. Dieser Sprachwandel muss also innerhalb einer Population stattfinden. Folglich ist es nur logisch, dass man eine gesamte Population untersuchen muss, wenn man dem Sprachwandel auf den Grund gehen möchte. Schlussendlich kommt Keller in seinen Ausführungen zu der Aussage, dass: „die Sprecher ihre Sprache nicht intentional, nicht planvoll und nicht bewußt [verändern]“8. Doch wirklich genau betrachtet liefern diese Ausführungen keine zufrieden stellende Antwort auf die eingangs formulierte Frage nach dem Grund des Sprachwandels. An dieser Stelle eröffnet sich also bereits ein erster Kritikpunkt an Kellers Sprachwandeltheorie. Es bleibt die Frage, ob überhaupt eine allgemein gültige Definition gefunden werden kann. Diese lässt sich wohl nur schwerlich finden, da der Sprachwandel ein sehr weites Gebiet mit unzähligen Einflussfaktoren ist. Folglich kann eine simple Erklärung wohl kaum zufrieden stellend formuliert werden. Aus diesem Grund soll diese Thematik hier nicht weiter thematisiert werden. Es war jedoch wichtig, diese Problematik und Kellers Aussagen diese betreffend zu Beginn anzusprechen, damit diese Arbeit in einem späteren Kapitel darauf zurückgreifen kann. In der Folge wird nun zuerst behandelt, wie nach Keller der Wandel von Sprachen durch die sogenannten „Invisible-Hand-Erklärungen“ dargestellt wird.
Invisible-Hand-Erklärungen
Die Invisible-Hand-Erklärungen, auch Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand 9 genannt, stehen im Zentrum der Erläuterungen von Keller den Sprachwandel und dessen Abläufe betreffend. Diese sind die Ergebnisse menschlichen Handels, jedoch nicht das Ziel hinter der menschlichen Handlung. Es ist nicht die Intention der Menschen die Sprache zu verändern und beruht nicht auf der „Durchführung eines menschlichen Plans“10, so Keller. Folglich handelt es sich dabei um eine unbeabsichtigte Folge. Nach Keller stellt die Sprache somit etwas dar, was im Laufe der Zeit ungeplant vom Menschen geschaffen wird. Jedoch geschieht das nicht bewusst, es ist keine intentionale Handlung. An dieser Stelle eröffnet sich die Frage, ob Sprache etwas ist, was rein natürlich entstanden ist, sozusagen ein „Gottesgeschenk“ an den Menschen? Wenn man sich die bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit näher ansieht, ist dies nicht der Fall. Keller diagnostiziert hier folgende Problematik: Eine zweiteilige Unterscheidung der weltlich existierenden Dinge in eine „physikalische und eine historische Wissenschaftsabteilung“11 ist keine befriedigende Kategorisierung. Aufgrund der Stellung der Sprache, ein ungeplantes Ergebnis menschlichen Handelns, müsste man sie unweigerlich der historischen Wissenschaftsabteilung zuteilen. Weil deren vom Menschen geschaffenen Inhalte jedoch als künstlich betrachtet werden, steht dies in einem Konflikt mit der ungeplanten/natürlichen Entstehung und dem ebenso konnotierten Wandel der Sprache. Es wird also scheinbar eine weitere, dritte Kategorie benötigt, um die Sprache korrekt einzuordnen. Keller lokalisiert an dieser Stelle eine Unterkategorie der künstlichen Dinge, die er nochmals in natürliche und künstliche Schöpfungen unterteilt. Dabei haben beide Unterkategorien gemein, dass ihre Inhalte durch die Handlungen von Menschen entstehen. Keller bezeichnet sie als künstlich, wenn es sich um eine geplante Handlung mit einer Intention handelt, beispielsweise die Herstellung bzw. der Bau eines Autos. Entstehen gewisse Dinge jedoch unbewusst, wie die menschliche Sprache, so gruppiert Keller diese in der Unterkategorie natürlich. Damit wird diese dritte Kategorie vom gleichen Adjektiv beschrieben. Keller begründet dies dadurch, dass, bei genauerer Betrachtung, das Wort natürlich bereits unbewusst mehrere Definitionen innehat und man es auch zweideutig verwendet. Zwar können beispielsweise auch Städte natürlich wachsen, sind aber dennoch vom Menschen genauso geschaffen wie das Auto und keineswegs der natürlichen Kategorie zuzuordnen. In diese Unterkategorie fallen Dinge wie eine natürlich wachsende Blume.12 Diese genauere Unterteilung ist nötig, um Invisible-Hand-Erklärungen überhaupt zu ermöglichen, da eine solche mit den beiden ursprünglichen Arten natürlich/unnatürlich nicht definierbar wäre.
Als Beispiel hierfür bringt Keller das Netz an Trampelpfaden auf dem Campus seiner Universität vor. Diese Trampelpfade bilden sich dadurch, dass die Studierenden den Weg über die Wiesen der Universität abkürzen. Jedoch ist es nicht die Intention der Studierenden, neue Wege zu schaffen, sondern Zeit zu sparen. Das Abkürzen jener Wege unterliegt zudem logischen Prinzipien, folglich wird nur ein bestimmter Teil der Wiesen immer wieder benutzt. Durch die hohe Beanspruchung stirbt dieser Teil der Wiese ab und es bilden sich besagte Trampelpfade, da die restlichen Abschnitte größtenteils unberührt bleiben.13 Somit sind die entstandenen Pfade das Ergebnis menschlichen Handelns, beruhen jedoch nicht auf einem Plan, der ausgeführt wurde.14 Auch für den Sprachwandel findet Keller anhand des Verschwindens des Wortes englisch als Synonym zum heutigen engelsgleich/engelhaft zugunsten der Bedeutung für etwas „aus England stammendes/britisches“ ein Beispiel. Keller betont an dieser Stelle ganz besonders, dass nicht die Homonymie für den Untergang des Wortes sorge, denn diese ist inder heutigen Sprach alltäglich. Vielmehr wurde das Wort englisch von den Sprechern der damaligen Zeit nicht mehr verwendet, um Missverständnisse vorzubeugen. Aus diesem Grund wurden besser verständliche Synonyme verwendet. Dadurch trat die Bedeutung „aus England stammend/britisch“ in den Vordergrund und die anderen Bedeutung geriet nach und nach in Vergessenheit. So verschwand sie schließlich aus dem Wortschatz der Menschen. Da nicht davon auszugehen ist, dass dies von einem bestimmten Individuum innerhalb eines Kollektivs geplant war, diese Wortbedeutung verschwinden zu lassen, kann man auch hier von Invisible-Hand-Erklärungen sprechen.15
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1 Gemeint sind hier hier aktuelle Alltagssprachen wie das Deutsche oder Englische. Dies bezieht sich nicht auf die sog. „toten“ Sprachen, wie Latein oder das antike Altgriechisch.
2 Vgl. Keller, Rudi: Sprachwandel3, Tübingen 2003, S. 18.
3 Und vermutlich kopfschüttelnd verbessert.
4 Gemeint sind hier natürlich Konventionen zur Unveränderbarkeit der Sprache.
5 Bsp: Rechtschreibreformen.
6 Vgl. Ebd. S. 17-20.
7 Vgl. Ebd. S. 23.
8 Ebd. S. 29.
9 Ebd. S. 61.
10 Ebd. S. 61.
11 Ebd. S. 63.
12 Ebd. S. 62-95.
13 Ebd. S. 100
14 Höchstens den Plan Zeit zu sparen, jedoch entspricht dies viel mehr einem Wunsch, als einem durchgeführten Plan.
15 Vgl. Ebd. S. 113-115.