Anstoß zur Thematik vorliegender Arbeit, das
Autobiographische in seiner spezifischen Ausprägung bei
Oswald von Wolkenstein näher zu untersuchen, war ein
anfängliches, instinktives Unbehagen, den Terminus
"autobiographisch" auf die lyrische Dichtung eines
spätmittelalterlichen Autors angewandt zu sehen.(1) Die
erste Überlegung war, das vieles, was in Oswalds Lyrik
der vorschnellen Zuschreibung des Autobiographischen
unterliegt, der literarischen Tradition verpflichtet
sein müsse, etwa so, wie es CURTIUS in seiner Geschichte
der mittelalterlichen Topik untersucht hat.(2) Ich nahm an,
daß das lyrische Ich, welches in Oswalds Dichtung zum
Vorschein kommt, ein irgendwie stilisiertes sein müßte,
das nicht mit dem realen Ich des Dichters übereinstimmt.
Diese Annahme hing eng zusammen mit einer zweiten
Überlegung, daß nämlich der Gattungsnahme "Autobiographie" eine neuzeitliche Prägung ist und die Anfänge der literarischen Gattung meist im 18.Jahrhundert gesucht werden.(3)
Die Vorstellung, die somit in uns auftaucht, wenn wir den Begriff
"Autobiographie" oder "autobiographisch" hören, ist ganz
wesentlich vom 'klassischen' Zeitalter der Gattung im
18. und 19.Jahrhundert beeinflußt. Daraus folgt, daß wir
Gefahr laufen, ein bestimmtes Verständnis, das im
Begriff "autobiographisch" seit jener Zeit mitschwingt,
auf ein Zeitalter zu übertragen, dessen geistiggeschichtliche
Voraussetzungen andere waren.(4) Bedingungen und Möglichkeiten autobiographischen Schreibens mußten deshalb ebenfalls verschieden sein.
[...]
______
1 Vgl. MÜLLER, U.: "Wahrheit" und "Dichtung", S.1:[...]
2 CURTIUS: Europäische Literatur.
3 Während für die Autobiographie ohne künstlerischen Anspruch das
16.Jahrhundert als Zeitalter der Gattungsgenese betrachtet wird. Eine
Ausnahme bildet die italienische Tradition der Renaissance.
4 "Heute ist 'Autobiographie' ein gängiger, umfassender Begriff
für alle denkbaren literarischen und nicht-literarischen Formen der
Lebensbeschreibung und der Selbstdarstellung geworden. Trotzdem haftet ihm auch die modellhafte Vorstellung einer auf die Entwicklung der Persönlichkeit konzentrierte Lebensbeschreibung an.", VELTEN: Leben, S.8.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- TEIL 1: DIE AUTOBIOGRAPHIE ALS GATTUNG
- A. Forschungsbericht zur Autobiographie
- B. Zur Entwicklung der Autobiographik - Stationen der Gattungsgeschichte
- 1. Die religiöse Autobiographik
- a) Die Confessiones des Augustinus
- b) Die deutsche Mystik
- 2. Die weltliche Autobiographik
- 3. Renaissance und Barock
- 4. Die religiöse Autobiographik des Pietismus
- 5. Die klassische Zeit der Autobiographie
- a) Jean-Jacques Rousseau
- b) Johann Wolfgang von Goethe
- 6. Die Autobiographik im 19. und 20. Jahrhundert
- 1. Die religiöse Autobiographik
- TEIL 2: DAS MITTELALTER ALS BEDINGUNGSRAHMEN FÜR AUTOBIOGRAPHISCHES SCHREIBEN
- A. Historische Voraussetzungen und Zugangsweisen
- 1. Historische Bedingtheit der Subjektivität
- a) Historische Distanz und Annäherungsversuche
- b) Historischer Wandel der Mentalitäten
- c) Historische Anthropologie
- 1. Historische Bedingtheit der Subjektivität
- B. Das Autobiographische im Mittelalter
- 1. Zur Forschungslage
- 2. Überlegungen zur Begrifflichkeit von Autobiographie im Mittelalter
- 3. Stationen der Gattungsgeschichte im Mittelalter
- a) Vita, Legende und Confessiones
- b) Abälard
- c) Autobiographik im späteren Mittelalter
- 1. Familienbücher und kaufmännische Merkbücher
- 2. Reisebeschreibungen und ritterliche Autobiographik
- d) Frauendienst
- A. Historische Voraussetzungen und Zugangsweisen
- TEIL 3: DIE "AUTOBIOGRAPHISCHE LYRIK" OSWALDS VON WOLKENSTEIN
- A. Exkurs: Zur Forschung zu Oswald von Wolkenstein
- B. Versuch einer Definition des Autobiographischen im Mittelalter
- C. Darstellungsdispositionen des Autobiographischen im Mittelalter
- 1. Weltliche und geistliche Autobiographik unter formalen Gesichtspunkten
- 2. Oswalds Alterslieder - Variationen geistlicher Autobiographik
- 3. Die autobiographische Mitteilung
- a) der autobiographische Beweis
- 4. Die Handlungs-Autobiographie
- 5. Die Darstellung eines einzelnen Ereignisses innerhalb der autobiographischen Lyrik Oswalds von Wolkenstein
- 6. Räumliche und zeitliche Disposition der Verlaufsform von Handlungs-Autobiographie
- 7. Typenstammbaum für das Autobiographische im Mittelalter
- D. Die "autobiographische Lyrik" Oswalds im Kontext wesentlicher Einflußfaktoren
- 1. Dichtung und Wahrheit - ein zulässiger Dualismus bei der Bewertung von Kunstwerken
- 2. "Realismus" im Spätmittelalter und bei Oswald?
- 3. Oswalds autobiographische Lyrik als Erlebnisdichtung?
- 4. Das Problem des lyrischen Ichs
- 5. Oswalds Namensnennung und ihre Bedeutung für seine autobiographischen Lieder
- 6. Exkurs: Die mittelhochdeutsche Lyrik als Darstellungsrahmen des Autobiographischen im Mittelalter
- 7. "Autobiographische Lieder" und Publikum
- 8. "Autobiographische Lieder" - Motivation und Funktion
- 9. Artistik und literarische Kompetenz als Primärimpetus für autobiographisches Schreiben bei Oswald
- E. Zusammenfassung und Ergebnisse
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Frage nach dem Autobiographischen in der Lyrik Oswalds von Wolkenstein. Sie untersucht, wie sich das Autobiographische in Oswalds Werken darstellt und welche Bedingungen und Möglichkeiten für autobiographisches Schreiben im Mittelalter gegeben waren.
- Die Entwicklung der Autobiographie als Gattung
- Die historische Bedingtheit der Subjektivität im Mittelalter
- Die Rolle des lyrischen Ichs in der mittelalterlichen Lyrik
- Der Einfluss der literarischen Tradition auf die Darstellung des Autobiographischen
- Die Interpretation von Oswalds "autobiographischen Liedern" im Kontext der Gattung und der Epoche
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik ein und erläutert das Problem des Autobiographischen in der Lyrik Oswalds von Wolkenstein. Teil 1 befasst sich mit der Autobiographie als Gattung und skizziert deren Entwicklung von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Teil 2 widmet sich dem Mittelalter als Bedingungsrahmen für autobiographisches Schreiben und untersucht die historischen Voraussetzungen und die Gattungsgeschichte des Autobiographischen in dieser Epoche. Teil 3 analysiert die "autobiographische Lyrik" Oswalds von Wolkenstein, indem er die Darstellungsdispositionen des Autobiographischen im Mittelalter und die wesentlichen Einflußfaktoren auf Oswalds Werk untersucht.
Schlüsselwörter
Autobiographie, Lyrik, Oswald von Wolkenstein, Mittelalter, Gattungsgeschichte, Subjektivität, lyrisches Ich, "autobiographische Lieder", Dichtung und Wahrheit, Realismus, Erlebnisdichtung.
- Arbeit zitieren
- Stefan Ruess (Autor:in), 1997, Autobiographisches Schreiben im Mittelalter. Die autobiographischen Lieder Oswalds von Wolkenstein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1160