Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Das Geschichtsbild des Thukydides
III. Die Methodik des Thukydides
IV. Zusammenfassung und Ergebnisse
V. Literaturangabe
VI. Quellen
I. Einleitung
Das Geschichtswerk des Thukydides gilt heute als Beginn der Geschichtsschreibung und der antike Historiker als Initiator der modernen Geschichtswissenschaft[1]. Bezeichnet man Herodot als Vater der Geschichtsschreibung, so kann man seinen Nachfolger Thukydides als den Vater der realistischen, wissenschaftlichen und politischen Geschichte bezeichnen[2]. Ohne Herodot ist die Leistung des zweiten großen Historikers des antiken Griechenlands zwar undenkbar, jedoch begründet dieser einen neuen Anfang im Vergleich zu seinem berühmten Vorgänger[3]. Bogner bezeichnet Thukydides als den eigentlichen Beginn der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und als „Gipfel der historischen Kunst der Griechen (wenn nicht der historischen Kunst überhaupt)“[4]. Sein unvollendetes Werk über den Peloponnesischen Krieg ist zwar kein Geschichtswerk als Ganzes, aber sein Nachfolger Xenophon knüpft in seiner Hellenika direkt daran an[5].
Jedoch kamen in der Geschichtsforschung Zweifel an seiner Wissenschaftlichkeit auf[6]. Thukydides selbst bietet viele Anhaltspunkte für diese Zweifel, da er viele Dinge einfach ausläßt oder übergeht[7]. Dabei darf nicht übersehen werden, daß Thukydides ausdrücklich die Kriegs- und Machtgeschichte zu seinem Thema gemacht hat.
Die Reihe von Vorwürfen seitens der Geschichtsforschung in bezug auf seine Wissenschaftlichkeit betreffen größtenteils sein Geschichtsverständnis und seine Methodik. Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit soll sein Geschichts- und Menschenbild näher beleuchtet werden. Interessant ist hier auch die Frage nach möglichen Einflüssen auf sein Geschichtsverständnis. Der zweite Teil widmet sich der thukydideischen Methodik und der Frage nach seiner Wissenschaftlichkeit. Im dritten und letzten Abschnitt werden die Ergebnisse noch einmal zusammengefaßt.
II. Das Geschichtsbild des Thukydides
Um das Geschichtsbild von Thukydides zu erklären, bedarf es zuerst einer Untersuchung seiner Biographie. Möglicherweise finden sich in seinem Lebenslauf Hinweise auf Ereignisse, die sein Geschichtsbild geprägt haben könnten.
Thukydides entstammte einer politisch ambitionierten Aristokratenfamilie Athens, die als adlig-konservativ galt und zeitweise in Opposition zu den Alkmeoniden und Perikles stand[8]. Geboren wurde er etwa zu Beginn der Fünfziger des 5. Jahrhunderts vor Christus[9]. Zu Beginn des Peloponnesischen Krieges 431 v.Chr. war er noch verhältnismäßig jung, wahrscheinlich Anfang 20. Zieht man in Betracht, daß Thukydides im Amtsjahr 424/423 Stratege war[10], muß er zu diesem Zeitpunkt mindestens 30 Jahre alt gewesen sein und bereits einen zehnjährigen Sohn gehabt haben, da man diese Bedingungen erfüllen mußte, um überhaupt zum Strategen gewählt werden zu können[11]. Demnach ist es wahrscheinlich, daß er zumindest vor 454 geboren war, also beim Ausbruch des Krieges mindestens 23 Jahre alt war. Über seinen Todeszeitpunkt sind keine Angaben erhalten geblieben, doch man hält in der Forschung das Jahr 400 für eine realistische Schätzung seines Todesjahrs[12].
Thukydides war wahrscheinlich ein wohlhabender Mann, da er Gold- und Silberminen in Thrakien besaß[13] oder zumindest die Nutzungsrechte innehatte[14]. Der materielle Reichtum bedeutete nicht nur die Zugehörigkeit zum athenischen Adel, sondern bescherte Thukydides wohl auch eine gewisse Unabhängigkeit.
Da fast alles, was man von dem Historiker weiß, seinem eigenen Werk entnommen werden muß, weil es ansonsten kaum Überlieferungen zu seiner Person gibt, ist die Quellenlage bis zu seiner Wahl ins Strategenamt äußerst dürftig. Jedoch dürfte Thukydides zu Beginn des Krieges als Soldat gedient haben, denn ohne jegliche Kriegserfahrung ist die Wahl in ein so hohes militärisches Amt, vor allem in Krisenzeiten, sehr unwahrscheinlich. Des weiteren wissen wir von ihm selbst (Thuk. II, 28), daß er an der Pest erkrankte, die Athen in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges heimsuchte. Doch er überlebte die furchtbare Seuche, die er im zweiten Buch in den Abschnitten 49 und 50 detailliert beschreibt.
Als Stratege wurde Thukydides nach Thrakien gesandt, da er mit der Gegend vertraut war (s.o.) und bei den dortigen Adligen einen großen Einfluß besaß[15]. Jedoch scheiterte er dort, da Amphipolis an den spartanischen Heerführer Brasidas fiel. Für sein Versagen schickte man Thukydides in die Verbannung, die erst mit dem Kriegsende 404 endete. Erst jetzt kehrte er nach Athen zurück. Dort arbeitete aber weiterhin an seinem Werk[16], wahrscheinlich bis zu seinem Tod, denn schließlich bleibt seine Arbeit unvollendet und reißt abrupt ab.
Durch seine Zugehörigkeit zur Adelsschicht Athens, erlebte er unmittelbar die philosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Er war Zeuge der Politik des Perikles und Zeuge der Stimmung der athenischen Polis vor, teilweise während und nach dem Krieg[17]. Das Fünfte Jahrhundert wird auch als „aufklärerisches“ Jahrhundert bezeichnet. Die damit einhergehenden geistigen Entwicklungen, die sich in dieser Zeit vollzogen, konnten somit nicht an ihm vorbeigehen. Durch seine militärische Laufbahn als Soldat und Stratege, nahm er nicht nur selber am Peloponnesischen Krieg teil, sondern gewann auch tiefe Einblicke in Kriegsführung und Kriegstaktik. Zwar endete diese Karriere recht schnell, führte aber andererseits dazu, daß er während seiner Verbannung Gelegenheit hatte, andere griechische Poleis kennen zu lernen und auf diese Weise seinen Horizont zu erweitern. So nutzte er die Zeit seiner Emigration für sein Lebenswerk[18]. Nicht zuletzt war er Bürger des geistigen, politischen und wirtschaftlichen Zentrums der griechischen Welt. In bezug auf sein Geschichtsverständnis lassen sich allein aus seiner Biographie aber noch keine entscheidenden Schlüsse ziehen. Erst im Kontext seines Geschichtswerkes wird sein Geschichtsbild deutlich und begründbar.
Um das Geschichtsbild von Thukydides herauszuarbeiten, ist es nützlich, Herodot zum Vergleich heranzuziehen. Anhand der Unterschiede zwischen den beiden großen griechischen Historikern, läßt sich das Geschichtsverständnis von Thukydides zumindest zum Teil besser veranschaulichen. Dieses methodische Verfahren bietet sich vor allem deshalb an, weil beide über einen Krieg berichten, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise[19].
Dabei haben beide Historiker auf den ersten Blick viel miteinander gemein, da Thukydides Prinzipien von Herodot übernahm[20]. Beide haben das selbe Generalthema, nämlich den Krieg, wenn auch zwei verschiedene. Bereits hier versuchte sich Thukydides von seinem großen Vorgänger abzugrenzen, indem er den Peloponnesischen Krieg an Ausmaß und Heftigkeit über die Perserkriege stellte, denn „es war bei weitem die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen ...“[21]. Herodot ging in seiner Darstellung der Perserkriege ebenso chronologisch vor, wie Thukydides, der seine Chronologie in die Unterteilung in Kriegssommer und Kriegswinter jedoch stärker differenzierte. Insofern habe beide Historiker doch einige Gemeinsamkeiten, vor allem in ihrem Geschichtsverständnis.
Herodots historiographisches Interesse galt nicht ausschließlich der Zeitgeschichte, deshalb finden sich bei ihm regelmäßige Exkurse in die Vergangenheit, gehören also schon zum herodotschen Kompositionsprinzip[22]. So fügten griechische Historiographen schon traditionell Exkurse über die Geographie, Ethnologie oder Kulturgeschichte ein[23]. Bei Thukydides fehlen Exkurse dieser Art fast gänzlich und dienen immer nur der Veranschaulichung der Kriegsschauplätze oder der militärischen Stärke eines Volkes[24]. Retrospektive Exkurse findet man nur selten. Dafür haben sie bei ihm eine um so größere Bedeutung für den Gedankengang oder geben seine eigene Meinung oder Interpretation wieder[25] und können nicht wie bei Herodot weggelassen werden. So gibt die Archäologie Einblicke in die Gedankenwelt des Autors wieder, als er sich entschloß, den Krieg schriftlich festzuhalten. In der Penetekontaetie rechtfertigte er seine Aussage von der Unausweichlichkeit des Krieges[26].
Was Thukydides weiterhin von Herodot unterscheidet, ist die extreme Konzentration auf die Machtgeschichte, speziell auf den Krieg. Damit stand er ganz in der griechischen Tradition, denn Kriege hatten von je her eine entscheidenden Einfluß auf die antike griechische Geschichtswissenschaft. Zwar setzte er damit die Arbeit Homers und Herodots fort, übertraf aber durch die scharfe Eingrenzung auf ausschließlich kriegsrelevante Ereignisse seine Vorgänger. Kriegsführung war schon beinahe ein griechischer Wesenszug[27]. Dieses martialische Erbe in Verbindung mit seiner militärischen Laufbahn, machte ihn zum größten Militärsachverständigen aller antiken griechischen Historiker[28]. In der militärischen Auseinandersetzung von Machtstaaten vollzog sich nach seiner Ansicht Geschichte. Er faßte dadurch den Stoff seines Werkes zusammen und berichtete nur vom Erzählenswerten im Kontext seines Themas[29]. Deshalb hat Thukydides die Kulturgeschichte absichtlich aus seinem Werk ausgeschlossen, da sie nach seiner Ansicht im Wesen der Geschichte eine unbedeutende Rolle spielte[30]. Da sich kulturelle Entwicklung aber nur in Friedenszeiten entwickeln kann, ergibt es sich bei ihm fast von selbst, daß die Kulturgeschichte ausgeschlossen werden muß[31]. Nicht die Friedenszeit, sondern der Krieg mit seinen gewaltigen Veränderungen und Umwälzungen war sein Thema. Hier vollzieht sich nach dem thukydideischen Geschichtsverständnis Historisches. Die Friedenszeit war für ihn lediglich die Schaffensphase von materiellen Ressourcen, um machtpolitischen Krieg führen zu können[32]. Den Krieg betrachtete er also aus der Sicht des machtpolitischen Ursachenforschers[33].
[...]
[1] von Fritz, Die Griechische Geschichtsschreibung, 1967, S. 524
[2] ebenda S. 523
[3] Bogner, Vom geschichtlichen Denken der Griechen, 1948, S. 42f
[4] ebenda S. 43
[5] Strasburger, Studien zur Alten Geschichte II, S. 777
[6] von Fritz, S. 523
[7] Schuller, Die griechische Geschichtsschreibung der klassischen Zeit, 1991, S. 100
[8] RE Supplementband XII (1970) 1091 s.v. Thukydides (Kleinlogel)
[9] Luce, Die griechischen Historiker, Düsseldorf, Zürich, 1998, S. 85
[10] Thukydides, IV 104, 4: hieraus lässt sich auch seine Abkunft klären, denn hier bezeichnet er sich selbst als Sohn des Olores.
[11] RE Supplementband XII (1970) 1092 s.v. Thukydides (Kleinogel)
[12] ebenda S. 1094 oder auch Luce, Die griechischen Historiker, S. 87
[13] Thukydides, IV 105, 1
[14] RE Supplementband XII (1970) 1095f s.v. Thukydides (Kleinogel)
[15] RE Supplementband XII (1970) 1098 s.v. Thukydides (Kleinogel)
[16] ebenda, S. 1103
[17] Heitsch, Geschichte und Situationen bei Thukydides, 1996, S. 1
[18] ebenda S. 2
[19] Schuller, S. 101
[20] Schuller, S. 107
[21] Thukydides I, 1
[22] Tsakmakis, Thukydides über die Vergangenheit, 1995, S. 1
[23] Strasburger, S. 778
[24] ebenda S. 778
[25] Tsakmakis, S. 2
[26] ebenda S. 226f
[27] Strasburger, S. 778
[28] Strasburger, S. 778
[29] Bogner, S. 44
[30] Strasburger, S. 779
[31] ebenda S. 779
[32] ebenda S. 780
[33] Deichgräber, Der listensinnige Trug des Gottes, 1952, S. 42