Die Covid-19-Pandemie und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Auswirkungen, Auffälligkeiten und Interventionsmöglichkeiten


Bachelorarbeit, 2021

46 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Kinder und Jugendliche in Ausnahmesituationen
2.1 Umgang mit kritischen Lebensereignissen
2.2 Sozialisation in Isolation
2.3 (Soziales) Lernen und Entwicklung in der Schule

3 Leben und Lernen im Lockdown
3.1 Schule während der Corona-Pandemie
3.2 Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen im Lockdown

4 Befunde zur seelischen Gesundheit
4.1 Psychische Krankheiten in der Pandemie - Ergebnisse der COPSY-Studie
4.2 BiB-Studie: Bestätigung von COPSY?
4.2.1 Exkurs: Depressionen bei Kindern und Jugendlichen
4.3 Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Vergleich
4.3.1 Die BELLA-Studie
4.3.2 Vergleich präpandemischer und pandemischer Auffälligkeiten
4.4 Zwischenfazit: Psychische Auffälligkeiten in der Pandemie

5 Umfeldbedingungen und Interventionsmöglichkeiten
5.1 Kindeswohlgefährdung und familiäre Belastung im Lockdown
5.2 Heterogenität in der Pandemie
5.2.1 Zwischenfazit: (Schul-)Verliererlnnen in der Pandemie
5.3 Interventionsmöglichkeiten

6 Diskussion & Fazit
6.1 Diskussion der Ergebnisse
6.2 Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1.1 Medienbeschäftigung in der Freizeit 2020

Abbildung 1.2 Geräte-Ausstattung im Haushalt 2020

Abbildung 2.1 Belastungsempfinden der Kinder und Jugendlichen in der ers­ten Welle der COVID-19-Pandemie

Abbildung 2.2 Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der Covid-19-Pandemie

Abbildung 2.3 Bereiche, in denen Eltern sich im Zusammenhang mit ihren Kindern während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie Unterstützung wünschen

Abbildung 3.1 Vergleich Ergebnisse der COPSY- und BELLA-Studie

1 Einleitung

Am Anfang der COVID-19-Pandemie gab es weltweit große Unsicherheiten. Was macht dieses Virus, ist es überhaupt gefährlich, welche Maßnahmen sind zur Eindämmung sinn­voll? Neben diesen fundamental wichtigen Fragen wurden global Maßnahmen wie Schul­schließungen und Lockdowns beschlossen. „Probieren geht über Studieren“ sollte das Motto der Stunde sein, und im Laufe der Monate, die wir mit dem neuen Virus lebten, lernten wir dazu und konnten ihm mehr und mehr trotzen. Medizinische Masken wirken besser als Stoffmasken, ist dabei ein gutes Beispiel. Doch was wir immer noch nicht wis­sen ist, wie sich die Pandemie auf die Entwicklung und seelische Gesundheit junger Her­anwachsender auswirkt, auch mit Blick auf mögliche langfristige Folgen. Das Thema dieser Arbeit soll deshalb „Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ lauten.

Mit der sogenannten COPSY-Studie von dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf erschien schon im ersten Pandemiejahr ein umfassender Überblick über den seelischen Gesundheitszustand von Schülerinnen und Schülern. Es folgten weitere Studien, die ein neues und dynamisches Forschungsfeld eröffneten. Neben all diesen neuen Erkenntnissen darf jedoch auch nicht der Blick auf die schon seit Jahren existierenden Kenntnisse na­menhafter Soziologen, Psychologen und Pädagogen wie beispielsweise Klaus Hurrel­mann fehlen. Die Grundlagen der Sozialisation finden auch in diesem neueren For­schungsgebiet Anklang und liefern wesentliche Erkenntnisse.

In diesem neuen Forschungsgebiet ist es relevant, schon zu einem möglichst frühen Zeit­punkt Einblick in den psychischen Gesundheitszustand Heranwachsender zu gewinnen, um noch rechtzeitig intervenieren zu können. Wenn die COVID-19-Pandemie vorbei ist, falls es ein „danach“ überhaupt geben wird, werden wir vor völlig neuen und anderen Herausforderungen stehen. Diese werden sowohl wirtschaftlicher als auch soziologi­scher, pädagogischer und psychologischer Natur sein. Thematisch ist die Erforschung des seelischen Gesundheitszustandes von Kindern und Jugendlichen primär der Soziologie zuzuordnen, hier im speziellen der Medizinsoziologie. Doch es gibt auch Schnittstellen zur Entwicklungspsychologie und Pädagogik.

Meine Motivation diese Arbeit zu verfassen, rührt von einem berufspraktischen Interesse her. Als angehende Lehrerin werde ich mit Schülerinnen und Schülern arbeiten, die entweder in der Pandemie geboren oder aufgewachsen sind. Viele meiner SchülerInnen werden ihre ersten Schulerfahrungen im Lockdown gemacht haben, und ein umfassendes Wissen über sich daraus ergebende mögliche psychische Auffälligkeiten wird für (ange­hende) Lehrkräfte wesentlicher Bestandteil ihrer Lehrerprofessionalität sein. Es ist damit zu rechnen, dass sich der mentale Gesundheitszustand von vielen Heranwachsenden durch die Einschränkungen der Pandemie verschlechtert hat. Es würde jedoch den Rah­men dieser Bachelorarbeit übersteigen, detailliert auf alle beobachteten psychischen Krankheitsbilder im Einzelnen einzugehen. Stattdessen werde ich mich auf einen Über­blick beschränken und einzelne Auffälligkeiten näher untersuchen. Methodik dieser Ar­beit wird ein Vergleich schon vorhandener Studien auf Basis der präpandemischen Lite­ratur sein. Damit werde ich versuchen, aktuell schon messbare Auffälligkeiten der seeli­schen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen überblickend aufzuzeigen. Dazu erfolgt im ersten Teil der Arbeit eine Einführung in die Basistheorien, woran sich die Vorstellung der einzelnen Studien und ihrer Ergebnisse anschließt. Im nächsten Schritt folgt dann ein Vergleich der Erkenntnisse. Schließlich folgt, nach einem Blick auf mögliche Interven­tionen, die Diskussion der Ergebnisse, die diese Arbeit erbracht haben.

2 Kinder und Jugendliche in Ausnahmesituationen

Im folgenden Kapitel werden zunächst theoretische Grundlagen aus der präpandemischen Forschung dargestellt, die speziell Sozialisationsprozesse und Bewältigungsmechanis­men von Kindern und Jugendlichen in außergewöhnlichen Situationen betreffen. Obwohl die COVID-19-Pandemie in der aktuellen Epoche eine außergewöhnliche globale Krise darstellt, lassen sich Erkenntnisse aus der vorherigen Grundlagenforschung auch auf die­ses Ereignis anwenden. Es wird zentrale Frage dieses Abschnitts sein, mögliche Folgen der Krisenbewältigung für Sozialisation und Lernen in Entwicklungsprozessen aufzuzei­gen.

2.1 Umgang mit kritischen Lebensereignissen

Kinder und Jugendliche befinden sich in ihrer Entwicklung in einem Prozess anhaltender Veränderungen. Neben den körperlichen Veränderungen konstruieren sie eigene Werte und Ziele, bilden ihren Charakter heraus und übernehmen zunehmend Rollen in unserer Gesellschaft. Im Verlauf dieses Prozesses sehen sie sich immer wieder mit sogenannten Entwicklungsaufgaben1 konfrontiert, deren erfolgreiche Bewältigung ihr Selbstwertge­fühl steigert und sie auf dem Weg zum Erwachsenwerden einen Schritt voranbringt. Doch zunächst gilt es, die Begriffe Stress, Krise und Kritisches Lebensereignis zu bestim­men.

Mit Stress ist die Überforderung einer Person in einer Siuation oder Phase gemeint. An­ders gesagt: ein Mensch kann nicht auf die notwendigen persönlichen Ressourcen zu­rückgreifen, um eine Herausforderung zu meistern.2 Diese Überforderung löst eine Stressreaktion auf eine Stressquelle aus, man unterscheidet also situations- und reaktions­bezogene Stresskategorien. Die Stressreaktion - oder auch das Stresserleben - ist ein über­lebensnotwendiges Verhalten, das den Erhalt der Spezies sichert. Bekannt ist es im Sprachgebrauch als Flucht-oder-Kampf-Reaktion.3 Die Folgen können dabei sowohl psy­chisch als auch körperlich sein.

In der Entwicklungspsychologie hat sich vor allem im Rahmen der Life-event-Forschung in den 1980er-Jahren eine Neufassung des Begriffs Krise durchgesetzt. Aus dem Grie­chischen bedeutet „krisis“ übersetzt „Entscheidungssituation, Wende-, Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung“4, und ist somit im allgemeinen Sprachgebrauch negativ kon- notiert. Eine allgemein geltende Definition des Begriffs liegt nicht vor, wobei in der For­schung ein großer Konsens darin besteht, von einschneidenden Veränderungen zu spre­chen. Sie markieren Übergänge oder Wendepunkte im Lebenslauf.5

Da der Begriff Krise, wie zuvor erläutert, negativ konnotiert ist und somit automatisch mit einer Wertung einhergeht, setzte sich in der Fachsprache Ende des vergangenen Jahr­hunderts der Begriff Kritisches Lebensereignis durch. Diese wertfreiere Beschreibung wird bei Wempe in drei Kategorien unterteilt: Die erste Kategorie bilden normativ kriti­sche Lebensereignisse. Sie sind charakteristisch für bestimmte Altersspannen und Le­bensabschnitte, daher gut vorhersehbar und auf Grund ihrer Vorhersehbarkeit auch ein­facher zu bewältigen als die anderen beiden Kategorien. Normativ kritische Lebensereig­nisse kommen den nach Havighurst 1972 beschriebenen Entwicklungsaufgaben sehr nahe und überschneiden sich teilweise mit ihnen. Schon herausfordernder sind die non­normativ kritischen Lebensereignisse, welche nur Einzelfälle betreffen und plötzlich ein­treten oder untypisch für den jeweiligen Lebensabschnitt sind. Beispiele hierfür sind Un­fälle oder sehr späte bzw. frühe Schwangerschaften. In die dritte und letzte Kategorie fällt auch die COVID-19-Pandemie: Historisch-kritische Lebensereignisse, die zeitgleich alle Menschen in einem politischen, kulturellen oder geographischen Cluster betreffen.6

Um mit kritischen Lebensereignissen besser umgehen zu können, wurde im Rahmen ei­ner Life-event-Forschung in Befragungen erforscht, dass die Faktoren Erwünschtheit und Kontrollierbarkeit für die Bewältigung zentral sind.7 Die COVID-19-Pandemie ist weder erwünscht noch durch Einzelne wirklich kontrollierbar, was sie zu einem negativen Er­eignis macht. Diese negativen Lebensereignisse beeinträchtigen die seelische Gesundheit nachweislich.8

Einfluss auf das Erleben und die Bewältigung kritischer Lebensereignisse von Kindern und Jugendlichen haben sogenannte Risiko- und Schutzfaktoren. Sie werden in indivi­duelle und umweltbedingte Faktoren unterteilt, wobei Risikofaktoren die betreffende Per­son in ihrem Erleben und Empfinden der Belastung eher negativ beeinträchtigen, wäh­rend Schutzfaktoren die Bewältigung erleichtern und eine mildernde Wirkung auf Risi­kofaktoren ausüben. Individuelle Risikofaktoren sind interpersonell ausgerichtet, betref­fen also persönliche Merkmale wie ein unbeherrschtes Temperament, verminderte Intel­ligenz oder biologisch-genetische Dispositionen. Dem gegenüber stehen individuelle Schutzfaktoren wie ein ausgeglichenes Temperament, hohe Intelligenz und Resilienz.9 10 Umweltbedingte Risikofaktoren hingegen beschreiben äußere Lebensbedingungen des Individuums, beispielsweise eine ungünstige Wohnsituation, fehlende elterliche Bindung oder eine niedrige soziale Schicht. Dementsprechend wären die ausgleichenden Schutz­faktoren ein harmonisches Familienleben, soziale Bindungen und ein geregeltes, ausrei­chendes Einkommen der Eltern.11

Die Folgen solcher kritischer Lebensereignisse äußern sich bei Kindern und Jugendlichen in Beanspruchungssymptomen. Auf physiologisch-vegetativer Ebene berichten Kinder am häufigsten von Erschöpfung und Schlafstörungen. Jedes zweite bis dritte Kind ist Stu­dien zufolge hiervon betroffen. Weitere Symptome können Appetitverlust, Kopf- und Bauchschmerzen sein.12 Jugendliche, die ihre Beschwerden schon differenzierter angeben können, berichten ebenso von psychosomatischen Beschwerden, schwerpunktmäßig von Müdigkeit, Erschöpfungszuständen und Einschlafstörungen.13 Kognitiv-emotional be­trachtet berichten die befragten Kinder und Jugendlichen von Nervosität, Gereiztheit, schlechter Stimmung und Stressreaktionen wie Angst, Anspannung und Überforderung.14 Das Verhalten der Kinder und Jugendlichen lässt sich auch für Außenstehende als unru­hig, hektisch oder aggressiv beschreiben. Die Betroffenen können vor allem im schuli­schen Kontext unter Konzentrationsproblemen und verminderter Leistungsfähigkeit lei- den.15 Langfristig können sich diese Folgen kritischer Lebensereignisse bei Kindern und Jugendlichen in Angststörungen, Somatisierungsstörungen, Substanzmissbrauch oder so­gar erhöhtem Suizidrisiko manifestieren, während die direkte Folge in den meisten Fällen eine Anpassungsstörung ist.16

Kinder und Jugendliche entwickeln diverse Bewältigungsstrategien, um mit kritischen Ereignissen umgehen zu können. Kinder greifen häufig auf die Unterstützung von Lei­densgenossen zurück oder wählen Vermeidungsstrategien. Sie suchen soziale Unterstüt­zung und beziehen sich weniger häufig auf problemlösende Strategien.17 Jugendliche ak­tivieren ebenfalls soziale Ressourcen, vor allem in ihrer jeweiligen Peer-Gruppe.18 Doch anders als Kinder zeigen Jugendliche auch kognitiv-reflektiertes Coping19 und Rückzug.20 Kritische Lebensereignisse können bei Kindern und Jugendlichen zusammenfassend also sowohl Bestandteile ihrer Entwicklungsaufgaben sein als auch negative Ereignisse dar­stellen, die ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen und sowohl akute als auch lang­fristige Folgen haben können. Durch individuelle Risiko- und Schutzfaktoren ist jedes Kind und jeder Jugendliche einzeln zu betrachten, trotzdem kann man angesichts eines historisch-kritischen Lebensereignisses wie der COVID-19-Pandemie von allgemein auf­tretenden Folgen für Heranwachsende ausgehen. Da die allgemeine Isolation in der Pan­demie den Rückhalt bei Peer-Gruppen und Leidensgenossen stark beeinträchtigt, fehlen den Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten in ihren Bewältigungsstrategien, oder, wie Wempe folgert: „Entsprechend negativ wirken sich soziale Isolation und Ablehnung aus“.21 Was das für die Sozialisation der Betroffenen bedeutet, wird Kernfrage des nächs­ten Abschnitts sein.

2.2 Sozialisation in Isolation

Sozialisation ist ein interdisziplinärer Begriff, der den „Prozess des Gesellschaftlich-wer- dens22 beschreibt. Da sich Individuen ihr Leben lang entwickeln und sich verändernden Gesellschaften anpassen, beschreibt Sozialisation einen lebenslangen Prozess. Indem sich eine Person in die Gesellschaft integriert, entsteht ebenso eine individuelle Reifung. Der Menschen bildet im Rahmen des Sozialisationsprozesses sein eigenes Wesen heraus, das seine Umwelt nicht als festen Rahmen akzeptiert, in dem es sich bewegt, sondern die notwendige Reife erlangt, diese Umwelt aktiv zu gestalten.23 Wie sich hier schon vermu­ten lässt, spielen in diesem lebenslangen Prozess also mehrere Faktoren eine Rolle. Nicht allein das gesellschaftliche Umfeld bestimmt die Sozialisation eines Menschen, diese wird ebenso von persönlichen und individuellen Merkmalen gestaltet. Doch natürlich spielen äußere Einflüsse eine große Rolle im Sozialisationsprozess, was besonders im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie bedeutsam ist.

Haben äußere Einflüsse die Macht, Persönlichkeitsentwicklungen zu determinieren? Wenn es nach Hurrelmann geht, ist die Antwort ein klares Nein: „Wie ein bestimmter äußerer Einfluss wirkt [...] hängt nicht nur von dessen Intensität und Dauer ab, sondern auch von den persönlichen Eigenschaften und Ausgangsbedingungen des davon betroffenen Individuums“.24 Das bedeutet, dass ein äußerer Einfluss - wie beispielsweise eine globale Pandemie - zwar die Sozialisation beeinträchtigen kann, dass dieser Einfluss aber nicht allein dafür ausschlaggebend ist, wie sich die Persönlichkeit eines Menschen dabei entwickelt. Hierbei spielen ebenso die bisherigen Erfahrungen und Erlebnisse des Individuums eine Rolle, wie auch situative Bedingungen oder kontextuelle Einflüsse.25 „Umweltstrukturen sind nie so einheitlich und zwingend prägend, dass sie immer nur auf eine Art und Weise wirken können [...]“.26 Diese Schlussfolgerung Hurrelmanns mag zweifellos zutreffen, dennoch bleibt die Frage offen, wie die aktuelle globale Pandemie Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung nimmt. Eine große Rolle dabei spielen, wie schon zuvor (2.1) erläutert, soziale Kontakte. Vor allem der Kontakt mit Gleichaltrigen fördert die Auseinandersetzung und Gestaltung (mit) der Realität.27 Doch was passiert, wenn genau dieser Kontakt durch Isolationsregeln verloren geht?

Mit dieser Frage beschäftigt sich die Isolationsforschung, welche in der Soziologie und Epidemiologie angesiedelt ist. Hierbei liegt die Beschränkung auf der Frage nach sozialer Isolation. Puls definiert sie als „die Isolation einzelner Individuen [...] von ganzen Sub­gruppen im Rahmen der Gesamtgesellschaft“.28 Im Gegensatz zu dem Begriff der Ein­samkeit geht es bei der sozialen Isolation um die objektiven Seiten von Kontaktdefizi- ten.29

Einsamkeit hingegen ist ein Gefühlszustand, der die individuellen subjektiven Verarbei­tungsprozesse von Individuen im Umgang mit sozialer Isolation beschreibt.30 Einsamkeit ist also die Folge von sozialer Isolation. Dieses Gefühl entsteht, wenn ein Individuum das gewünschte mit dem tatsächlichen Beziehungsgefüge vergleicht und hierbei eine Diskre­panz feststellt.31 Ein Beispiel dafür wäre: Person A wünscht sich eine romantische Bezie­hung und intime Nähe zu einer anderen Person, erfährt diese allerdings nicht. Das ge­wünschte Beziehungsgefüge ist hierbei sowohl quantitativ als auch qualitativ höher an­gesiedelt als das tatsächlich erlebte. Wenn die betroffene Person diese Diskrepanz als bedeutend empfindet, kommt es zu einem Einsamkeitserleben.32 Jetzt stellt sich die Frage danach, wie die betroffenen Personen mit ihrem Einsamkeitserleben umgehen. Wie schon in Kapitel 2.1. angesprochen greifen Individuen dabei auch zu Coping-Strategien, die zwar bei der Bewältigung des Erlebens eines Zustandes helfen, diesen aber nicht ändern. Das heißt anders ausgedrückt: Betroffene Personen ertragen das Einsamkeitserleben bes­ser, überwinden damit aber nicht die soziale Isolation.

Im Kontext dieser Arbeit sind besonders mögliche Konsequenzen anhaltender sozialer Isolation und Einsamkeit relevant. Obwohl viele Betroffene sich, wie zuvor erwähnt, in Coping-Strategien versuchen, diskutieren ForscherInnen schon seit dem 19. Jahrhundert einen Zusammenhang zwischen psychischen sowie somatischen Krankheiten und sozia­ler Isolation. Beispielsweise wurde schon in den 1930er-Jahren Einsamkeit als Ursache für eine Schizophrenie angenommen, bis heute aber nicht eindeutig bewiesen.33 Hier stellt sich vor allem die Frage danach, ob die Isolation tatsächlich Auslöser der Krankheit ist oder die Krankheit Isolation bedingt. Der Sozialarbeiter Martin Hafen formuliert zu die­ser Frage eine eindeutigere Antwort: „Soziale Isolation und Einsamkeit haben einen be­trächtlichen Einfluss auf das Entstehen von unterschiedlichen Krankheiten und die Sterb- lichkeit“.34

Betrachtet man die in dieser Arbeit schon zuvor aufgezeigten Beanspruchungssymptome von Kindern und Jugendlichen im Umgang mit kritischen Lebensereignissen, die lang­fristigen Folgen wie Somatisierungsstörungen und ein erhöhtes Suizidrisiko (vgl. Kap. 2.1.) und kombiniert die Gefahren kritischer Lebensereignisse für die kindliche und ju­venile Psyche mit den Gefahren sozialer Isolation und Einsamkeit, entsteht eine hoch explosive Mischung diverser Gefahrenpotenziale. Die Hauptthese dieser Arbeit, dass die COVID-19-Pandemie die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen negativ beeinflusst, lässt sich durch das, was wir aus der präpandemischen Forschungsliteratur wissen, als wahrscheinlich annehmen.

2.3 (Soziales) Lernen und Entwicklung in der Schule

Die Schule nimmt unbestreitbar einen wesentlichen Lebensraum heranwachsender Kin­der und Jugendlicher ein. Die Lernenden erlangen gesellschaftsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten, während sie in einem Umfeld aus Peer-Gruppen und Lehrpersonen ihre ei­gene Persönlichkeit entwickeln. Als Institution des Bildungssystems erfüllt die Schule vier Funktionen, die von ihr ausgehen:

Die erste Funktion wird Enkulturation genannt. Sie beschreibt eine Reproduktionsfunk­tion, bei der grundlegende, kulturelle Fertigkeiten institutionalisiert vermittelt werden. Ziel der der Enkulturation ist es, Heranwachsende in ihre jeweiligen Kulturen einzuglie­dern. Dies geschieht einerseits durch Unterricht, andererseits aber auch durch das soziale Umfeld in der Schule, also MitschülerInnen und LehrerInnen.35 Die zweite Funktion von institutionellen Bildungseinrichtungen ist die Qualifikation. Da die wirtschaftliche Wett­bewerbsfähigkeit inzwischen ein unabdingbares Instrument funktionierender Gesell­schaften ist, müssen den Lernenden auf ihre jeweilige Kultur bezogene Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden.36 Im Rahmen der Allokationsfunktion werden die Schü­lerInnen auf ihre zukünftigen Rollen im Berufsleben und in der Gesellschaft verteilt. Das zentrale Instrument hierfür sind Prüfungen. Je nach Leistung der SuS stehen diesen ver­schiedene berufliche Laufbahnen zur Verfügung.37 Als Beispiel: Eine Person mit Haupt­schulabschluss wird nicht ohne weiteres zu einem Medizinstudium zugelassen. Obwohl in Deutschland das Recht auf freie Bildungs- und Berufswahl gilt, müssen für bestimmte Laufbahnen entsprechende Qualifikationen vorliegen. Die soziale Herkunft spielt hierbei auch immer noch eine Rolle.38 Die vierte und letzte Funktion ist die Integration. Heran­wachsende werden durch die Integration demokratisiert und entwickeln sich zu politisch mündigen Gesellschaftsmitgliedern. Sie erlangen ihre soziale Identität und nehmen poli­tisch aktiv teil, das heißt in diesem vierten und letzten Schritt werden sie aktive Gestalter der Gesellschaft. Zunehmend ist die Integrationsfunktion international ausgerichtet.39

Genauso, wie man Sprechen nur in einer Sprachgemeinschaft durch Sprechen und Ver­stehen lernt, lernt man Sozialverhalten nur in einer Gemeinschaft, in und mit der man handeln darf und kann.40

[...]


1 Begriff nach: Havighurst, Robert J., Developmental tasks and education, New York 1972.

2 Vgl. Wempe, C., Krisen und Belastungen, Krisenreaktionen bei Kindern und Jugendlichen, in: C. Wempe (Hrsg.), Krisen und Krisenintervention bei Kindern und Jugendlichen, 2. Aufl., Stuttgart 2019, S. 19.

3 Vgl. Ebd. S. 19-21.

4 Duden, Das Fremdwörterbuch, Bd. 5, Mannheim 2001.

5 Vgl. Wempe (2019), S. 22.

6 Vgl. Ebd. S. 22-23.

7 Vgl. Schmitz, U., Rothermund, K., Brandstädter, J., Persönlichkeit und Lebensereignisse: Prädiktive Be­ziehungen, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 1999 (31/4), S. 147-156.

8 Vgl. Wempe (2019), S. 23

9 Der Begriff „Resilienz“ beschreibt die psychische Belastbarkeit und Widerstandskraft gegen außerge­wöhnliche Ereignisse.

10 Vgl. Wempe (2019), S. 24.

11 Vgl. Ebd.

12 Vgl. Ravens-Sieberer, U., Thomas, C., Erhart, M., Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus der Bella-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS), in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung und -schütz, 2006 (50), S. 871-878.

13 Vgl. Ebd.

14 Vgl. Ebd.

15 Vgl. Lohaus, A., Beyer, A., Klein-Heßling, J., Stresserleben und Stresssymptomatik bei Kindern und Jugendlichen, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 2004 (36), S. 38-46.

16 Vgl. Wempe (2019), S. 26.

17 Vgl. Alheim, J., Eder, J., Belastungen und Bewältigungsstrategien bei Kindern zwischen acht und zwölf Jahren, Diplomarbeit, Mannheim 2010.

18 Vgl. Beyer, A., Lohaus, A., Konzepte zur Stressentstehung und Stressbewältigung im Jugendalter, in: I. Seiffge-Krenke, A. Lohaus (Hrsg.), Stress und Stressbewältigung von Kindern und Jugendlichen, Göttin­gen 2007, S. 11-30.

19 Coping wird bei Filip und Aymanns als Versuch „einen aversiven Ausgangszustand zu überwinden und ihn in einen (erwünschten, besseren) Endzustand zu transformieren“ definiert. Filip, S., Aymanns, P., Kri­tische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens, (2. Aufl.), Stuttgart 2018, S. 127.

20 Vgl. Seiffge-Krenke, I., Stress, coping, and relationships in adolescence, Hillsdale 1995.

21 Wempe (2019), S. 24.

22 Hurrelmann, K., Bauer, U., Einführung in die Sozialisationstheorie. Das Modell der produktiven Reali­tätsverarbeitung, Weinheim 2019 (3. Aufl.), S. 11.

23 Vgl. Ebd.

24 Ebd. S. 12.

25 Vgl. Ebd. S. 13.

26 Ebd. S. 14.

27 Vgl. Hurrelmann, K., Selbstsozialisation oder Selbstorganisation? Ein sympathisierender, aber kritischer Kommentar, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 22, 2002 (2), S. 157.

28 Puls, W., Soziale Isolation und Einsamkeit. Ansätze zu einer empirisch-nomologischen Theorie, Disser­tation, Wiesbaden 1989, S. 47.

29 Vgl. Ebd. S. 55.

30 Vgl. Ebd. S. 61.

31 Vgl. Ebd. S. 226.

32 Vgl. Ebd. S. 226-228.

33 Vgl. Ebd. S. 277-280.

34 Hafen, M., Soziale Isolation - Folgen, Ursachen und Handlungsansätze, Luzern 2018, S. 6.

35 Vgl. Fend, H., Die sozialen und individuellen Funktionen von Bildungssystemen: Enkulturation, Quali­fikation, Allokation und Integration, in: Hellekamps, S., Plöger, W., Wittenbruch, W. (Hrsg.), Schule. Handbuch der Erziehungswissenschaft 3, Paderborn, München, Wien, Zürich 2011, S. 43

36 Vgl. Ebd.

37 Vgl. Ebd. S. 43-44.

38 Vgl. Ebd. S. 44.

39 Vgl. Ebd. S. 44-46

40 Spitzer, M., Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, München 2007, S. 314.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die Covid-19-Pandemie und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Auswirkungen, Auffälligkeiten und Interventionsmöglichkeiten
Hochschule
Westfälische Wilhelms-Universität Münster  (Institut für Soziologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
46
Katalognummer
V1167659
ISBN (eBook)
9783346584557
ISBN (Buch)
9783346584564
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
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Schlagworte
Covid-19, Corona, Pandemie, Psychische Gesundheit, COPSY, Sozialisation, Isolation, Resilienz, Homeschooling, Lockdown, Kinder, Jugendliche
Arbeit zitieren
Anna Huge (Autor:in), 2021, Die Covid-19-Pandemie und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Auswirkungen, Auffälligkeiten und Interventionsmöglichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167659

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