Die Duldung nach § 60a AufenthG


Seminararbeit, 2007

34 Seiten, Note: 12 Punkte gut


Leseprobe


Gliederung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsbestimmung
2.1 Ausländer
2.2 Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten

3. Ausländer und Strafvollzug
3.1 Ausländer im Strafvollzug
3.1.1 Lebensmittelpunkt im Ausland
3.1.2 Lebensmittelpunkt in Deutschland

4. Aufenthaltsstatus
4.1 Aufenthaltstitel
4.2 Aufenthaltsbeendende Maßnahmen – Ausweisung
4.2.1 Ausweisungsgründe
4.2.1.1 Ausweisung nach § 53 ff. AufenthG
4.2.1.1.1 Zwingende („Ist“) Ausweisung § 53 AufenthG
4.2.1.1.2 Regel Ausweisung § 54 AufenthG
4.2.1.1.3 Kann Ausweisung § 55 AufenthG
4.1.2.1.4 Rechtsmittel / Rechtsschutz

5. Duldung
5.1 Aussetzung der Abschiebung
5.1.1 Aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen § 60a I AufenthG
5.1.1.1 Gefahr der Folter
5.1.1.2 Gefahr der Todesstrafe
5.1.1.3 Abschiebung in anderen Staaten
5.1.2 Aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen § 60a
5.1.2.1 Aus tatsächlichen Gründen gem. § 60a II AufenthG
5.1.2.1.1 Mögliche Duldungsgründe
5.1.2.1.2 keine Duldungsgründe
5.1.2.1.3 Vorübergehende Duldungsgründe
5.1.3 Aus rechtlichen Gründen gem. § 60a II AufenthG
5.1.3.1 Schutz von Ehe und Familie gem. Art. 6 I
5.1.3.2 Insbesondere Krankheit
5.1.4 Das Leben mit einer Duldung
5.1.4.1 Arbeit
5.1.4.2 Hilfe zum Lebensunterhalt
5.1.4.3 Medizinische Versorgung
5.1.4.4 Residenzpflicht
5.1.4.5 Wohnen

6. Schluss

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Auf das Thema der so genannten „Duldung“ bin ich im Verlauf der Erkundungen im Berliner Justizvollzug vom 6. - 8. / 11. - 13. Oktober 2006 unter anderem mit Gesprächen mit Strafgefangenen und Freunden gekommen.

Im Zentrum der nachfolgenden Arbeit steht ein Rechtsinstitut, das im Kontext der Bestimmungen über den Aufenthalt von Ausländern bzw. ausländischen Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland eine Sonderstellung einnimmt. Vor allem geht es mir um die Konstellation eines ausländischen Haftentlassenen, der nach Verbüßung seiner langjährigen Haftstrafe in Deutschland von der zuständigen Ausländerbehörde eine Duldung gem. § 60a II Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erhält. Geduldete Ausländer befinden sich folglich in einem Schwebezustand zwischen erlaubtem und illegalem Aufenthalt. Einerseits erhält diese Gruppe kein Recht zum weiteren Aufenthalt in Deutschland, andererseits wird ihre Ausreiseverpflichtung nicht zwangsweise durchgesetzt, denn die Abschiebung ist ausgesetzt. Ihre Situation lässt sich kennzeichnen als ein Zwischenstadium des unrechtmäßigen, nicht sanktionierten Aufenthalts.

2. Begriffsbestimmung

2.1 Ausländer

Der Begriff des Ausländers wird in § 2 I AufenthG negativ (Legaldefinition) umschrieben.[1] Ausländer ist, wer nicht Deutscher im Sinne des Art. 116 I GG (§ 2 I AufenthG) ist. Es handelt sich um die Abgrenzung zu einer Personengruppe, die auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat als Differenzierungsmerkmal abstellt.[2] Ausländer sind somit die Staatsangehörigen anderer Staaten, die Staatenlosen und schließlich diejenigen deutschen Volkszugehörigen, die im Deutschen Reich nach dem Gebietsstand vom 31.12.1937 keine Aufnahme gefunden haben.[3]

Ihnen stehen auch nicht die gleichen Grundrechte (z.B. Bürgerrechte: Versammlungsfreiheit Art. 8 GG, Vereinigungsfreiheit Art. 9 GG, Freizügigkeit Art. 11 GG und die Berufsfreiheit Art. 12 GG) zu, wie Deutsche.[4] Die entsprechenden Rechte der Ausländer werden in diesen Fällen über die allgemeine Handlungsfreiheit Art. 2 I GG geschützt.[5] Ebenso steht Ausländern grundsätzlich kein Wahlrecht zu.[6] Die Rechtsstellung der Ausländer ist im neuen Aufenthaltsgesetz geregelt.

2.2 Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten

Nach § 1 II AufenthG findet das Gesetz keine Anwendung auf Ausländer, deren Rechtsstellung durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) geregelt ist.[7] Damit werden EU-Angehörige gegenüber Drittstaatsangehörigen aufenthaltsrechtlich privilegiert.[8] Auch sind sie im Bereich des Aufenthalts, Arbeits- und Sozialrechts mit Inländern (Deutschen) von der Rechtsstellung der Drittstaatsangehörigen weitgehend gleichgestellt. Im Übrigen findet das AufenthG nur dann auf Unionsbürger Anwendung, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als das FreizügG/EU.[9] EWR-Angehörige, d.h. Ausländer die dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) angehören und nicht zugleich EU-Staater sind (sowie Schweiz und Türkei), sind den Unionsbürgern aufenthaltsrechtlich gleichgestellt.[10]

3. Ausländer und Strafvollzug

Entsprechend der Zuwanderung von Nichtdeutschen in den letzten Jahren ist auch die Zahl der ausländischen Strafgefangenen in den Strafvollzugsanstalten stetig angewachsen.[11] Von den 64 512 in Deutschland am 31.03.2006 im Vollzug der Freiheitsstrafe befindlichen Gefangenen waren 14012 (22,0 %) ausländischer Nationalität.[12] Am stärksten waren sie in Delikten wie Begünstigung/Hehlerei, Urkundenfälschung, Raub/Erpressung, Körperverletzungen, Drogendelikten und Ausländerrechtlichen Straftaten vertreten.

3.1 Ausländer im Strafvollzug

In § 2 I S.1 StVollzG ist das Vollzugsziel wie folgt umschrieben: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ Mit dem Vollzugsziel macht der Gesetzgeber deutlich, dass der Strafvollzug nicht nur der Verwahrung des rechtskräftig verurteilten Straftäters dient, sondern auch der „(Re-)Sozialisierung“ eines straffällig Gewordenen Gefangenen.[13] Die Umsetzung dieses Zieles ist umso schwieriger, wenn sich eine Vielfalt von Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit und Herkunft auf einem Ort (Strafvollzugsanstalt) zusammen trifft, so dass gerade diese Inhomogenität des Ausländeranteil zu besonderen Behandlungs-problemen führen oder aus systemimmanenten Gründen überhaupt nicht erreicht werden können.[14] Entscheidend für die Situation in der Haft ist zumeist der Lebensmittelpunkt des Ausländers, der vor der Inhaftierung bestanden hatte.[15]

3.1.1 Lebensmittelpunkt im Ausland

Gefangene (meist Durchreisende, Touristen oder zur Begehung von Straftaten nur kurzzeitig in Deutschland aufhalten), deren wesentliche Bezugspunkte im Ausland liegen, verfügen zumeist kaum über Deutschkenntnisse.[16] Informations- und Verständigungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt, es besteht die Gefahr von Missverständnissen und subkulturellen Abhängigkeiten.[17] Sprachbarrieren beeinflussen zudem die Möglichkeiten hinsichtlich Arbeit, Aus- und Weiterbildung, Betreuung durch den Sozial- und Gesundheitsdienst, therapeutische Maßnahmen und Freizeit.[18] Hinzu kommt, dass sie oft einen völlig anderen kulturellen und religiösen Hintergrund haben.[19] Mentalität, Werte- und Normverständnis weichen teilweise erheblich von dem in Deutschland üblichen ab.[20] Unverständnis ist bei Mitgefangenen und Vollzugsbediensteten meist vorprogrammiert. Ausländerrechtliche Maßnahmen und eine Zurückstellung der Strafe gem. 456a StPO sind in den meisten Fällen nur eine Frage des Zeitpunkts.[21] Aufgrund ihrer Aufenthaltsrechtlichensituation kommen auch keine Vollzugslockerung und Hafturlaub in Betracht.

3.1.2 Lebensmittelpunkt in Deutschland

Anders sieht die Haftsituation von Inländern mit ausländischem Pass aus, das heißt Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die sich seit vielen Jahren in Deutschland aufhalten und hier ihren Lebensmittelpunkt haben (z.B. in Deutschland geboren oder aufgewachsen). Sprachbarrieren, Informations- und Kommunikations-schwierigkeiten haben sie keine.[22] Entscheidenden Einfluss auf die Haftsituation dieser Gefangenen hat allerdings ihr ausländerrechtlicher Status.[23] Die lange Dauer ausländerrechtlicher Verfahren und die damit verbundene Ungewissheit bezüglich einer Ausweisung oder Abschiebung sind für viele Inhaftierte und deren Angehörige mit einer großen psychischen Belastung verbunden.[24] Die Kostenübernahme zahlreicher Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen setzen einen weiteren Aufenthalt in Deutschland voraus.[25] Therapeutischen Maßnahmen kann die fehlende Eignung für Lockerungen oder die frühzeitige Abschiebung nach § 456 a StPO entgegenstehen. Die Haftsituation dieser Menschen ist geprägt von Konflikt zwischen vollzuglichen und ausländerrechtlichen Interessen.

4. Aufenthaltsstatus

Den Aufenthaltsstatus regelt das seit 01. Januar 2005 gültige Gesetz „über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet“ (Aufenthaltsgesetz - AufenthG). Unter Aufenthalt ist das tatsächliche „Sich - Aufhalten“ an einem Ort ohne Rücksicht auf Dauer, Zweck und sonstige Umstände wie vor allem die Rechtmäßigkeit zu verstehen.[26] Der jeweilige Aufenthaltstitel entscheidet darüber, wie lange ein behördlich gemeldeter Ausländer legal im Bundesgebiet verbleiben kann.

4.1 Aufenthaltstitel

Gemäß § 4 I S.1 AufenthG benötigt ein Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet grundsätzlich einen Aufenthaltstitel. Er ist gemäß § 50 I AufenthG zur Ausreise verpflichtet, wenn er diesen nicht oder nicht mehr besitzt. An die Stelle der früheren Bezeichnungen Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsbewilligung, Aufenthaltsbefugnis und Aufenthalts-berechtigung treten die Aufenthaltserlaubnis (§ 7 AufenthG), die Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) und das Visum (§ 6 AufenthG). Während die Niederlassungserlaubnis unbefristet und die Aufenthaltserlaubnis befristet erteilt werden, dient das Visum weiterhin der Einreisekontrolle. Neben den Aufenthaltstiteln können Ausländer noch im Besitz einer Aufenthaltsgestattung als Bescheinigung (§ 55 AsylVfG) und einer Duldung (§ 60a AufenthG) sein, die deutlich weniger Rechte als die Aufenthaltstitel gewähren.[27]

4.2 Aufenthaltsbeendende Maßnahmen – Ausweisung

Die Ausreisepflicht entsteht nach § 50 I AufenthG, wenn der Ausländer einen erforderlichen Aufenthaltstitel (§ 4 I AufenthG) nicht oder nicht mehr besitzt und auch kein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 (Assoziationsrats Beschluss) besteht.[28] Hinter dieser Aussage des Gesetzgebers steht der völkerrechtliche Grundsatz, wonach jeder Staat als Ausfluss seiner Souveränität darüber entscheidet, ob bzw. unter welchen näheren Modalitäten er Ausländern und Ausländerinnen die Einreise und den Aufenthalt gestattet.[29] Die Ausreiseverpflichtung besteht in dem Gebot, das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland unverzüglich oder bis zum Ablauf einer konkret gesetzten Ausreisefrist zu verlassen.[30] Kommt er dem nicht freiwillig nach, kann die Ausweisung gem. §§ 58 ff. AufenthG zwangsweise durchgesetzt werden.

4.2.1 Ausweisungsgründe

Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts eines Ausländers im Bundesgebiet kann aus verschiedenen Gründen erlöschen. Als Aufenthaltsbeendende Verwaltungsakte kommen die Ausweisung des Ausländers (§§ 53 ff. AufenthG), der Widerruf des Aufenthaltstitel (§ 52 AufenthG) sowie die Rücknahme des Aufenthaltstitels nach § 48 VwVfG in Betracht, des weiteren die Bekanntgabe einer Abschiebungsanordnung gem. § 58a AufenthG. Ferner erlischt der Aufenthaltstitel kraft Gesetzes durch seine Nichtverlängerung. Im Übrigen erlischt der Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist (§ 51 I Nr. 6 AufenthG), oder wenn er ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist (§ 51 I Nr.7 AufenthG).

4.2.1.1 Ausweisung nach § 53 ff. AufenthG

Das Gesetz definiert den Begriff Ausweisung nicht. Ausweisung kann man definieren als Maßnahme mit ordnungsrechtlichem Charakter, aus der das Gebot an den Ausländer folgt, das Inland zu verlassen, und das Verbot, es erneut zu betreten.[31] Die Ausweisung wegen Straffälligkeit kommt mit Abstand am häufigsten vor. Sie soll keine Strafmaßnahme sein, auch wenn sie vom Betroffenen kaum anders wahrgenommen werden dürfte, sondern sie ist eine Maßnahme des Polizei- und Ordnungsrechts.[32] Zweck der Ausweisung ist es nicht ein bestimmtes menschliches Verhalten zuahnden, sondern einer künftigen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland vorzubeugen.[33] Unter öffentliche Sicherheit ist der gesicherte Zustand des Gemeinwesens im Einklang mit der Verfassung und dem übrigen gesetzten Recht zu verstehen.[34] Die öffentliche Ordnung ist der Inbegriff aller Normen, deren Beachtung über das gesetzte Recht hinaus nach allgemeiner Auffassung zu den unerlässlichen Voraussetzungen eines gedeihlichen menschlichen und staatsbürgerlichen Zusammenlebens gehört.[35] Als erhebliche Interessen ist insbesondere die äußere Sicherheit, die Sicherung wichtiger gesamtwirtschaftlicher Interessen und die Beziehungen zum Ausland anzusehen.[36] Nach Auffassung des Gesetzgebers ist das Recht der Ausweisung nicht nur ein unverzichtbares Mittel zum Schutz der Interessen der Bundesrepublik Deutschland, sondern dient zugleich der rechtlichen Absicherung des gewährten Aufenthalts, indem es dem Ausländer Klarheit über die möglichen Gründe der Aufenthaltsbeendigung gibt.[37]

4.2.1.1.1 Zwingende („Ist“) Ausweisung § 53 AufenthG

Die „Ist Ausweisung“ ist gemäß § 53 AufenthG auf Fälle schwerer und besonders schwerer Kriminalität beschränkt.[38] Sie wird deshalb so bezeichnet, weil bei einem Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 AufenthG der Ausländer zwingend auszuweisen ist, ohne das es darüber hinausgehender Ermessenserwägungen der Ausländerbehörde bedarf.[39] Hierbei wird nach § 53 Nr.1 AufenthG auf die Höhe der verhängten Strafe bzw. nach § 53 Nr.2 AufenthG auf die Schwere der Tat und die hierdurch generell zu vermutende besondere Gefährlichkeit des betreffenden Ausländers abgestellt.[40] Maßgebend ist vielmehr für die Ausweisungsverfügung nach § 53 AufenthG eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung und die damit verhängte Freiheitsstrafe oder die Sicherungsverwahrung.[41] Auch kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer die Freiheits- oder Jugendstrafe tatsächlich verbüßt hat, sondern nur auf den Abschluss des Strafverfahrens.[42] Liegen die Voraussetzungen des § 53 AufenthG vor, so wird die Ausländerbehörde den Ausländer ausweisen müssen. Unter besonderen Umständen wird eine Ist- Ausweisung in eine Regelausweisung umgewandelt, wenn die Person einen erhöhten Ausweisungsschutz genießt, z.B. der Besitz einer Niederlassungserlaubnis.[43]

4.2.1.1.2 Regel Ausweisung § 54 AufenthG

Sollte keiner der Tatbestände des § 53 AufenthG greifen, sind im nächsten Schritt die Regelausweisungstatbestände des § 54 AufenthG in Betracht zu ziehen. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 54 AufenthG vor, so wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen. Die Regelausweisung ist für weniger schwere Fälle von Vergehen und Verbrechen vorgesehen.[44]

Liegt ein Regelfall in den Fällen des §§ 54 Nr. 1 bis Nr. 7 AufenthG vor, ist der Ausländerbehörde kein Ausweisungs-Ermessen eröffnet, sie hat eine rechtlich gebundene Entscheidung zu treffen.[45] Ein Ermessensspielraum steht der Behörde erst zu, wenn kein Regelfall, sondern ein atypischer Einzelfall vorliegt.[46] Atypische Einzelfälle sind durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, das er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt.[47] Die besonderen Umstände können auch in der Ausweisung zugrunde liegenden Tat oder in den besonderen persönlichen Verhältnissen des Ausländers liegen.[48] Vor allem darf nicht allein auf die Begehung einer Regelwidrigkeit in der Vergangenheit oder eine strafrechtliche Verurteilung zurückgegriffen und darauf die Ausweisung gestützt werden.[49] Ob die Voraussetzungen der Regelausweisung oder eines Sonderfalles vorliegen, unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung.[50]

Besondere Umstände sind z.B. eine Straftat die in einer einmaligen Ausnahmesituation begangen wurde[51], wenn gem. § 28 V BtmG von der Strafe abgesehen wird und eine Bereitschaft zur Therapie besteht[52], bei Fehlen jeglicher Bindung des in Deutschland geborenen Ausländers an seinen Heimatstaat[53]. Dagegen wird bei Drogenkriminalität keine Ausnahme anerkannt.[54]

Es ist daher auch nicht wirklich zynisch, wenn man § 54 AufenthG auf die Kurzformel bringt: In der Regel bedeutet „in der Regel“ „immer“.

4.2.1.1.3 Kann Ausweisung § 55 AufenthG

Scheidet eine Ausweisung aus zwingenden Gründen aus, wird auf die Ermessensausweisungstatbestände des § 55 AufenthG zurückgegriffen.[55] In § 55 AufenthG ist die Kann Ausweisung geregelt. Bei Vorliegen eines sonstigen Ausweisungsgrundes, also bei einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland, wird unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nach pflichtgemäßem Ermessen (Gerichte oder Behörden) über die Ausweisung entschieden.[56] In § 55 II AufenthG wird beispielhaft, aber nicht abschließend („insbesondere“) einzelne Gründe für die Kann Ausweisung aufgeführt. Soweit diese Tatbestände nicht erfüllt sind, kann nicht ohne weiteres auf den Grundtatbestand des § 55 I AufenthG zurückgegriffen werden.[57]

Um eine Ausweisung durchführen zu können, erfordert § 55 I AufenthG eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Demnach ist die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Ausländers nur dann Beeinträchtigt, wenn dessen Anwesenheit im Bundesgebiet zu Beeinträchtigungen dieser Rechtsgüter führt.[58] Das heißt, dass nach § 55 II AufenthG eine zusätzliche Gefahr der Fortwirkung, ein Wiederholungsgefahr und eine künftige Gefahr der Rechtsgüter in der Zukunft festgestellt werden muss.[59] Für die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts ist dabei nach der Gewichtigkeit des bedrohten Rechtsguts, unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, zu unterscheiden.[60] So reicht bei schweren Verstößen ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad aus, während bei leichten Verfehlungen eine höhere Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu verlangen ist.[61] So kann eine Ausweisung z.B. aus geringfügigen Straftaten, aus generalpräventiven Gründen, aus schwerwiegenden Straßenverkehr-sdelikten (Trunkenheit im Straßenverkehr, Führen eines Kraftfahrzeugs ohne Fahrerlaubnis) oder aus berufs- und gewerberechtlichen Regeln durch die Ausländerbehörde oder den Gerichten erfolgen.[62]

Des Weiteren ist bei der Entscheidung nach § 55 III AufenthG, die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schützwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen/Lebenspartner des Ausländers und die in § 60a II AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzungen der Abschiebung zu berücksichtigen.

[...]


[1] Renner, § 2 Rn. 3.

[2] Welte, Rn. 13; Pieroth/Schlink, Rn. 109 ff..

[3] GK-AufenthG, Funke-Kaiser, § 2 , Rn. 3ff.; Renner, AiD, § 15 Rn. 3.

[4] Pieroth/Schlink, Rn. 108.

[5] Pieroth/Schlink, Rn. 114; Alpmann/Brockhaus, S.149.

[6] Alpmann/Brockhaus, S.149.

[7] Hailbronner, Rn. 26.

[8] Welte, Rn. 22.

[9] Hailbronner, Rn. 26.

[10] Hailbronner, Rn. 26, 350; BVerwG, NVwZ, 2005, S.224.

[11] Laubenthal, S. 339.

[12] Statistisches Bundesamt, www.destatis.de/presse/deutsch/pm2006/p5170101.htm

(Stand: 07.02.2007)

[13] Calliess/ Müller-Dietz, § 2 Rn.3; Leyendecker, 2002, S.34ff.

[14] Kaiser/Schöch, § 10 Rn. 24.

[15] Böhm, Rn. 227 ff

[16] Böhm, Rn. 227 ff.

[17] Laubenthal, Rn. 343; Schäfer, S.101; Leyendecker, S. 206.

[18] Schwind, S. 337 ff.; Kaiser/Schöch, § 10 Rn. 26 ff..

[19] Kaiser/Schöch, § 10 Rn. 24.

[20] Schwind, S. 342; Kaiser/Schöch, § 7 Rn. 164.

[21] Schäfer, S.125.

[22] Kaiser/Schöch, § 10 Rn. 26.

[23] Kaiser/Schöch, § 10 Rn. 28.

[24] Laubenthal, Rn. 342.

[25] Böhm, Rn. 229.

[26] Renner, AiD, § 25 Rn. 12.

[27] Renner, § 4 Rn. 32.

[28] Renner, § 50 Rn. 2.

[29] GK-AufenthG 5/ Funke-Kaiser, § 50 Rn. 2.

[30] Hailbronner, Rn. 346; GK-AufenthG 5/ Funke-Kaiser, § 50 Rn. 21.

[31] GK-AufenthG 5/ Discher, Vor. § 53 Rn. 1

[32] Vgl. BVerwGE 35, 291 (293).

[33] Hailbronner, Rn. 349; Wegner, DÖV 1993, S.1031 (S.1032).

[34] Renner, § 55 Rn. 8.

[35] Renner, § 55 Rn. 8.

[36] Hailbronner, Rn. 362.

[37] BR-Drs. 11/90, S.49 f.; Hailbronner, § 10 Rn. 349.

[38] Welte, Rn. 406; Wegner, DÖV 1993, S.1031 (S.1033).

[39] Renner, § 53 Rn. 1-4.

[40] Hailbronner, Rn. 352.

[41] Hailbronner, Rn. 353.

[42] Vgl. BVerwG, InfAuslR 1998, 221; Welte, Rn. 409.

[43] www.sbh-berlin.de/auslaender.pdf (Stand: 07.02.2007)

[44] Renner, § 54 Rn. 2.

[45] Welte, Rn. 411.

[46] Hailbronner, Rn. 356.

[47] Beichel, S.89; BVerwG, Buchholz 402.240 § 7 AuslG 1990 Nr.21.

[48] Hailbronner, Rn. 358.

[49] Renner, § 54 Rn. 7.

[50] BVerwG, Buchholz 402.240 § 7 AuslG 1990 Nr.1.

[51] Wegner, DÖV 1993, 1034.

[52] Fraenkel, S. 256.

[53] VGH BW, EZAR, 032 Nr.16.

[54] HessVGH, EZAR 032, Nr. 3.

[55] Beichel, S.96.

[56] Hailbronner, Rn. 360.

[57] BayVGH, EZAR 035 Nr.24.

[58] Renner, § 55 Rn. 10.

[59] Renner, § 55 Rn. 10; Hailbronner, Rn. 365 ff..

[60] BVerwGE 57, 61 (65).

[61] Hailbronner, Rn.366.

[62] Hailbronner, Rn. 366; Renner, § 55 Rn.9.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Die Duldung nach § 60a AufenthG
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Erkundungen im (Berliner) Justizvollzug vom 6.-8./ 11.-13 Oktober 2006
Note
12 Punkte gut
Autor
Jahr
2007
Seiten
34
Katalognummer
V117196
ISBN (eBook)
9783640195657
ISBN (Buch)
9783640195770
Dateigröße
485 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Duldung, AufenthG, Erkundungen, Justizvollzug, Oktober
Arbeit zitieren
Aytekin Özcan (Autor:in), 2007, Die Duldung nach § 60a AufenthG, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117196

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