Ist Wirtschaftsspekulation strukturelle Gewalt bzw. kann sie es sein, wenn sie bestimmte
Charakteristika aufweist? Um diese Frage zu beleuchten, scheint es zunächst
sinnvoll, zu erläutern, was genau mit dem Begriffen Wirtschaftsspekulation1
und strukturelle Gewalt gemeint ist.
Die historische Wirtschaftsliteratur ist angefüllt mit Beiträgen zu spekulativen Blasen,
systemischen Unzulänglichkeiten und panischer Kapitalflucht an Finanzmärkten.
Während der Zeit des Goldstandards kam es zu mehreren Finanzkrisen, die
durch Spekulanten ausgelöst wurden. Die Situation in der Zeit zwischen den Weltkriegen,
als das internationale Finanzsystem keinen festen Regeln unterlag, wurde
von vielen damaligen Marktteilnehmern als äußerst mangelhaft empfunden. Bis in
die 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde der Gebrauch von Kapitalkontrollen
zur Sicherung der nationalen Währungen als unerlässlich angesehen und ein wichtiger
Grund für die Entwicklung einer europäischen Gemeinschaftswährung war das
Bestreben, Spekulationen gegen die Wechselkurse innerhalb des gemeinsamen
Binnenmarktes der EU – wie 1992/93 passiert – zu unterbinden.2
Unter diesen Gesichtspunkten ist die aktuelle Situation auf den weltweiten Finanzmärkten
auf den ersten Blick durchaus erstaunlich. Seit dem Zusammenbruch der
letzten offiziellen internationalen Finanzordnung – des nach dem 2. Weltkrieg geschaffenen
Bretton–Woods–Systems im Jahr 1973 – hat ein grundlegendes Umdenken
stattgefunden. Führende Wissenschaftler und zahlreiche Nationalstaaten
propagieren die Öffnung und Liberalisierung der nationalen Kapitalmärkte. Kapitalkontrollen
werden mit erstaunlicher Geschwindigkeit abgeschafft und das internationale
Kapital kann wahrscheinlich ungehinderter fließen als jemals zuvor in der Geschichte.
Die wissenschaftliche Theorie der Kapitalmärkte wird von einem Konzept
beherrscht, dass – vor knapp 50 Jahren formuliert – inzwischen zum vorherrschenden
Paradigma der Wirtschaftswissenschaften avanciert ist: der Theorie des effizienten
Marktes.3 Es propagiert eine nahezu perfekte Funktionsweise liberalisierter Finanzmärkte und gesteht der Spekulation dabei eine wichtige und positive, weil
marktstabilisierende Funktion zu.
1 Für eine grundlegende Definition des Begriffs vgl. Gabler, 1993, 3050.
2 Vgl. Eichengreen, Barry, 2000, insbesondere Kapitel 2, 3, 4.
3 Zu diesem wissenschaftlichen Paradigma vgl. insbesondere Butler, Eamonn, Milton Friedman, 1985
und Shiller, Robert J., 1998.
Inhaltsverzeichnis
- Grundlegende Begriffserläuterungen
- Eine kurze Geschichte der Spekulationen
- Ist Wirtschaftsspekulation strukturelle Gewalt?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieser Text analysiert das Phänomen der Wirtschaftsspekulation und untersucht, ob sie als strukturelle Gewalt betrachtet werden kann. Die Analyse stützt sich auf historische Beispiele, um die Auswirkungen von Spekulationen auf Volkswirtschaften aufzuzeigen.
- Definition von Wirtschaftsspekulation und struktureller Gewalt
- Historische Beispiele für Spekulationen (Tulpenwahn, Börsencrash 1929, EWS-Krise, Südostasienkrise)
- Analyse der Auswirkungen von Spekulationen auf Individuen und Volkswirtschaften
- Bewertung, ob Wirtschaftsspekulation als strukturelle Gewalt betrachtet werden kann
Zusammenfassung der Kapitel
Grundlegende Begriffserläuterungen
Dieses Kapitel definiert die Begriffe Wirtschaftsspekulation und strukturelle Gewalt. Es beleuchtet die historische Entwicklung des Finanzsystems und die unterschiedlichen Positionen zu Spekulation, die zwischen positiver Marktstabilisierung und negativen Folgen changieren.
Eine kurze Geschichte der Spekulationen
Dieses Kapitel analysiert vier historische Phasen exzessiver Spekulation: den Tulpenwahn, den Börsencrash von 1929, die EWS-Krise und die Südostasienkrise. Es werden die Strukturmerkmale von Spekulationen und deren Auswirkungen auf Individuen und Volkswirtschaften betrachtet.
Schlüsselwörter
Die zentralen Schlüsselwörter des Textes sind Wirtschaftsspekulation, strukturelle Gewalt, Finanzkrisen, Finanzmärkte, Börsencrash, Tulpenwahn, EWS-Krise, Südostasienkrise, Kapitalmärkte, Liberalisierung, Marktstabilisierung, ökonomische Disharmonien, Ungereimtheiten, Destabilisierung.
- Arbeit zitieren
- René Steenbock (Autor:in), 2003, Ist Wirtschaftsspekulation strukturelle Gewalt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11720