Literarische Charakterisierungen von Nathanael und Clara aus E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann"


Essay, 2019

9 Seiten


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Literarische Charakterisierung von Nathanael

Literarische Charakterisierung von Clara

Alle der hier verwendeten Referenzen sind zitiert aus:

E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, Reclam XL | Text und Kontext, Reclam-Verlag, herausgegeben von Max Kämper, gedruckt 2019

Literarische Charakterisierung von Nathanael

Das epische Nachtstück „Der Sandmann“, geschrieben von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und veröffentlicht im Jahre 1816, handelt von der Geschichte des traumatisierten und psychisch kranken Nathanael, der bereits in seiner Kindheit mit der Schreckensfigur des Sandmann konfrontiert wurde und dessen verhängnisvoller Wahnsinn in einer unglücklichen Verkettung von Umständen, auch geschuldet der Verhaltensweise Nathanaels, zum Selbstmord führt. Nathanael selbst ist die tragische Hauptfigur Hoffmanns Werk, die durch eine Vielzahl an teilweise paradoxen Eigenschaften charakterisiert ist. Im Folgenden wird eine umfassende Charakterisierung des komplexen Protagonisten mit besonderem Hinblick auf seine äußere wie auch innere Situation und seine Entwicklung innerhalb des Stücks angestrebt.

Nathanael, ein Mann jungen Alters, ist im Wesentlichen von dem Schriftsteller in seiner Schauernovelle äußerlich nicht detailliert weiter beschrieben. Markante und personenbezogene Aspekte wie Haar- und Augenfarbe, Narben oder anderweitige aussehensbezogene Eigenschaften im Sinne der Skizzierung eines spezifisch herausstellbaren und einzigartigen Charakters werden von E.T.A. Hoffmann nicht weiter illustriert. Unterstrichen wird dies von Nathanaels gewöhnlicher und eher normalen Art, sich auszudrücken (vgl. S. 3ff.). Bereits hier lässt sich auf eine besondere Absicht dieser Auslassung bestimmter persönlicher Aspekte bei dem Autor schließen; Hoffmann verfolgt das Ziel der Wahrung von Anonymität. Er ermöglicht eine universale Identifizierungsmöglichkeit der Leser mit dem Protagonisten und bestärkt des Weiteren den Glauben, dass das Schicksal und die Geschichte Nathanaels eine überall denkbare ist.

Nicht betroffen von dieser gezielten Geheimhaltung ist die äußere Situation der Figur, die aber ebenfalls von simpler Alltäglichkeit zeugt. Nathanael ist Student an einer Universität der „Stadt G.“ (S. 20, Z. 2). Neben seiner studienorientierten Tätigkeit ist er durch einen mittelständischen (und so die große Mehrheit reflektierenden) Lebensstil charakterisiert, da er weder von großen Reichtümern profitiert, noch von der Armut geplagt wird. Der junge Protagonist selbst ist ferner schriftstellerisch angehaucht. Nathanael ist der Verfasser verschiedener persönlicher Gedichte und offenbart damit sein hobbymäßiges, lyrisches Interesse (vgl. S. 26, Z. 22ff.). Dieses Interesse teilt er jedoch mit den wenigsten seiner sozialen Kontakte. Zu seiner Mutter, die den Protagonisten in seiner Kindheit vor den alchemistischen Experimenten, bei denen gar Nathanaels Vater ums Leben gekommen ist, schützen wollte, pflegt Nathanael wie auch zu seinen jüngeren Geschwistern (vgl. S. 8, Z. 1) eher keinen intensiven Kontakt. Siegmund, des Protagonisten Kommilitone, steht jedoch zu diesem in einem freundschaftlichen offenen Verhältnis. Siegmund, beispielsweise, drückt, drückt diese tiefe Verbundenheit in seinem Bekenntnis „Auf mich kannst du rechnen“ (S. 35, Z. 9) aus. Zu Lothar, Nathanaels Ziehbruder sowie baldigem Schwager und vor allem zu Clara, der Geliebten des Mannes, pflegt Nathanael ein eher tiefes und intimes Verhältnis. Dieses Verhältnis wandelt sich jedoch zum Schlechten, was im Verlauf dieser Schrift weiter erläutert wird.

Genannte Figuren sind als Nathanaels Verbündete und Figuren der „hellen“, also positiv zu wertenden und realitätsbezogenen Welt anzusehen, welche dem Protagonisten empfänglich (zu Beginn) gegenüberstehen und die von ihm ein eher positives Bild haben. Der Widersacher Nathanaels ist vor allem in Coppelius, der vermeintlichen Schauerfigur des Sandmanns, mit der Nathanael in der Kindheit konfrontiert wurde und die er mit Coppelius gleichsetzt, zu sehen. Coppelius ist der damalige Versuchspartner von Nathanaels Vater. Wie bereits erwähnt, steht diese Figur im extremen Widerspruch und in einem angespannten Verhältnis zu Nathanael; Coppelius beispielsweise strebt eine Misshandlung des Kindes an, indem er „glutrote Körner aus der Flamme, […] [Nathanael zu Kindeszeiten] in die Augen streuen [will]“ (S. 9, Z. 30f.). Der später im Werk auftretende Coppola, ein Wetterglashändler, wird von Nathanael mit Coppelius gleichgesetzt. Weitere Figuren sind die Amme aus Nathanaels Kindheit, die ihm erstmals das düstere Ammenmärchen des Sandmanns erzählt, der Physikprofessor Spalanzani, dessen Schüler Nathanael ist und des Lehrers eigenkreierte Maschine, einen lebensgroßen Automaten als Repräsentation einer weiblichen Person. In diesen Automat verliebt sich Nathanael am Ende des Stücks. Insbesondere die Konfrontation mit Coppelius Kinderhass, d.h. seiner Kindesantipathie und seiner Grausamkeit eröffnen jedoch in Kombination mit der Sandmannfigur für den traumatisierten Nathanael innerhalb seiner Situation den Hand zu dem Phantastischen und Irrealen. Die Verhängnisse und zeitlich begünstigten Umstände in Nathanaels Leben wie auch in seiner Kindheit ermöglichen – oder besser gesagt erzwingen – des Mannes intensive Beschäftigung und Beeinflussung mit „düstre[n] Träumereien“ (S. 21, Z. 23) und bösen, dämonischen Mächten. Dies wirkt sich zuletzt nicht nur auf Nathanaels durchweg träumerischen aber auch tief verängstigten Charakter aus, der als besessen, irrational, und mystisch unrealistisch beschrieben werden kann, sondern auch auf seine Beziehung mit seinen Verwandten und vor allem mit Clara. Der durch die Umstände geformte Charakter mit teils diffusen und verdrehten Ansichten, der durch die dunklen, unterweltlichen Mächte als heteronom (fremdbestimmt) und nicht autark angesehen werden kann, entwickelt daher auffällige Ansichten, Verhaltensweisen und soziale Veränderungen. Diese auffallenden und sich im Zuge Nathanaels aufkommenden Wahnsinns anbahnenden Ansichten hängen mit einer gewissen Manier zusammen und drücken sich am Beispiel Claras aus; ist die Beziehung mit Nathanael zu Beginn noch von einer innigen Zweisamkeit und dem Wunsch nach Liebe gekennzeichnet, so wandelt sich dies in eine innerlich (und teilweise äußerlich) abgewandte, stumpfe und unlebendige Bekanntschaft zu Zeiten Nathanaels Unsicherheiten um. Nathanael, der es sich zum Ziel macht, Clara von den dunklen Mächten und deren destruktiver Kraft zu überzeugen (vgl. S: 22f.), trifft auf scheinbar emotionale Leere; Nathanael macht seinen krankhaften Wahnsinn zum Gegenstand allen Seins und versucht alle von den ihn umzingelnden, bösen Erscheinungen zu überzeugen. Damit verbunden ist selbstverständlich seine Angst, auf Ablehnung und Missfallen, besonders bei Clara, zu stoßen. Sein aufkommender Frust ufert jedoch letztlich in Gefühlsausbrüche aus, welche fortan ein kontinuierlicher Bestandteil seines Lebens werden sollen. Seine einst hoch verehrte Dame Clara nennt er so im Kontext seines Abwendungsprozesses ein „lebloses, verdammtes Automat!“ (S. 25, Z. 3 f.). Dieser oberflächlich als „Wahnsinn“ deklarierte Emotionszustand ist dabei insgesamt Ausdruck multipler, geistiger Leiden. Halluzinationen sind in den "feuchte[n] [aufgehenden] Mondesstrahlen“ beim Anblick der leblosen Olimpia zu vernehmen (vgl. S: 28, Z. 35). Diverse Psychosen, die auf Paranoia, Schizophrenie oder gar depressive Veranlagungen hindeuten, spiegeln sich in Aussagen wie „Hui-hui-hui! – Feuerkreis – Feuerkreis!“ (S. 38, Z. 9f.) oder „Holzpüppchen dreh dich“ (S. 41, Z. 17f.), wie aber auch dem Erkennen der Gestalt des Todes in den einst liebevollen Augen Claras wider (vgl. S. 23, Z. 37 – S. 24, Z. 2). Neben diesen paranoiden Wahnideen steht letztlich doch auch das Motiv des Narzissmus beziehungsweise die Regression auf infantilen Narzissmus den zahlreichen inneren Konflikten des Individuums zwischen Vorstellung und Umwelt/Umfeld zur Seite. Gesehen werden kann dies in der bereits erwähnten Puppe Olimpia. Nathanael sieht in ihr die perfekte (Gesprächs-)partnerin und die Möglichkeit der engen Seelenverwandtschaft. Die für Nathanael offenbar im Werk anregenden Konversationen werden von der Puppe durch ein monotones und repetitives „Ach – Ach!“ (S. 33, Z. 15) begleitet. Der Grund für Nathanaels Vorstellung eines lebendigen, aktiven Gesprächs liegt auch hier verborgen in seiner tief-narzisstischen Störung. Nathanael, versunken in ewiger, krankhafter Ich-Bezogenheit, projiziert das seinige Bild samt Ideen und Einstellungen auf die leblose Maschine. Entwickelt hat sich Nathanael somit von einer psychisch-stabilen, zärtlichen und liebevollen Persönlichkeit zu einer negativen, unkontrollierbaren und düsteren Persönlichkeit, die in nichts weiter als dem Enigma ewiger Verdammnis gefangen ist. Der immer stärker gewordene Glaube an Dämonisches und der allumfassende Anspruch der Verbreitung des Gedankenguts, gerade bei Clara, werfen also innere wie äußerliche Konflikte auf (vgl. S. 25). Die dunkle Welt hat sich unter des jungen Nathanaels Füßen wie ein Riss eröffnet, hat ihm Glückseligkeit und Lebensfreude geraubt und ihn zu einem heteronomen Inbegriff von Schande transformiert.

Dies führt zu einem Gesamtfazit: Nathanael unterliegt seinem Wahnsinn, seiner konfliktären Vermischung von Realität und Fantasie als Gesamtkonflikt bezogen auf seine innere und äußerliche Lage. Aus Siegmund Freuds Perspektive beziehungsweise aus dem Modell seiner Psychoanalyse, kann auf dies verwiesen werden. Nathanael als entscheidende Ich-Instanz hat die Vermittler-Rolle verloren; sein Über-Ich ist in seiner Autorität beeinträchtigt, während das ES stark ausgeprägt ist. Es findet eine Auslebung des „Thanatos“ (Todestrieb) statt.

Persönlich kann zu der Figur des Nathanaels gesagt werden, dass eine glänzende, in einen düsteren Umhang gehüllte Faszination von ihm ausgeht. E.T.A. Hoffmann zeigt anschaulich, wie eine einst lieblich-romantische Figur in einen grausamen Scherbenhaufen aus Leid, Trauer und Wahnsinn degenerieren kann. Für Nathanael ist nur eines gewiss: der Tod.

Literarische Charakterisierung von Clara

Das Nachtstück „Der Sandmann“, geschrieben von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und veröffentlicht im Jahre 1816, handelt von dem psychisch kranken Nathanael, der in seiner Kindheit mit der Schreckensfigur des Sandmanns konfrontiert wird und der durch eine unglückliche Verkettung äußerer Umstände wie auch seiner eigenen Verhaltensweise dem Wahnsinn verfällt, wobei dieser letztlich in seinem Selbstmord am Ende des Werkes gipfelt. In einer engen Beziehung zu der tragischen Figur des Nathanael steht dessen Verlobte Clara, die im Gesamtzusammenhang der Schauernovelle ebenfalls als wichtige Hauptfigur angesehen werden kann. Im Folgenden wird die Protagonistin Clara, nach einer kurzen Übersicht über die Handlung der Novelle, mit besonderem Hinblick auf die äußere und innere Situation der Figur sowie ihrem Konflikt mit Nathanael umfassend charakterisiert.

Zu Beginn der Novelle erfährt der Leser etwas über die Hintergründe von Nathanaels Wahnsinn in einem dreifachen Briefwechsel zwischen Nathanael selbst, seiner Verlobten Clara und deren Bruder Lothar. Nathanael wird durch ein Zusammentreffen mit dem Wetterglashändler Giuseppe Coppola an seine frühere Kindheit erinnert. Coppola nämlich gleicht dem von Nathanael verhassten Advokaten Coppelius, welcher von dem jungen Protagonisten mit dem Sandmann gleichgesetzt wird. Coppelius zeugt von einer grässlichen Gestalt und begründet durch den Missbrauch Nathanaels bei alchemistischen Experimenten mit des Jungen Vater hauptsächlich seinen Wahnsinn. Zusammenhängend ist dies auch mit dem Fakt, dass Nathanaels Vater bei diesen Experimenten gestorben ist. Nachdem nun dieses Kindheitstrauma von Nathanael erneut entfacht und der Gedanke an die Schreckensfigur, die sich in Nathanaels Psyche gebrannt hat, aufgeflammt ist, wird Nathanael zunehmend düster und zeigt einen Hang zum Dämonischen. Seine Verlobte Clara kann ihm dies nicht ausreden; Nathanael entwickelt sich zu einem unkontrollierbaren, verstörten Wesen, das sich letztlich in eine mechanische Puppe (Olimpia) verliebt und in einem Wahnanfall beinahe den Schaffer des Automaten (Physikprofessor Spalanzani) ermordet. Nach einem Aufenthalt in einem Irrenhaus und der Rückkehr zu seiner Familie scheint der Protagonist geheilt. Als er jedoch eines Tages bei dem Besteigen eines Turmes einen weiteren Wahnanfall erleidet, will er seine Dame Clara vom Turm stürzen. Durch das Eingreifen Lothars schlägt dieses Vorhaben letztlich fehl; Nathanael springt darauf nach Erblicken Coppelius in seinen eigenen Tod, begeht also Suizid.

Clara, wie bereits erwähnt, trägt innerhalb dieses Geschehens eine wichtige Leitrolle und Funktion. Die weibliche Protagonistin ist ähnlich wie ihr Verlobter in einem eher jungen Alter, da sie beispielsweise „Kindesaugen“ (S. 16, Z. 13) besitzt und durch die Gesamtbeschreibung im Werk als jung präsentiert wird. Weitere personenspezifische Daten, die ein eher objektives Faktum wie Größe und Herkunft beschreiben, sind über Clara bezüglich ihrer äußeren Merkmale nicht von dem Autor Hoffmann beschrieben worden. Bekannt über Clara sind allerdings im Gegensatz zu Nathanael vermehrt Eigenschaften über ihr Aussehen. Clara nämlich wird beschrieben als eine eher attraktive Dame, deren „reine[n] Verhältnisse ihres Wuchses“ (S. 20, Z. 11f.) von proportionaler und symmetrischer Schönheit zeugen. Ihre durchaus schön und ansprechend geformten Körperpartien und ihr Korpus als Ganzes scheinen beinahe „zu keusch geformt“ (S. 20, Z. 13) und ihr „wunderbare[s] Magdalenenhaar“ (S. 20, Z. 14) rundet das von ihr aufgegriffene „Engelsbild“ (S. 3, Z. 6) ab. Die hellblaue Augenfarbe in Azurtönen führt dieses Bild (gedanklich) weiter fort (vgl. S. 20, Z. 15ff.).

Das Augenmotiv bei Clara wird zunächst zur Darlegung ihrer Schönheit verwendet. Die Analogie beziehungsweise der Vergleich von Claras holden Augen mit einem See, in dem sich die Umwelt spiegelt, ist zudem eine Referenz für die Vermischung von Geist und Seele im Punkte der Augen (vgl. S. 20, Z. 15ff.). Claras Augen erleben jedoch im Verlaufe der Geschichte einen Wandel. So blickt später Nathanael in Claras Augen und erkennt darin den Tod, der ihn „freundlich anschaut“ (S. 24, Z. 1f.). Markant ist also der Wandel von einer lebhaften zu einer leblosen Person. Die Augen als eigentliches Erkenntnisorgan für die subjektive Wahrnehmung werden also auch zur Unterscheidung zwischen Leben und Tod verwendet. Die Frage ist jedoch, ob dieses etablierte Augenmotiv einen realen Aufschluss über die Geschichte und Clara selbst liefern kann, oder ob dieses Motiv nur als Trompe-l'œil-Effekt und Kohärenzmittel innerhalb der Geschichte dient.

Der Fakt, dass keine Narben oder Verletzungen als Schönheitsmakel dargelegt werden, untermauert das Bild einer unberührten Naturschönheit, die sich jedoch gerade in ihrer Bescheidenheit einfangen lässt (vgl. S. 20, Z. 8ff.). Claras Unberührtheit und ihre Normalität werden letztlich aber auch durch ein gewöhnliches Ausdrücken hervorgehoben; Clara hat keinerlei „Ticks“ oder andere Erkrankungen, sie ist ein gesund anmutendes Mädchen.

Die junge Protagonistin selbst ist in Bezug auf ihr soziales Auftreten nicht differenziert und komplex charakterisiert. Clara gehört vermutlich einem mittelständischen Stand an, da sie weder gänzlich arm noch reich ist. Sie reflektiert somit den Großteil der Gesellschaft und es kann auch hier darauf geschlossen werden, dass E.T.A. Hoffmann durch eine ausbleibende personentypische Beschreibung eine universale Identifizierungsmöglichkeit für den Leser mit der Figur schaffen will. Dabei steht dies unter dem Leitgedanken, dass die Geschichte Nathanaels überall passieren und Menschen wie Clara unverhofft in solche Schicksale mit hineingezogen werden können. Ähnlich der damaligen Rolle der Frau in der Gesellschaft übt Clara teilweise Frauen zugeschriebene „feminine“ und haushaltstechnische Arbeiten aus, so hilft Clara beim Zubereiten des Frühstücks (vgl. S: 22, Z. 22ff.) oder strickt (vgl. S. 24, Z. 25ff.). Zu den Familienverhältnissen kann gesagt werden, dass Clara der Bruder Lothars ist. Beide sind die Ziehgeschwister Nathanaels, da sie „verwaist nachgelassen“ worden sind (S. 19, Z. 34). Clara nimmt somit Nathanaels Mutter als Bezugsperson an, ihre leiblichen Eltern können diese Rolle nicht mehr übernehmen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Clara mit all den sie umgebenden Figuren in einem reinen, offenen und empfänglichen Verhältnis steht. Clara hat zunächst (siehe Konflikt mit Nathanael im Schlussteil) keine Widersacher, sie ist eine eher „beliebte“ Figur. Das Kind eines „weitläufigen Verwandten“ (S. 19, Z. 33) fasst zudem eine enorme Liebe zu Nathanael. Clara liebt ihren Mann aus ganzer Leidenschaft. Die somit einen lieblichen Eindruck erweckende Clara steht in keinem nennenswerten äußeren Konflikt zu (weitläufigen) anderen Charakteren. Hauptsächlicher Konflikt ist der zwischen ihr und Nathanael aufkommende Disput, der im Schlussteil weiter thematisiert wird.

Weitgehend tiefgründiger ist die innere Welt und Situation Claras, die Ausdruck einer gewissen Manier ist. Claras Verhalten ist durchweg unter den Regungen aufklärerisch-rationaler Charakterzüge zu verstehen. In ihrem Brief an Nathanael versucht sie so unter der Motivik der Beihilfe und Aufklärung, Nathanaels Verdacht zu beschwichtigen und macht eine rational-argumentierende Art zum Gegenstand und Ziel ihres personenspezifischen Handelns (vgl. S. 12ff.). Ihre hauptsächliche Angst ist dabei das Scheitern ihres geplanten wie auch analytischen Vorhabens, was sich ihrer zunehmenden Verzweiflung über Nathanaels Sturheit in dem Satz „[I]ch habe ja meine Augen, sieh mich doch nur an!“ (S. 23, Z. 32f.) exemplarisch präsentiert. Es kann darauf geschlossen werden, dass dieses vernunftbetonte Verhalten ebenfalls gegenüber weiteren, aber eher unwichtigen Personen ähnlich ausgeführt, exerziert wird. Dieses besondere Allgemeinverhalten leitet schlussendlich zu dem hauptsächlichen inneren Konflikt der Frau hin, welcher in Verknüpfung steht zu ihrem äußeren Konflikt mit Nathanael und der sie, wie in vorigem Zitat dargelegt, zunehmend bedrückt. Clara – Die Verkörperung und schematische Typisierung der Rationalität und Aufklärung in Person – gerät demnach an die Grenzen ihrer pragmatisch-rationellen Verhaltensweise und es stellt sich dem Leser – wie auch ihr – zunehmend die Frage, ob die Frau so ihr „ruhige[s] häusliche[s] Glück“ (S. 42, Z. 23f. ) mit Nathanael als Verlobten erreichen kann. Clara nämlich ist nicht von einer grotesken Ambivalenz geprägt – oder eher geplagt – sondern zeigt sich in einer stabilen Persönlichkeit, die von mystischen Träumern und Fantasten, die keinerlei Hang zu idyllisch-vernünftiger Lebensweise haben, als „kalt, gefühllos [und] prosaisch“ (S. 21, Z. 3f.) beschrieben wird. Der jungen Claras „scharf sichtende[r] Verstand (S. 20, Z. 33f.), ihre „lebenskräftige Fantasie“ (s. 20, Z. 31f.) im Sinne einer durch und durch vitalen, kindlichen Lebensweise machen der Dame „weiblich zartes Gemüt“ (s. 20, Z. 33) zum Inbegriff einer holden Persönlichkeit. Diese ist unumstritten autark, da sie ihre Ansichten mutig beibehält und vertritt; ein Hang zur Heteronomie würde Claras Wesen und Natur widersprechen. Claras auffallend rational-verklärte Ansichten und die Ablehnung der dunklen, übermenschlichen Schwärmereien ihres Lebensgefährten begründen eine standfeste Entwicklung, innerhalb derer die junge Frau ihre Einstellungen und Anschauungen beibehält (vgl. S. 20). Ihr reifer, autonomer Charakter, der einen Gegenpol zu Nathanael impliziert, bleibt im Sinne der anfangs beschriebenen Geschehnisse erhalten. Grund dafür sind Claras strikte Vorstellungen und Ansichten in ihrer Unveränderlichkeit.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Clara eine aufgeklärte und rationale wie auch bodenständige junge Frau ist, die ihren Glauben und ihr Wesen aufklärerischem Gedankengut zuschreibt und die mit ihrer nüchtern-schweigsamen Art und Weise in Kombination mit ihrer reinen und bescheidenen Schönheit überzeugt.

Ausgehend von ihrer Art kann man Clara der Aufklärung (als Zeitepoche) zurechnen; Nathanael der Epoche der schwarzen Romantik bzw. Schauerromantik. Der Zielkonflikt, der sich aus beiden zunehmend kontrastierten Persönlichkeiten ergibt, liegt in den (inneren und äußeren) Konflikten um eine adäquate Weltanschauung. Während Clara noch sehr an Nathanael hängt und aus Liebe versucht, ihm von ihren Motiven in aufklärerischer Art und Weise zu „erleuchten“, wehrt sich Nathanael gegen diese Programmatik vehement. Nathanael nämlich bildet den extremen Gegenpol zu Clara, er versucht, eben sie von den dunklen Träumereien und seiner Emotionalität bzw. Fantasie zu überzeugen. Beide distanzieren sich dementsprechend konstant und unbewusst immer und immer weiter auf emotionaler Ebene voneinander weg. Ausgehend von diesem Inhalt, den textuellen Leitideen und der Sprache lässt sich das Werk „Der Sandmann“ zwar als ein schauerromantisches Werk einstufen (Motive: Wahnsinn, Groteske, Fantasie, Verbrechen, Irrationalität, Melancholie), welches im Zeitrahmen der Romantik verfasst wurde (1790 – 1835, siehe Veröffentlichung 1816) und sich der Renaissance anschließt. Insgesamt aber präsentiert der Autor auch aufklärerische Ideen, da die Romantik gerade von diesen, neben Technologisierung und Automatisierung, betroffen ist und übt ferner Kritik an beiden Epochen aus; die Romantik, die zu gefühlsbetont ist, steht im heftigen Widerspruch zur Aufklärung, die zu versiegelt gegenüber Emotionalität und liebevollen Träumereien ist. Nicht die keusche Enthaltsamkeit, sondern die genussvolle Lebensweise nach Maß ist das Ziel einer sinnvollen, gemäßigten Handlung.

Clara selbst als Person verfehlt diesen Mittelweg genauso wie ihr Verlobter Nathanael, dennoch ist sie im Sinne einer persönlichen Bewertung abschließend als besonders sympathisch zu kennzeichnen. Gerade ihre unverwechselbare Bodenständig- und Schweigsamkeit sprechen für sie und zeugen von einer realistischen Figur samt Gefühlskomplex, die der Autor E.T.A. Hoffmann vollkommen und erfolgreich illustriert hat.

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Ende der Leseprobe aus 9 Seiten

Details

Titel
Literarische Charakterisierungen von Nathanael und Clara aus E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann"
Autor
Jahr
2019
Seiten
9
Katalognummer
V1182202
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Charakterisierung, Nathanael, Clara, Der Sandmann, E.T.A. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Literarische Charakterisierung, Augenmotiv, Romantik, Schauerromantik, Schauernovelle, Nachtstück, 1816, helle Welt, Aufklärung, Wahnsinn, Narzissmus, Groteske, Trompe-l'œil, Trompe-l'œil-Effekt
Arbeit zitieren
Marvin Becker (Autor:in), 2019, Literarische Charakterisierungen von Nathanael und Clara aus E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1182202

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