Briefe, die ihn nicht erreichten

Eine Novelle in Briefen


Klassiker, 2008

177 Seiten

Elisabeth von Heyking (Autor:in)


Leseprobe


1.

Vancouver, August 1899.

Ihr Brief hat mich unendlich erfreut – vor allem, weil er weniger traurig klingt, als ich gefürchtet hatte. Es wäre mir ja beinahe beschämend, wenn Ihnen Peking ohne mich nicht ein bißchen grauer und öder erschiene, und ich möchte etwas von Ihnen vermißt werden – aber nicht zu sehr. Es ist alles eine Frage von Nüancen, und Sie haben, vielleicht durch das jahrelange Studium alter chinesischer Brokate und Porzellane, ein merkwürdig feines Verständnis für Nüancen, und haben genau diejenige getroffen, die mir wohltuend sein mußte.

Haben Sie also Dank für Ihren Brief, wie für so manches andere!

Unsere kurzen Ferien in Japan sind mit jener erschreckenden Geschwindigkeit vergangen, die den guten Zeiten nun einmal eigen ist. Ich will Ihnen keine nachträgliche Reisebeschreibung schicken, kennen Sie doch Madame Chrysanthêmes Heimat so viel besser als ich; ich will Ihnen nur sagen, daß ich dort viel an Sie gedacht habe, denn durch alles, was Sie mir erzählt, und durch die Bücher, die Sie mir darüber geliehen, kannte ich Japan schon, als ich hinkam. Es war mir, als fände ich dort lauter alte Bekannte wieder; in den Teehausmädchen, die unsern Rickshaw-Kulis mit derselben Grazie und Höflichkeit wie uns selbst Tee servierten, wie in den Landarbeitern, welche, hoch aufgeschürzt, oft bis an die Kniee in den sumpfigen Reisfeldern versanken und sich bei Regenwetter Strohdecken überbanden, deren abstehende Halmenden ihnen das Aussehen riesiger, emsiger Igel verliehen. Sie alle erschienen mir wie Gestalten aus einem wohlbekannten Bilderbuch, denen man zunickt: sieh da, sieh da, da seid ihr ja alle.

Das erfreulichste Wiedersehen feierte ich aber in Japan mit den vielen Blumen, die ich daheim und anderswo als japonica oder japonicum kennen gelernt hatte, und die ich nun in ihrer Heimat wiedersah, nur viel schöner und duftender; wie ja auch wahrhaft nette Menschen meist am nettesten in ihrem eigenen Hause sind.

Japan ist das erste und einzige außereuropäische Land, in dem ich mich ankaufen und »for good« bleiben möchte; oder vielmehr »for better for worse«, was ja ein so viel größeres Versprechen und Zeichen von Vertrauen enthält.

An unserem letzten Morgen in Yokohama hatten wir noch zwei Erlebnisse, ohne die Japan nicht recht Japan gewesen wäre: wir wurden früh durch ein Erdbeben geweckt, und wir sahen den Fusiyama. Der hohe weiße Herr hatte sich bis dahin übellaunig hinter einer Wolkenkappe verborgen, was ich den hohen, einsamen Bergesgipfeln nie verdenke, denn auch jüngeren, geringeren Wesen ist der Anblick der Welt ja oft verdrießlich genug. Als wir schon im Boot saßen, um hinaus an unseren Dampfer zu fahren, ward es plötzlich lichter, und wir sahen die schneeweiße Kuppe, die in Wirklichkeit ganz ebenso unwahrscheinlich aussieht wie auf ihren zahllosen Abbildungen. Es war mir gesagt worden, daß wer am Tage der Abfahrt den großen Herrn Fusi sieht, sicher nach Japan zurückkehrt. Sie wissen, daß ich, faute de mieux, ziemlich abergläubisch bin – nun wollen wir sehen, ob mich mein Nomaden-Schicksal noch einmal nach dem Lande des Lächelns und der Blumen zurückführen wird.

Der erste Mensch, den wir auf dem Dampfer trafen, war Bartolo, der große Konzessionenjäger, der so viele Monate im Hotel de Pékin saß, während Sie gerade eine Ihrer geheimnisvollen Reisen in das Innere Chinas unternommen hatten. Damals wollte Bartolo zuerst die nicht vorhandene chinesische Armee mit einem von ihm selbst erfundenen Gewehr versehen, später versuchte er dann einen Plan zur Bewässerung der Wüste Gobi an die chinesische Regierung zu verkaufen. – Wer alle Projekte gehört, die Bartolo und außer ihm so viele andere zur Beglückung der Chinesen ersannen, der kann das tiefe Mitleid begreifen, mit dem Sie »pauvre, pauvre Chine« zu sagen pflegten. Viel weniger Mitleid hatten Sie für die armen Gesandten, die alle einige Bartolos besaßen, von denen sie gedrängt wurden, ihre Wünsche nach phantastischen Konzessionen mit politischer Pression zu unterstützen und nach deren Ansicht die Gesandten nie genug taten, was sich bisweilen in Zeitungsangriffen oder parlamentarischen Interpellationen äußerte.

Bartolo erzählte uns gleich strahlend, er hätte seine letzte Konzession erlangt, nicht die von der Wüste Gobi, sondern eine allerletzte, zur Ausbeutung von Rubinminen. Anfänglich sei er nicht recht sicher gewesen, für welche Provinz er die Konzession erbitten solle, ob Kwangsü oder Kwangtung, da er ja beide nicht persönlich kannte und nicht wisse, ob es dort Rubinen gäbe. Schließlich habe er sich für Kwangtung entschieden, nachdem er etwas im Richthofen nachgeschlagen, diesem Evangelium aller Jünger des neuen Glaubens »Heil durch China«.

Mein Bruder und ich waren etwas erstaunt, daß Bartolo diese Konzession so rasch erlangt haben will, um so mehr als die Chinesen ja gerade eine Minenbehörde ernannt haben, deren Hauptaufgabe darin besteht, derartige Angelegenheiten zu verschleppen. Bartolo erzählte uns aber, in dieser Behörde säßen als einflußreichste Mitglieder der alte Tsü und der junge Tsi – dem jungen Tsi habe er in Tientsin die Bekanntschaft einer ebenso gefälligen wie schönen Amerikanerin vermittelt, und der »Nebenfrau« des alten Tsü habe er nächtlicherweile ein goldenes Teeservice zugesandt. Von da ab seien seinem Anliegen in der Kommission von den Chinesen nur noch pro forma ein paar kleine Schwierigkeiten gemacht worden.

Bartolo ist nun auf dem Wege nach London, um eine Aktiengesellschaft zu gründen zur Ausbeutung seiner Rubinminen, von denen er sich Millionen verspricht. Er hatte sich für die Überfahrt mit einer Menge Konserven und Delikatessen versehen, von denen er all seinen Bekannten auf dem Schiffe bei jeder Mahlzeit reichliche Portionen zusandte. Da er eigentlich ein sehr gutmütiger Mensch ist, wollte er hierdurch schon jetzt alle gewissermaßen an seinen Zukunftsschätzen teilnehmen lassen.

Ich werde immer ganz traurig über die schönen Illusionen, wenn ich Menschen so reden höre von all den Reichtümern, die sie in China erwerben wollen, und mich dabei der unendlichen, herzbeklemmenden Armut erinnere, die ich dort, ärger als irgend sonst wo, gesehen habe. Wo sollen nur die Reichtümer herkommen? Ich mag mich aber irren, denn ich kenne ja nur den trostlosen Norden Chinas, und vielleicht liegen wirklich Rubinen auf den Straßen in Kwangtung, wo ich so wenig wie Bartolo je gewesen bin.

Ich muß meinen heutigen Brief schließen, denn wir wollen hinaus in den Wald, aber ich werde Ihnen noch von hier weiter schreiben, da wir einige Tage hier bleiben wollen, um uns von der bisherigen für die weitere Reise zu erholen. Dieser erste Gruß soll Ihnen nur sagen, daß ich jenseits des großen Wassers gut angelangt bin. Nun schlage ich in Gedanken eine große Brücke darüber, deren eines Ende hier ruht, während das andere in der Gegend von Pei-ta-ho die Erde berührt, und über diese Brücke eilen tausend herzliche Gedanken freundschaftlichen Erinnerns zu Ihnen.

2.

Vancouver, August 1899.

Mein gestriger Brief, lieber Freund, handelte so sehr von Bartolo, daß ich fürchte, er wird den Eindruck bei Ihnen erwecken, als seien wir mit ihm die einzigen Passagiere auf dieser langen Fahrt gewesen. Drum sende ich gleich diesen zweiten Brief nach, der Ihnen von unserer übrigen Reisegesellschaft erzählen soll.

Am interessantesten waren mir zwei Japaner, die sich ein Stückchen Heimat mitnahmen, in Gestalt einer zwei Quadratfuß großen, erdgefüllten Kiste, in der mit Steinen und verkrüppelten Zwergbäumchen eine japanische Miniaturlandschaft dargestellt war. Sie hüteten dies Gärtchen mit rührender Sorgfalt. Beide litten offenbar sehr an Seekrankheit und ihre gelbliche Haut hatte allmählich seltsam grüne und violette Schattierungen angenommen, aber, mochten sie noch so elend sein, sobald ein Sonnenstrahl durch das dicke, schwere Gewölk drang, krochen sie aus der Kajüte und trugen ihr Kästchen auf das Deck in die Sonne, und sobald sich der Wind dann erhob und es kälter wurde, schwankten sie wieder hinunter, ihr Stückchen Japan in den Armen. Sie reisten nach Amerika zu Studienzwecken, und schon auf der Fahrt diente ihnen alles und jeder als Beobachtungsobjekt. Sie hatten offenbar ein großes Gefühl der Verantwortlichkeit, besonders für die ihnen gegebene Zeit, eine Verantwortung, mit der es die meisten Menschen nicht so genau nehmen, und die doch vielleicht die ernsteste von allen ist. Jeder unserer beiden reisenden Japaner hätte vor Jahren einmal das kleine japanische Schulkind sein können, von dem erzählt wird, daß man es nach einem starken Erdbeben zwischen den Trümmern des Hauses fand, wie es auf einen herabgefallenen Ziegel die Zahlen des letzten ihm aufgegebenen Rechenexempels eifrig weiter schrieb.

Auf unserem Schiff waren auch ein paar russische Reisende, sowie englische und belgische Ingenieure, die aus Peking zurückkamen. Sie hatten sich dort um Konzessionen für Eisenbahnen beworben, die möglicherweise erst in Jahrzehnten, vielleicht auch nie gebaut werden dürften. Ich erinnere mich sehr gut, wie Sie mir oftmals sagten, gerade dies Drängen um Eisenbahnen erbittere die Chinesen besonders. Und dabei waren die meisten dieser nur mit Drohungen errungenen Zugeständnisse für lange hinaus ganz zwecklos, und wurden nur verlangt, um etwaigen anderen Bewerbern zuvorzukommen. Man prahlte in Peking mit den erlangten Konzessionen, wie die Indianer mit erbeuteten Skalps. Nirgends habe ich so sehr die Empfindung unendlichen Raumes gehabt, wie gerade in China, und doch schien es nirgends so sehr wie in Peking, als ob die weite Welt für die Ansprüche der Menschen nicht ausreichte. Der Kampf wurde dort mit jener neidischen Eifersucht geführt, die ein Gebiet lieber wüst und leer sieht, als daß sie es fremden Händen überließe. Der Schwächere wird, so reich und ausgedehnt die Welt auch ist, stets leer ausgehen, denn die Gier der Starken ist größer als der größte Raum.

Auf dem Schiff hörte man endlose Debatten über die Zukunft Chinas, über »offene Tür« und »Interessensphären«, über Aufteilung und die Ansprüche der einzelnen Länder. Was aber in Pekinger Kreisen nur leicht angedeutet wurde, das sprachen diese Reisenden mit brutaler Offenheit aus. Man sah sich da plötzlich der bête humaine gegenüber, wie sie wirklich ist: stets erscheint ihr der eigene Anteil zu klein, der des anderen zu groß. Mit harmloser Naivität wurde da enthüllt, was jedes einzelnen Herzenswunsch war: für sich selbst abgeschlossene und möglichst große Interessensphären, bei dem Nachbar dagegen ein möglichst offenes Scheunentor. Mich stimmten diese Debatten oft unendlich traurig, denn sie eröffneten für die Zukunft weite häßliche Aussichten auf Kampf und Unterdrückung. Es waren ja nur einzelne Leute, die da redeten, zumeist einflußlose, unbedeutende Menschen, aber aus ihren Worten konnte man doch auf den allgemeinen Geist der Zeit schließen, mit seiner Skrupellosigkeit, seiner Abhängigkeit vom Erfolg, seiner Grausamkeit gegen alles auf Erden, was sich nicht wehren kann. Die beiden Japaner hörten dem allen zu, und wenn sie auch selbst wenig sagten, so merkte man ihnen doch an, daß für sie Buddha und seine Lehren in ebenso weiter vergessener Ferne liegen, wie für die anderen Christus und sein Wort, und daß auch sie sich den europäisch-amerikanischen Grundsatz zu eigen gemacht haben: »Friß, auf daß du nicht gefressen werdest.«

Draußen war es sehr neblig, sehr grau und eisig kalt geworden.

Ein oder der andere Passagier fragte wohl mal, ob keine Kollisionsgefahr sei. Dann wurde geantwortet: »In diesen nördlichen Breitengraden fahren gar keine anderen Dampfer, und sollten wir unwahrscheinlicher Weise einem Segelschiff begegnen, so sind wir eben die Wuchtigeren.«

So ging es im dicken Nebel weiter, und in langen gleichmäßigen Zwischenräumen ertönte das schauerliche Nebelhorn.

Die übrigen Reisenden hatten das Rauchzimmer oder ihre Kajüten aufgesucht; ich war allein auf Deck, in meinen dicksten Pelz gewickelt.

Der Nebel war dichter als je zuvor, die sichtbare Welt schien auf ein paar Fuß zusammengeschrumpft zu sein, drüber hinaus war alles ein unheimliches Grau, das lautlos hin und her wogte. Zentnerschwer fühlte ich eine Last, die sich mir aufs Herz legte, so daß ich kaum zu atmen wagte – und diese Last war eine namenlose Angst vor dem grauen Etwas, das die ganze Welt um mich her erfüllte. Ich kam mir so einsam vor wie noch nie im Leben, als sei ich ganz allein, als letztes Lebewesen, und als schwebte ich angstvoll suchend durch den endlos leeren Weltenraum. Und wie ich so hinausstarrte, begann es in dem Grau zu wogen, zu steigen und sinken; es war, als wehe der Wind dicke, schwere Schleier hinweg, und plötzlich lag klar und dicht vor mir ein Stück kalte, dunkle, nordische See. Ein Felsen erhob sich daraus, schneebedeckt und an all seinen Zacken Eiszapfen tragend, die bis zu dem schaurigen Wasser herabhingen. Oben aber auf dem Felsen saß ein riesiger Eisbär, in den Tatzen das Gerippe des letzten Tieres haltend, das er in der Einöde gefunden. Er schaute sich um, als wollte er sagen, »nun bin ich Alleinherrscher der Welt«. – Aber da tat sich das schwarze Wasser auf, und heraus tauchte ein Ungeheuer mit Schlangenleib, Fischflossen und rot bemähntem Walroßhaupt; Seetang hing ihm am nassen Maule und Reste kleiner Fische – die letzten, die es noch in der See gefunden; auch seine grünlich glasigen Augen schienen zu sagen: »Nun bin ich ganz allein Herr der Welt.« Da aber erblickten sich die beiden, der riesige Eisbär und das Seeungetüm. Die Flossen peitschten die Wogen, die Tatzen umkrallten den Felsen. Noch waren beide gesättigt, aber schon maßen sie sich mit den feindlichen Blicken künftiger Gegner. Sie hatten die ganze Welt entvölkert und trafen sich nun hier in der Einöde zu letztem Kampfe. Der würde entscheiden, wer Herr der Welt blieb! –

»Wir waren heute den Aleuten ganz nah,« sagte der Kapitän beim Abendbrot, »einen Augenblick konnte man eine der kleinen Inseln durch den Nebel sehen.«

Ich aber hatte die Empfindung, als hätten sich die Wolken, die uns umgeben, einen Augenblick geteilt, und ich hätte einen Blick getan in die Geschichte der Welt, die ja oft eine Geschichte wilder Tiere ist. –

3.

Vancouver, August 1899.

Wir sind noch immer hier, ohne besonderen Grund. Aber es ist herbstlich kühl und schattig, und die kleine Ruhepause gibt uns die kurze Illusion, wie andere Menschen seßhafte Wesen zu sein.

In den meisten Straßen sind hier Alleen grüner Bäume gepflanzt, unter denen rotbäckige Kinder morgens zur Schule radeln. Überall sieht man Gärten voll später Rosen, Rittersporn und Astern; die Mauern sind mit Kapuzinerblumen bedeckt, und an den kleinen Kieswegen blühen Reihen von Georginen und Malven. Gärten in so nordischen Ländern wie hier haben mir immer etwas Rührendes; es ist, als wollten die Pflanzen in der kurzen Sommerzeit möglichst viel leisten, und die Blumen, die es so eilig haben, zu erblühen, mahnen, daß wir ja alle nicht wissen, wie kurz uns die Spanne Zeit bemessen sein mag, da für uns noch die Sonne scheint.

Inmitten der wohlgepflegten Gärtchen stehen kleine Landhäuser; sie alle sehen behaglich und behäbig aus. Bei ihrem Anblick denkt man unwillkürlich an jene Gattung englischer Romane, die junge Mädchen lesen dürfen, und in denen alle Menschen täglich nicht nur drei tüchtige Mahlzeiten einnehmen, sondern auch noch gemütliche Nachmittagstees mit Kuchen und Sahne.

Die Leute, denen wir an diesem fichtenumwachsenen, bergumgebenen Hafen begegnen, sehen alle tüchtig und tätig aus; man merkt ihnen gleich an, daß es freie, kräftige Persönlichkeiten sind, die sich hier, unabhängig von obrigkeitlicher Hilfe, wie von Bevormundung, eine Heimat gegründet haben. Sie sind stolz auf das, was sie schon jetzt aus dieser entlegenen Bucht gemacht haben, und voll Zuversicht auf das, was die eigene, selbständige Expansions- und Betätigungskraft noch schaffen wird.

Wir sind hier weit von jenen künstlich gezüchteten Kanzlei-Kolonien, denen durch einen Geheimrat aus der Hauptstadt des Mutterlandes als wichtigste Grundlage eines beginnenden Gemeinwesens das Schema eines heimatlichen Grundbuches, sowie Polizeivorschriften für die Stunde des Lichtauslöschens und für das Maulkorbtragen der Hunde gesandt werden.

Maulkörbe trägt hier niemand.

Es wird auch wenig regiert. Die Gesetze, die sich allmählich als notwendig herausbilden, entspringen den örtlichen Bedürfnissen und Erfahrungen – sie werden nicht »ready made« importiert.

Im Gegensatz zu so manchen anderen, beruhen die englischen Kolonien auf der einzig gesunden Grundlage, auf einem tüchtigen Mittelstand, der sich hier frei und ungehindert entfaltet. In den Ländern, wo die demokratische Partei in kurzsichtiger Opposition sich gegen koloniale Bewegungen stellt, beraubt sie sich selbst eines fruchtbaren Tätigkeitsfeldes, wo sie viel mehr Aussicht als daheim hätte, ihre politischen Ideale zu verwirklichen. Diejenigen Kolonien, die von oben herab geschaffen werden, erinnern mich immer an ein künstliches Homunculuschen in der Flasche, das mit chemischen Pillen gepäppelt wird und seine Nahrung nie an der Brust der großen Volksmutter gesogen hat.

Ich entbehre es sehr, mich über diese und tausend andere Fragen nicht mehr mit Ihnen, lieber Freund, aussprechen zu können. Wer weiß, wann ich eine Antwort von Ihnen erhalten werde, denn in Ihrem Briefe, den ich hier vorfand, schreiben Sie ja, daß Sie nächstens wieder eine große Reise in das Innere Chinas unternehmen müßten. All meine Briefe werden Sie wohl lange erwarten und Sie erst nach Ihrer Rückkehr erreichen. Könnte ich den kleinen weißen Bogen doch Flügel geben, um Ihnen wie Brieftauben auf Ihrer Expedition nachzufliegen – dann fänden Sie jeden Abend, wenn Sie müde in einem elenden chinesischen Gasthause oder einem mongolischen Zeltlager anlangen, solch einen Boten von mir vor, der Ihnen erzählte, wie viel ich an Sie denke und wie sehr ich wünsche, daß Sie nicht mehr in die Wildnis zu ziehen brauchten, weil ich mich dann immer so sehr um Sie sorge.

4.

Vancouver, August 1899.

Meine große Freude hier in Vancouver ist es, endlich einmal wieder lange Spaziergänge im Schatten schöner Bäume machen zu können. Wer, wie ich, in einem Waldland aufgewachsen, sehnt sich immer danach zurück. Bäume sind mir wie lebende Wesen und jeder hat seine eigene Physiognomie, seinen Ausdruck, den er, wie wir Menschen auch, durch besondere Erfahrungen und Erlebnisse allmählich gewonnen hat. Ich begreife so gut, daß die alten Germanen sich die Bäume als Sitz besonderer Gottheiten dachten, und schon als Kind hatte ich einen wahren Abscheu vor Sankt Bonifatius, der den heiligen Baum fällte.

Sie erinnern sich gewiß noch, wie oft ich Ihnen von meiner Sehnsucht nach schattigen Waldespfaden sprach, wenn wir zusammen nach der Hitze des Tages auf die Pekinger Stadtmauer stiegen und auf diesem einzigen reinlichen Weg der chinesischen Kaiserstadt auf und ab gingen. Die Stadt lag tief unter uns, all die einstöckigen Häuser eintönig grau mit aufwärts geschweiften Dächern, auf deren Kanten Reihen kleiner Steinhunde sitzen. In die Höfe der nächstgelegenen Häuser konnten wir von oben hinein schauen und was wir sahen, waren immer dieselben uns unverständlichen Wesen, die dasselbe Dasein führten, das seit Jahrtausenden ihnen ähnliche Wesen genau ebenso geführt haben. In den Straßen war immer dasselbe Gewühl zahlloser Menschen, die unseren Augen so rätselhaft in ihrer Gleichheit und Einförmigkeit erschienen, deren elfenbeinerne Stirnen wie geschlossene Tore waren, von Welten, in die wir nie eindringen werden. Jahr aus, Jahr ein zog dies Gewühl von Menschen durch die Straßen, die monatelang voll dicken, schwarzen, klebrigen Schlamms lagen, und die übrige Zeit des Jahres in dichten, grauen Staubwolken verschwanden. Und niemand rührte die Hand, etwas zu ändern, etwas zu verschönern. Denn es war ja von jeher so gewesen; niemand hatte es je anders und besser gekannt; niemanden störte es – vor allem niemanden von denen, die hinter den roten Mauern, unter den goldig schimmernden Dächern der Kaiserpaläste ein noch geheimnisvolleres, noch rätselhafteres Dasein als all die anderen führten.

Erinnern Sie sich, wie oft wir dort oben auf der Mauer standen und hinüberschauten auf die verbotene Stadt mit ihren verfallenden Mauern? Stets hatte ich das Gefühl, als läge ein Alp auf der Stadt, wie der Schatten kommenden Unheils! Mit welcher Sehnsucht habe ich von dort oben weit hinaus geschaut, über die unendliche Ebene und dabei anderer Länder gedacht, wo uns nicht alles unverständlich ist, wo die Menschen sich grüßen, freuen und küssen, sprechen, lachen und trauern wie wir. Am Vorabend meiner Abreise haben wir noch einmal dort oben zusammen gestanden, und Sie wiederholten die Worte, die Sie in den letzten Wochen so oft gesagt hatten: »Ja, Sie müssen fort von hier – es ist besser so.«

Als wir dann nach Hause gingen über die Kanalbrücke und an dem kleinen Tempel vorbeikamen, in dessen Hof ein Kuriositätenhändler seinen kleinen Laden alter Vasen und seltsamen Gerümpels eröffnet hatte, da sagten Sie mir: »Ihr nächster Spaziergang wird Sie unter alte schattige Bäume führen, wie Sie es sich hier so oft gewünscht haben.«

Sie schienen so traurig, als Sie das sagten, lieber Freund, und doch haben Sie uns selbst zur Abreise gedrängt und sie beeilt – warum?

Und jetzt bin ich in einem Lande schattiger, grüner Bäume und täglich seit wir hier sind, gehe ich stundenlang tief in den Wald hinein. Das Schönste hier ist der Viktoria-Park, mit seinen uralten Bäumen und den herrlichen Blicken auf die See, vor allem mit seiner Ruhe, seinem Schweigen und Frieden. Wie würde ein Böcklin diesen Wald genießen, der dem unberührten Naturzustand noch so nahe scheint, daß man sich gar nicht wundern würde, über das dicke, weiche Moos Faune und Einhorne schreiten zu sehen.

Gestern bin ich besonders lange im Park gewesen. Ich ging träumend immer weiter, bis ich an sein äußerstes Ende kam, wo er zur schmalsten Stelle einer Meerenge führt. Das felsige Ufer fällt dort steil ab, und tief unten strömt das Wasser reißend vorbei. Ich setzte mich nieder zwischen Farnen und allerhand Ranken und schaute in die Tiefe auf die Meeresstraße, durch die alle Schiffe fahren, die vom fernen Osten nach Vancouver kommen. Und ich träumte, wie hübsch es sein müßte, hier irgendwo ein waldverborgenes Häuschen zu besitzen; dann würde ich alle Tage bis zu dieser äußersten Spitze gehen, setzte mich dort unter die alten Bäume und schaute aus, ob Schiffe aus Far-away Cathay kommen. Und an einem Tage würde endlich ein Schiff kommen, auf dem ständen Sie, und ich würde Ihnen von meinem Felsen aus einen großen Strauß frischer Waldblumen herabwerfen.

Denn nicht wahr, Sie bleiben doch nur gerade so lange in China, als es durchaus nötig ist? Ich mache ja schon so viel schöne Pläne für die Zeit, wo wir uns wiedersehen werden. Wann, wo wird das sein?

5.

Banff, September 1899.

Die Frühsonne scheint in mein Zimmer, lieber Freund, draußen zwitschern Spatzen, die sich in der Jahreszeit irren und jetzt beim nahenden Herbst noch an Frühlingsidyllen denken, und ich will den Tag beginnen, indem ich Ihnen guten Morgen zurufe, hinaus in die unergründliche Weite. Möge Ihnen ein freundlicher Lufthauch meinen Gruß bringen – wo Sie auch sein mögen. Ich fürchte, es kann dort nicht so schön sein wie hier.

Das hiesige Hotel liegt auf waldigem Bergrücken, in größter Einsamkeit, und erinnert an manche Tiroler Burgen. Von unseren Fenstern aus haben wir einen weiten Blick auf ein Gebirgstal, in dessen Tiefe, zwischen hohen Fichten, ein Bach fließt, der, zur Zeit da Eis und Schnee schmelzen, zum reißenden Strome wird. Im Hintergrund erheben sich steile, schneebedeckte Felsen.

Nach der langen Reise ist die hiesige Behaglichkeit an sich ein Genuß. Es ist herrlich, wieder mal in einem Bett zu schlafen, das weder schwankt noch schüttelt, und Mahlzeiten einzunehmen, ohne Sorge, daß der Zug abfährt, oder daß der gegenübersitzende Reisende seekrank wird.

Dicht neben dem Hotel ist ein großes, offenes Schwimmbassin, das von warmen Schwefelquellen gespeist wird. Fichten stehen ringsherum und das laue Wasser, der Sonnenschein und die köstliche würzige Luft bilden zusammen einen so wonnigen Aufenthalt, daß man im Sommer sicher gern Stunden dort verbrächte. Weiter unten, dem Tale zu, sind natürliche Grotten mit sprudelnden Quellen und tiefen Teichen, die geheimnisvoll unter den überhängenden Felsen verschwinden. Das Wasser ist so klar, daß man tief unten auf dem Grund die weißen Sandflächen und die einzelnen Kieselsteinchen schimmern sieht. Ich muß dort immer an die schöne Undine denken. In solch tiefen, klaren Wassern ist sie gewiß, unbewußt glücklich, wie die silbrigen Fischchen, herumgeschwommen, bis sie hinauf zur Welt stieg und unglücklich ward, weil sie sich einbildete, daß es nötig sei, eine Seele zu haben. Hätte doch irgend ein welterfahrenes Wesen der armen Undine erklärt, daß Seelenbesitz der entbehrlichste von allen ist, und daß die kalten, schlüpfrigen Fischchen am besten durch die Welt kommen, mit ihren geheimnisvoll grünlichen Augen, die so tief scheinen und auf deren Grund gar nichts ist.

Wir haben hier einen Offizier kennen gelernt, der die Mounted Police des Distriktes befehligt. Im Winter muß das ein recht einsamer Posten sein, wenn das Hotel geschlossen ist und die ganze Welt weit und breit unter tiefem Schnee begraben liegt. Im Sommer dagegen und auch jetzt noch in den schönen Herbsttagen scheint Kapitän White ein ganz lustiges Leben zu führen. Er ist beständig hier im Hotel und die Damen sehen ihn alle als eine Art Badedirektor an, der für die Vergnügungen der ganzen Gesellschaft verantwortlich ist. In der Halle, wo in zwei großen Kaminen halbe Baumstämme knisternd verbrennen und an den Wänden und auf dem Boden herrliche dicke Felle liegen, flirtet er mit schönen blauäugigen Kanadierinnen, die hier mit allerhand Sports die Saison zubringen; er flirtet mit amerikanischen »Summer Girls«, die es origineller gefunden haben, sich Kanada statt Europa anzusehen, und er flirtet mit blassen, verwaschen aussehenden Engländerinnen aus Hongkong, die alljährlich in immer größerer Zahl hierher kommen, um sich vom dortigen erschlaffenden Klima zu erholen. Es werden täglich große Ausflüge unternommen, zu denen die ganze Gesellschaft meist in Kapitän Whites Coach fährt. Er kutschiert vortrefflich, aber es sieht ganz abenteuerlich aus, wenn er mit seinem Viergespann die steilen Korkenzieher-Wege hinauffährt, in so scharfen Windungen, daß das erste Paar Pferde oft genau eine Etage höher zu stehen kommt, als das zweite und der Wagen. Gestern saß ich bei solcher Fahrt neben Kapitän White, und auch bei den halsbrecherischsten Stellen erzählte er lustig weiter, besonders von den Wintersports und von den hiesigen Indianern. Er sagte mit dem Brustton englischer Selbstgefälligkeit, die Regierung sorge für sie mit Geld und Proviant – ich finde das eigentlich das Mindeste, nachdem man den armen Leuten ihr Land weggenommen und ihnen als besondere Gastgeschenke Trunksucht und allerhand Epidemien gebracht hat. Von Zeit zu Zeit sollen die Indianer noch jetzt große Versammlungen abhalten, bei denen ungeheure Mengen Branntwein getrunken werden und die alten Krieger sich unter lautem Beifall all ihrer einstmaligen Morde und Diebstähle rühmen. Um den Alten an Mut nicht nachzustehen und da Raub und Totschlag im modernen Kulturstaate doch sehr unangenehme Konsequenzen haben, bringen sich die jungen Männer in den Versammlungen eigenhändig große Wunden bei und werden dann auch als Krieger in den Bund aufgenommen.

Wir fuhren gestern nach dem Devil’s Lake, einem tiefblauen See klarsten Wassers, der von hohen Felsen umgeben ist. Warum er gerade mit diesem Namen bedacht worden ist, konnte ich nicht ergründen. In allen Ländern kommt aber diese Benennung so häufig vor, daß man unwillkürlich annehmen muß, der Glaube an die Allgegenwart des Teufels sei weit mehr als derjenige an eine andere Allgegenwart im tiefinnersten Bewußtsein der Menschen lebendig.

Der Glaube an Gespenster, an böse Geister, anders auch Teufel genannt, ist ja sicherlich älter als der eigentliche Gottesglauben, denn aus der Angst vor bösen, unerklärlichen Mächten ist aller Kultus entstanden; er diente anfänglich immer dazu, Unheil von den armen Menschen abzuwenden, die von den bösen Geistern verfolgt wurden: die ursprünglichen Kultformen sind immer abwehrender Art und vielen, vielleicht den meisten Menschen, erscheint ihre Gottheit auch heute ja noch als ein erzürntes Wesen, das versöhnt werden muß.

Dieser kanadische Teufelssee erinnerte mich sehr an einen kleinen See in den Pyrenäen, den ich vor Jahren einmal sah. Dort steht auf einem Felsen ein kleines Kreuz, und der baskische Führer zog das breite wollene Barett ab, bekreuzigte sich und sagte, an der Stelle sei ein Liebespaar ertrunken. Jung, wie ich damals war, rührte mich das sehr. Als ich aber bis zu dem Kreuz geklettert war, las ich eine so alte Jahreszahl, daß das Liebespaar, wenn es statt zu ertrinken, alt und grau geworden wäre, und Urenkel erlebt hätte, unter allen Umständen doch längst hätte tot sein müssen. Das dämpfte meine Rührung. So oder so – ein Kreuzchen wäre doch schon längst das Ende – vielleicht war’s besser so.

6.

Banff, September 1899.

Lieber Freund! Die Welt ist hier so schön, daß ich Ihnen gleich wieder schreiben muß! Ich fürchte, dieser Briefanfang ist nicht sehr logisch – aber Sie werden ihn doch verstehen, Sie haben ja immer alles verstanden – Gesprochenes und Unausgesprochenes.

Wir haben uns in einem Lande gekannt, das wohl niemand als besonders schön bezeichnen würde, im Gegenteil, es war oft recht öde und häßlich, und über all unseren gemeinsamen Erinnerungen liegt es wie ein Schleier von Wehmut. Und doch, seitdem ich von dort fort bin, fühle ich mich Ihnen niemals näher, als gerade, wenn ich etwas wirklich Schönes sehe. Nach den drei Jahren in Peking, wo mir das Schöne so selten durch die Natur offenbart wurde, sondern wo ich es nur in eines Menschen Herz und Seele fand, ist es mir wie eine Offenbarung, zu sehen, wie köstlich die übrige Welt doch ist. Jetzt beim Anblick dieser herrlichen Berge, wenn die Sonne auf die Gletscher scheint und die Bäche von den Felswänden herabstürzen in einen tiefgrünen See, wenn ich die harzige Luft einatme und an den hohen Stämmen hinauf schaue, die hier standen, lang ehe der weiße Mann das Land betrat – da frag ich mich oftmals: ist dies dieselbe Welt? Hat das alles so gerauscht, geleuchtet, gefunkelt, geduftet, während der drei letzten, grauen Jahre, die ich in jener fernen Stadt verlebt, wo alles so unendlich fremd war und sich mir das Herz oft zusammenzog in beklemmender Angst, wie vor unheimlichem, unabwendbarem Schicksal?

Es ist so schön, wieder etwas schön finden zu können, plötzlich zu fühlen, daß die Jugend und die Begeisterungsfähigkeit nur schlummerten, daß sie aber noch da sind und bloß warteten, wieder aufleben zu dürfen. Es ist so schön, lieber Freund, sich noch einmal freuen zu können – ohne besonderen Wunsch, ohne irgend welche eigennützigen Gedanken, die ganz eigene, harmonische Freude zu empfinden, die die Natur in uns erweckt, die klärt und beruhigt, und durch die das Sorgen, Fürchten und Trauern für ein Weilchen wie in fernem Nebel verschwimmen. In solchen Augenblicken kommt es uns zum Bewußtsein, daß wir selbst eben auch ein Stückchen Natur sind, trotz alles Künstlichen und Gequälten, das uns die Erbschaft von Hunderten von Generationen auferlegt hat, und für einen kurzen Augenblick scheint es uns möglich, zu werden, wie die Lilien auf dem Felde. – Für eine kleine Spanne Zeit vermag das Schöne uns von der Last des Erlebten, des Gewollten, des nie Erreichten zu befreien. Wir atmen einmal frei auf, möchten vergessen und verweilen – aber schon müssen wir wieder hinein in die Mühe und die Qual, die uns Leben sind. –

Doch auch für die kurze Rast sei diesen Wäldern Dank!

7.

Banff, September 1899.

In der hiesigen Waldesstille, die so beruhigend auf uns Weitgewanderte wirkt, denke ich oft staunend an das Hasten und Ringen zurück, in dem wir in Peking gelebt haben. Dort schien Streben und Kämpfen, andere verdrängen und sich selbst einen Platz erobern der einzige Zweck des Daseins zu sein. Ich glaube, daß Sie, lieber Freund, verstehen werden, welche Erquickung dieser weltabgeschiedene Frieden mir gewährt. Denn oft, wenn ich Sie in Peking reden hörte, hatte ich die Empfindung, daß Sie das ganze dortige Treiben und Drängen wie von einer Höhe aus betrachteten, zu der all die kleinlichen Motive nicht heranreichten, daß Sie mit Ihren Gedanken in einer Stadt lebten, die allem Niedrigen wirklich eine »verbotene« war.

Sie dachten und fühlten ja sogar für die Chinesen, deren Wünsche und Anschauungen allen anderen als eine quantité négligeable erschienen, und die nur dazu da waren, um mit Gewalt in sogenannte Fortschritte getrieben zu werden, die dafür gestraft wurden, daß sie sich von dem einen hatten berauben lassen, indem der andere sie noch mehr beraubte. Ein jeder stachelte die Chinesen dazu an, gegen die Forderungen des anderen scharf aufzutreten und ihm nichts zuzugestehen, aber im entscheidenden Moment ließ man die Chinesen stets im Stich, es wurde ihnen nie wirklich geholfen, sondern man überließ sie der Gnade des anderen und stellte dann das Gleichgewicht wieder her, indem man selbst mit neuen Forderungen kam.

Ich habe nirgends so sehr wie in Peking den Erfolg verachten gelernt, weil ich einmal ganz aus der Nähe gesehen habe, womit er erreicht wurde, von den einen durch Bestechung, von den anderen durch Drohen mit roher Gewalt. Die armen Chinesen sind nun einmal gegen Geld und Kanonen, innerlich und äußerlich, widerstandslos. Setzen sie sich aber einmal zur Wehr, so steckt immer eine andere Macht dahinter, die eben mehr bestochen, oder mehr gedroht hat, von der mehr zu gewinnen oder mehr zu fürchten war. Ich erinnere mich sehr gut, wie Ihr Freund Li Hung Tschang sich ein paarmal fremden Forderungen widersetzte und auch wirklich nicht nachgab. Das war eben, weil hinter ihm eine andere fremde Macht stand, vor der er noch mehr Angst hatte als vor den Fordernden. Und die ganze europäische Erbärmlichkeit kam dann zutage, indem man wohl über Li Hung Tschang herfiel, die fremde Macht aber unerwähnt ließ – weil man vor der eben selbst auch Furcht hatte.

Die Pekinger Luft hat nun einmal einen ganz besonderen Einfluß auf die weißen Männer: entweder sie werden dort chinesischer als die Chinesen und zu leidenschaftlichen Freunden und Verteidigern Chinas, wie die meisten Dolmetscher, Zollbeamten und Diplomaten der alten Schule, oder, und das sind die Jüngeren, sie werden von einem Taumel des Übermenschtums erfaßt, der in einer grenzenlosen Verachtung alles Chinesischen wurzelt. Sie predigen, man solle zugreifen, sich nehmen, was man brauche, einzig das tun, was die eigene Herrenmoral fordere, denn so allein könnten Nationen und einzelne groß werden. Der Kern der Sache ist, sie trachten danach, einem anderen unrechtmäßigerweise etwas fortzunehmen. Dazu werden die großen Worte »Patriotismus, Expansion, neue Absatzgebiete, Stützpunkte« ausgekramt – und dazu drapieren sich ganz harmlose Bureaukratenseelen als Cesar Borgias, als Schüler Macchiavellis und Nietzsches. Aber das Herrentum läßt sich nur improvisieren, so lange man ausschließlich mit Chinesen zu tun hat; wird die Lage ernster, stehen hinter dem Chinesen Mächtigere, dann tritt eine sehr unherrenmäßige Nervosität an die Stelle der Kraftmenschpose. – Trotz allem, was darüber gesagt wird, sind wir eben keine Generation der Übermenschen. Wir sind Zweifler, Spötter, Unzufriedene – zum Übermenschtum fehlt uns das Zeug. Dazu müßten wir vor allem an uns selbst glauben – und wer tut das heute noch? – Sind wir ehrlich, so haben wir uns doch alle als armselige Blechgötzen erkannt – vielleicht imponieren wir noch den Wilden, uns selbst aber doch sicherlich nicht.

8.

Im Eisenbahnzuge, Oktober 1899.

Lieber Freund, wir haben das reizende Banff verlassen. Die Bergketten, die tiefen grünen Wälder liegen längst hinter uns. Einen ganzen Tag schon fahren wir durch die weite Ebene. Wir haben zum Fenster hinaus geschaut, haben hier und da ein paar Seiten eines Buches gelesen und die anderen Reisenden beobachtet. Nun wird es Abend, die Schatten werden länger, und im fernen purpurnen Westen neigt sich die Sonne anderen Welten zu. Mir ist, als ob graue Wesen aus der Erde aufsteigen, die mich stumm anblicken und in deren toten Augen ich die Frage lese: »Was hast Du aus uns gemacht?« Es sind Pläne und Hoffnungen, Träume, Wünsche und Ideale – lauter Dinge, mit denen wir vor langen Zeiten, am frühen Morgen des Lebens, die Fahrt begannen, die wir damals hüteten, als das kostbarste, was wir mit uns nahmen, als unseren höchsten Besitz. Es war, als gehörten uns seltene, goldige Samenkörner, aus denen ein märchenhafter Garten erstehen sollte, voll schöner, noch nie dagewesener Blumen. Aber statt einen Garten anlegen zu können, haben wir im Laufe der Reise die Samenkörner alle allmählich am Wege verloren, die einen früh, die anderen spät. Manche sind verschwunden, ohne daß wir es selbst recht merkten, wie Träume, die beim Erwachen verweht sind, niemand weiß wohin, die Erinnerung an sie sogar ist tot. Um andere haben wir gekämpft und wollten sie durchaus festhalten, sie sollten ja zum stolzesten oder liebsten Schmuck des künftigen Gartens werden – und wir haben sie doch hingeben müssen, haben auch sie verloren, in bitterem, alle Freude vernichtendem Schmerz.

In den Mühen und Sorgen des täglichen Lebens, die uns wie Opium vom Schicksal gegeben werden, um die größeren Leiden zu vergessen, denken wir kaum all des vielen Verlorenen. Aber an den Abenden langer Reisetage, wenn das Buch der Hand entgleitet und wir müde aus dem Fenster hinausstarren, wenn der Zug durch weite Ebenen braust und sein Schatten, riesengroß verlängert, über der wehenden Grasfläche neben uns dahineilt, wenn überall um uns die festen Formen sich auflösen und verschwimmen in dämmerigem Grau – dann greifen uns unsichtbare Hände kalt ans Herz, unendliche Wehmut, vergebliches Sehnen, bitteres Erinnern erfüllen uns ganz. Das ist die Stunde, wo Verlorenes, Totes aufersteht, wo wir plötzlich gewahr werden, wie arm wir geworden.

Der geträumte Märchengarten liegt plötzlich wieder vor uns, so schön, so beglückend, wie wir ihn einst geplant, in jener Zeit, da wir das felsenfeste Bewußtsein hatten, zu ganz Besonderem berufen zu sein; aber statt der damaligen Zuversicht, statt des Glaubens an uns und unsere Bestimmung, erfüllt uns heute nur bitteres Weh; wir wissen ja, daß wir all die goldigen Blumensaaten verloren haben, die einen erstarrten in Eis und Schnee, die anderen verbrannten in sengender Glut – nimmer werden sie keimen und blühen. Mit Nichtigkeiten und Eitelkeiten sind die Jahre verstrichen, wir haben sie vergeudet in der Jagd nach dem Unwesentlichen und vertrauert in den Sümpfen der Entmutigung – und darüber ist das Höchste und Beste in uns gestorben, das Kostbarste ist verloren gegangen.

Und nun ist es zu spät! –

Wir möchten die Zeit anhalten, zurückeilen, nochmals anfangen und alles so ganz anders und besser beginnen! Aber nie können die Räder der Zeit sich für uns rückwärts drehen, und der Zug braust unaufhaltsam über die Ebene weiter; wie ein Ungeheuer breitet sich sein Schatten über die Fläche, wie ein Ungeheuer führt uns das Schicksal eilend weiter. Willenlos müssen wir ihm folgen, die wir nicht stark genug waren, selbst Schicksal zu werden, die wir die Jahre vergeudet und dann vertrauert.

Und die ganze Fahrt – wohin? wozu? –

Selig, wer sich aus der Kette der Verluste, als Opium letzter Stunde, den Glauben an ein Ziel gerettet.

9.

New York, Oktober 1899.

Lieber Freund! Nach viertägiger Fahrt sind wir endlich hier eingetroffen. Müde und verstaubt kamen wir gestern Abend an und fuhren gleich nach dem Waldorf Astoria. Ich wartete in der großen Halle des Hotels, während mein Bruder sich nach unseren Zimmern bei den Direktoren erkundigte, die wie Kronjuwelen oder Verbrecher hinter Gittern sitzen. Während ich so wartete, bildete sich allmählich ein Gedränge um mich, das ich mir nicht zu erklären wußte, da ich mich weder schön noch abschreckend genug fühlte, um ein derartiges Interesse bei meinen Mitmenschen zu erregen. Das Rätsel löste sich aber bald. Nicht ich, sondern unser chinesischer Diener Ta-kwan-li war der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Während er gleichmütig neben mir stand, in jeder Hand eine Reisetasche, auf seinem guten runden Gesicht den Ausdruck vollkommenster Indifferenz, und die kleinen geschlitzten Augen so zugekniffen hielt, als lohne es sich gar nicht, sie zu öffnen, um diese ganz neue Welt zu betrachten, standen Herren und Damen um ihn herum, riefen andere herbei, ihn auch zu begaffen, und tauschten allerhand Bemerkungen über sein Äußeres aus. Der Orientale, dem doch alles so gänzlich neu und befremdend sein mußte, war dem westlichen Menschen mal wieder ganz überlegen durch seine angeborene und anerzogene Ruhe. Er zeigte weder Erstaunen noch Neugier und sagte nur: »Wenn sie mich genug betrachtet haben, werden sie wohl aufhören.«

Die unmittelbare Folge von Tas Aufsehen erregender Anwesenheit war, daß sich sofort Reporter der verschiedensten Zeitungen bei uns melden ließen. Sie waren voller Neugier, China und besonders die alte Kaiserin betreffend, über die sich nach dem Staatsstreich offenbar wahre Sagenkreise gebildet haben. »Ob wir an den Fortbestand Chinas glaubten? Ob es zu einer Aufteilung kommen würde? Ob Li Hung Tschang wirklich in russischem Solde stände? Welchen Mächten die Kaiserin zuneige?« Wir suchten uns aus all den verfänglichen Fragen herauszuziehen, indem wir wiederholten, daß wir ja keine Diplomaten, sondern einfache Privatleute seien – aber es war schwer, diese professionellen Frager los zu werden. Schließlich ließen wir durch Ta jedem neuen Besucher sagen, daß wir von der Reise sehr müde seien und niemand mehr sehen könnten. Da hörten wir denn durch die Tür, wie sie nun mit Ta ein Kreuzverhör anstellten. Besonders wollten sie wissen, wie ihm New York gefalle, was ja immer die erste Frage ist, die Amerikaner stellen. Ta entwickelte wieder die größte Ruhe und würdevolle Zurückhaltung, indem er antwortete, er sei ja eben erst bei Nacht angelangt und habe noch nichts erblicken können, es schiene ihm aber, daß die Amerikaner noch nicht viel Leute aus fremden Ländern gesehen hätten.

Heute Morgen stand ich ganz früh auf, setzte mich ans Fenster und sah die große Stadt erwachen. Wir wohnen im achten Stock, die Menschen unten in der Avenue sehen wie Ameisen aus, und dabei sind wir noch nicht auf der halben Höhe des Hotels. Über seinem letzten Stockwerk ist eine Terrasse angelegt, ein sogenannter Dachgarten, wo man in den heißen Sommernächten Musik hören, kalte Getränke einnehmen und ein bißchen kühle Brise einatmen kann. Auf mehreren der höchsten Gebäude der Stadt, den achtzehn, zwanzig und noch mehr Stockwerke hohen Himmelskratzern, sind solche Vergnügungslokale errichtet – hell erleuchtet, scheinen sie nachts wie unbewegliche Ballons im dunkeln Himmel zu hängen. Von unsern Fenstern aus haben wir einen schönen weiten Blick auf die Fünfte Avenue und die Dreiunddreißigste Straße, bis auf das Wasser des East River, auf dem früh noch nächtlicher Nebel lagert. Das Astorsche Haus, uns unmittelbar gegenüber, das ich vor Jahren so massiv und prächtig fand, ist längst überflügelt durch die neuesten Riesenbauten. Aus dem bläulichen Morgendunst tauchen sie auf wie Werke eines neuen Geschlechts, voll noch ungeahnter Möglichkeiten, wie die Schlösser künftiger Märchen, gigantisch, himmelstürmend und schön in ihrer Art, weil sie so vollkommen zweckentsprechend sind.

Das erste, was ich heute tat, war, mich mit der Ausschmückung meines äußeren Menschen zu beschäftigen, denn ach, im Sonnenlicht westlichster Zivilisation besehen, erscheint meine chinesische Garderobe doch nicht ganz up to date. Ich fürchte, ich werde die Werke Tientais, dieses einzigsten Pekinger Schneiders, der für die Europäer alles fabrizierte, von Fracks bis zu Maskenkostümen, Ballkleidern und Layetten, nur noch als Reliquien vergangener Zeiten bewahren. Als ich heute in die Salons eines großen Schneidergeschäfts trat und unwahrscheinlich schlanke Damen mit kunstvoll frisiertem rotgoldenen Haar die letzten Modeschöpfungen anlegten und darin vor mir zwischen langen Spiegelreihen auf und ab stolzierten, mußte ich lächeln im Gedanken an das letzte Schneideratelier, in dem ich vor wenigen Wochen noch gewesen – das Atelier Tientais. – Ein paar Schritte von der englischen Gesandtschaft lag es, dicht an der Brücke, die über den Kanal führt. Aus dem Sumpf und den Löchern der Straße konnte man sich auf die Karikatur eines Trottoirs retten, das auch nur aus ein paar übereinander geworfenen Steinen bestand. Schaute man durch die offene Tür in die Schneiderhütte, so sah man ein niedriges Zimmerchen, dessen Wände mit Modebildern besteckt waren; mehrere Chinesen saßen darin, eifrig nähend an Herren- und Damenkleidern; in einem Winkel lag ein Haufen englischer Stoffe, die zu »Nummer-Eins«-Kostümen verarbeitet, von der Pekinger europäischen jeunesse dorée bei den Frühlings- oder Herbst-Rennen eingeweiht wurden.

Andre Städtchen! andre Mädchen! Wie würde Tientai staunen, wenn er hörte, daß die Säle mit den Spiegelscheiben, vor denen die blonden Houris auf und ab paradieren, die Behausung eines amerikanischen Tientais sind.

Als ich meinen Namen und meine Adresse angab, ertönten kleine Schreie freudigen Erstaunens von der Direktrice, den Verkäuferinnen und den schönen Probiermamsells: »Was, Sie sind die Dame, die gestern aus Peking angekommen ist?« »Wir haben es alles in den Morgenblättern gelesen.« »Sie wohnen im Waldorf und haben einen Chinesen mitgebracht.«

Alle wollten mich nun bedienen, und jede hatte eine andere Frage über China und vor allem über die alte Kaiserin; die Existenz anderer Kunden schien vergessen. Aber die Direktrice, Madame Blanche, führte mich in einen kleinen Nebensalon, und während ich die ausgewählten Kleider anprobierte, schwirrten Fragen an mich und Weisungen an die Rock- und Taillenarbeiterinnen wirr durcheinander.

»Und ist die alte Kaiserin wirklich eine so böse Frau?«

(»Miß Caroline, bitte die Taille etwas enger.«)

»Wir haben so viel Sympathie für den armen kleinen Kaiser.«

(»Miß Harriet, bitte, straff über den Hüften und von den Knieen an weit und faltig.«)

»Ist es wahr, daß sie ihn auf einer kleinen Insel gefangen hält?«

(»Recht weit über die Büste, Miß Caroline, das Fichu voll drapiert, du flou toujours du flou.«)

»Was kann man aber auch von einer Heidin erwarten!«

(»Miß Harriet, den Rock recht lang, das gibt etwas schwebendes.«)

»Und hat der Kaiser wirklich dreihundert Frauen?«

(»Die Ärmel enger, Miß Caroline.«)

»Natürlich haben Sie die Kaiserin gesehen! Wie interessant muß das gewesen sein! Aber von Toilette haben die Damen des Pekinger Hofes wohl nur wenig Idee?«

(»Mehr Grazie im Faltenwurf, Miß Harriet, soignez la ligne.«)

»Saß die Kaiserin wirklich auf einem goldenen Drachen?«

(»Miß Caroline, il faut avantager madame.«)

»Nein, es geht doch nichts über reisen und fremde Völker sehen. Aber man darf sie natürlich nicht wie uns beurteilen – es sind ja nur arme Heiden!«

(»Miß Harriet, nehmen Sie noch einmal genau die Masse.«)

»Seien Sie versichert, daß wir alles aufs beste für Sie liefern werden. Wir interessieren uns außerordentlich für Sie. Wir haben noch nie eine Kundin gehabt, die bei der Kaiserin von China gewesen ist.«

Und so verdanke ich es denn der Kaiserin von China, wenn meine New Yorker Kleider wirklich ganz besonders schön ausfallen!

10.

New York, Oktober 1899.

Lieber Freund! Haben Sie je von Charles William O’Doyle gehört? anders auch »Chinalack-O’Doyle« genannt? Dieser 50fache Millionär, der heute an der Spitze der größten Eisenbahnen steht, der Bergwerke, Schiffe und Ländereien, groß wie ein Königreich, besitzt, hat seine Laufbahn vor Jahren als Apothekergehilfe in San Francisco begonnen. Wie er dahin gekommen, wer seine Eltern waren, erzählt er heute wahrscheinlich niemandem – aber Geduld, die nächste Generation der O’Doyles wird gewiß entdecken, daß die Vorfahren von Charles W. einst angesehene Großgrundbesitzer in Irland gewesen, unter Cromwell ihres katholischen Glaubens halber verfolgt wurden, verarmten und, vom grünen Eiland vertrieben, nach Amerika auswandern mußten.

In Amerika wird jetzt alles fabriziert, wie in Europa – auch Stammbäume!

Charles W. legte den Grund zu seinem Vermögen durch einen wahrhaft genialen Einfall. Er hatte in San Francisco Gelegenheit, die Chinesen zu beobachten, die damals noch massenweise frei nach Kalifornien einwandern durften und ebenso massenweise nach ihrem Tode in großen schweren Holzsärgen nach Kanton zurückbefördert wurden. Chinesen glauben ja nun einmal nur im eigenen Lande regelrecht begraben werden zu können. Aber die schweren Holzsärge und der teure Transport verschlangen oft alles, was sich der Tote während Jahren erspart hatte, zum großen Ärger der bezopften Erben. Da erfand Charles W. einen eigenen Lack, den er zuerst an allerhand toten Tieren ausprobierte. Damit bestrichen, konserviert sich jeder Tote monate-, ja jahrelang; er dörrt vollkommen aus, wird hart wie Stein und erscheint, als sei er mit einer gelben Lederhaut überzogen. Charles W. nahm ein Patent auf seinen »Chinalack« und damit bestrichen legten nun Tausende toter Chinesen den Weg nach Kanton zurück. Die teuren, nach chinesischem Muster in San Francisco verfertigten Holzsärge waren erspart und der Preis der Überfahrt bedeutend verringert, denn man konnte nunmehr die toten Chinesen wie Sardinen in irgend einen Schiffswinkel fest aufeinander pressen und unterstauen, und sie kamen vollkommen unversehrt daheim an, den hart gedörrten gelben Enten ähnlich, die als große Delikatesse im San Franciscoer Chinesenviertel feilgeboten werden.

Dies war die Grundlage der O’Doyleschen Millionen!

Seitdem macht Charles W. Geschäfte in allen Ländern der Welt, er ist längst aus San Francisco fortgezogen und nach New York übergesiedelt, aber er ist mit China stets in besonderen Beziehungen geblieben. Es wird gemunkelt, daß er, abgesehen von seinen großen chinesischen Bank- und Bahninteressen, durch die Dankbarkeit seiner ersten chinesischen Klienten, denen sein Chinalack manch kleine Erbschaft erhalten, Anteile an kantonesischen Pfandinstituten, Teehäusern und Blumenbooten erworben hat. Mein Bruder kannte ihn schon lange, hat auch von Peking aus Geschäfte mit ihm gemacht, und so war denn Charles W. O’Doyle einer unserer ersten Besucher im Waldorf-Astoria, und gestern Abend waren wir zum Diner bei ihm.

Sein Haus liegt dicht am Central-Park. Es hat hohe Türme und eine breite Bogen-Loggia, von der aus man in die herbstlich gefärbten Bäume des Parks und auf den fortwährenden Strom der vorbeifahrenden Equipagen blickt. Auf dem mit blitzenden Kupferplatten belegten Dach stehen zwei große Bronzereiter, ähnlich wie die auf dem deutschen Reichstagsgebäude, bei denen man sich auch immer staunend fragt, wie sie wohl da hinaufgeraten sind. Die Haustür ist massiv geschnitzt und entstammt einem alten befestigten Hause bei Golconda; sie ist mit weit vorspringenden eisernen Spitzen versehen, die einst dazu dienten, den Anprall feindlicher Elefantenreiterei aufzuhalten. Durch diese Tür tritt man in eine weite, weißgoldene Halle. Zwei ägyptische Mumienkasten, reich bemalt und vergoldet, mit Deckeln, deren obere Enden Sperberköpfe darstellen, stehen aufrecht, wie Schildwachen zu beiden Seiten einer wunderbaren Malachittreppe, die zu den oberen Stockwerken führt.

Es ist eine weltbekannte Treppe, über die die Lebemänner zweier Kontinente geschritten; führten ihre Stufen doch einst zu jener berühmten Aspasia des zweiten Kaiserreiches, der sie ein russischer Großfürst geschenkt. In der großen débacle, die das Kaiserreich verschlang, verschwand auch jene Dame. Ihr mit Schätzen gefülltes Haus ward während der Belagerung von Paris durch feindliche Kugeln zerlöchert und dann von Kommunarden geplündert. Ein armenischer Antiquar, der mit richtiger Witterung guter Gelegenheiten in Paris in einem Keller versteckt geblieben war, erwarb in jenen Tagen für ein Spottgeld die Malachittreppe, und von ihm hat sie der jetzige Besitzer erstanden.

Gepuderte Diener mit respektablen englischen Gesichtern standen sich auf den Treppenabsätzen stumm gegenüber.

»Als der Herzog von Hardup neulich verkrachte,« erklärte mir Charles W. O’Doyle, »habe ich nach London telegraphiert und seine ganze Dienerschaft rüberkommen lassen – so war ich doch sicher, Leute zu haben, die in einem anständigen Hause trainiert worden sind.«

O’Doyle ist ein breitschultriger, stämmiger Mann. Sein rotes glattrasiertes Gesicht ist unter dem Kinn bis zu den Ohren von einem kurzen Bart umgeben, der einer Halskrause ähnlich sieht. Große Perlen prangen auf dem Hemde, eine Kette mit allerhand seltenen Berlocks hängt ihm quer über dem Magen. Mit dem spitzen vorspringenden Bauche, über dem sich die breiten haarigen Hände von kostbaren Ringen funkelnd kreuzen, mit dem gutmütigen, halb irischen, halb Yankeedialekt, in dem er fortwährend von seinen verschiedenen Kunstschätzen und ihrem Ursprung spricht, hält man ihn zuerst für einen eingebildeten, aber harmlosen Narren, bis sich unter den buschigen Augenbrauen einmal die schläfrig gesenkten Lider heben und man eine Sekunde lang in die seltsamen Augen blickt; kalt und lauernd sind sie, wassergrün mit kleinen dunkeln Flecken, wie die gesprenkelte Schale von Kiebitzeiern –; hat man einmal in sie hineingeschaut, so glaubt man gern eine jede der vielen Geschichten, die über O’Doyles Skrupellosigkeit im Gelderwerb kursieren.

Mrs. O’Doyle merkt man es auf den ersten Blick an, daß sie aus der früheren Lebensepoche ihres Mannes stammt, und daß sie sich unter ihrer Perlenlast und zwischen den gepuderten Dienern nicht recht wohl fühlt. Von Zeit zu Zeit schaut sie ängstlich nach ihrem Mann, wenn sie sich einer besonderen gesellschaftlichen Schwierigkeit gegenüber sieht, oder wenn sie fürchtet, eine Dummheit gesagt zu haben. Ihr ängstliches, um Vergebung flehendes Benehmen und die kalten, lauernden Augen von O’Doyle – welche Faktoren für eine jener häuslichen Tragödien, die sich täglich neben uns abspielen, ohne daß wir es ahnen!

Die arme Frau hat es nicht einmal fertig gebracht, dem Hause O’Doyle Erben zu schenken – und Charles W. hat deshalb einen Neffen und eine Nichte an Kindesstatt angenommen. Der Sohn war nicht anwesend, dagegen die Tochter, Prinzessin von Armenfelde, die zur Zeit mit ihrem Manne in Scheidung liegt, weil Charles W. den stets von neuem verschuldeten Schwiegersohn nicht zum viertenmal von seinen Gläubigern retten will. So muß sich denn die Prinzessin scheiden lassen, ob sie selbst will oder nicht. Sie wird den Namen ihres Mannes behalten, und Charles W. findet, daß er ihn allmählich teuer genug bezahlt hat. Es war übrigens amüsant zu beobachten, wie sehr die »Prinzeß« der ganzen Familie imponiert, obschon sie doch vor ein paar Jahren auch noch eine einfache Miß O’Doyle war, die aus einer Anzahl armer Verwandten zur Adoption ausgesucht wurde.

Zwei entfernte junge Vettern von Mrs. O’Doyle waren auch anwesend. Der eine erfreut sich der klangvollen Vornamen Washington Montgomery. Ich war ganz gespannt, welcher Familienname für solchen Anfang hochtrabend genug sein würde, und denken Sie sich, er heißt Baggs. Washington Montgomery – Baggs! Es ist ein Sprung wie von einem Palais am Central-Park in eine Mietskaserne der neunten Avenue!

Während die Gäste sich versammelten, zeigte mir Washington Montgomery einige der wundervollen Bilder, die in den Salons hängen, und die in seinen Augen hauptsächlich deshalb Wert haben, weil sie meistens aus historischen Sammlungen fürstlicher Häuser stammen, die unter dem Hammer endigten.

Der zweite Vetter, dessen Name ich mich nicht entsinne, ist offenbar erst ganz kürzlich in das O’Doylesche Millionenreich verpflanzt worden. Als Champagner serviert wurde, ward er ganz aufgeregt und rief laut über den Tisch: »Drink, drink, gentlemen, whilst it’s fizzing!«

Der Speisetisch war übrigens ein wahres Entzücken! Ich habe noch nie eine solche Fülle von Orchideen gesehen, außer vielleicht in dem Botanischen Garten von Kalkutta. Ich hätte sie gern alle einzeln bewundert: die langen weißen Dolden, die vom Kronleuchter herabhingen, die grünlichen, braungeäderten, die wie kleine samtige Schuhe aussehen, in denen Feen nachts im Mondschein tanzen; die großen blaßlila, die auf ihren hohen Stengeln so stolz und abwehrend erscheinen, bis daß man ihre verlangend geöffneten purpurnen Lippen gewahrt. Orchideen kommen mir immer vor wie manche schöne Frauen, in deren Nähe man gleich fühlt, daß sie wunderbare geheimnisvolle Dinge erlebt haben müssen. Ich wünschte, ich verstände die Orchideensprache! Es werden darin gewiß die seltsamsten Geschichten erzählt.

Bei diesem New Yorker Diner fehlte es übrigens auch nicht an Geschichten. Beim Öffnen der Servietten fiel jedem Gast ein Etui in die Hand, das irgendein Geschenk enthielt: Manschettenknöpfe, Portebonheurs, Nadeln, Schnallen. Alles im modernsten art nouveau-Geschmack! Kolonel Patterson, der bisherige amerikanische Vertreter in Kairo, rief seinem alten Freund O’Doyle über den Tisch zu: »Aber Charles, wozu hast du denn das gemacht? Hier ist doch niemand, der bestochen werden soll?«

Darauf stürzte sich der Kolonel in eine Flut türkischer Bestechungsgeschichten, die mir aber ziemlich zahm erschienen, weil ich drei Jahre lang chinesische Bestechungsgeschichten gehört habe und der fernste Osten darin dem näheren Orient doch noch über ist. Der Prinzeß, die nie die Gegenwart der herzoglich Hardupschen Diener vergißt, war diese Konversation offenbar unangenehm, sie suchte den Kolonel davon abzulenken und fragte ihn, welche bedeutenden Leute er in Kairo gekannt habe, worauf sie die Antwort erhielt: »Well, Mrs. Princess, da ist ein Mann, der Cromer heißt, who bosses the show, und außer ihm war ich da!«

Und nun, liebster Freund, genug aus diesem Vanity Fair!

Möchte mein Brief Sie wohl antreffen, wo Sie auch sein mögen, und möchten Sie nicht gar zu lang dort bleiben, wo »dort« auch sein möge, da es doch auf alle Fälle von mir sehr weit fort ist!

11.

New York, November 1899.

Lieber Freund! Heute besuchten mich der alte Mr. Bridgewater und seine Töchter. Er hat lange Jahre in Europa zugebracht und war amerikanischer Gesandter in Petersburg, woher mein Bruder und ich ihn kennen. Jetzt lebt er mit seinen Töchtern ganz in New York und in Tuxedo Park. Er steht hier an der Spitze großer, wohltätiger Institutionen, schriftstellert und reist häufig nach Europa, mit jener amerikanischen Leichtigkeit, die eine Art Gottähnlichkeit an sich hat, da sie über Raum, Zeit und Geld erhaben zu sein scheint.

Mr. Bridgewater erzählte mir von der großen Veränderung, die sich in Amerika seit dem Kriege gegen Spanien in der öffentlichen Meinung und in den politischen Anschauungen vollzogen habe. Diese Veränderung drückt sich in einem enorm gesteigerten Selbstgefühl aus. Die ganze Nation ist vom Glauben, zu etwas Besonderem bestimmt zu sein, erfüllt, ein Glaube, durch den schon soviel Großes auf der Welt erreicht worden ist. Sie fühlt sich als politische Erwählte des Herrn. Und es ist eine ganz amüsante Mischung der Gefühle, vor denen man als Zuschauer steht: ganz trocken prosaische Berechnungen von künftigen Handelsvorteilen, die errungen werden sollen, und daneben eine beinah religiöse Begeisterung für den Beruf, andern Licht und Freiheit zu bringen, aber nicht etwa nur den wilden Völkern – da haben wir ja alle dieselbe Pretension, Händler und politischreligiöse Apostel zu sein –, sondern gerade auch uns armen, umnachteten Europäern. Amerika fängt an, nach allen Seiten seine Fühlfäden auszustrecken – kann wahrscheinlich gar nicht anders, denn man empfängt hier den Eindruck einer angesammelten Kraftfülle, die ungeduldig auf den Moment wartet, sich zu betätigen, der dabei gar keine Wahl bleibt, sondern die durch die Logik der Dinge getrieben werden wird, sich weitere Grenzen zu suchen, sich in immer neuen Weltfragen geltend zu machen.

Wie der einzelne Amerikaner sich schon seit jeher stets den Besten jedes anderen Landes gleichgefühlt hat, und sein persönlicher Unternehmungsgeist keine Schranken kannte, so hält sich Amerika jetzt als Nation auch für fähig und berechtigt, alles zu erringen, was es will. Und was Amerika will, ist die Welt. Die Welt will ja jeder, der auch nur die geringsten Chancen hat, sie je zu besitzen – und die Chancen Amerikas sind unheimlich gut! Schon deshalb haben die Amerikaner soviel Aussichten, ihre Ziele zu erreichen, weil sie alles mit ihrem großen Sinn fürs Praktische, ihrer angeborenen Organisationsgabe anfassen; weil es eine Nation selbständiger Menschen ist, die individuell genommen, dem Europäer überlegen sind. Ursprünglich stammen sie ja gerade von jenen ab, denen es in Europa zu eng und unfrei war, von Leuten, die durch ihr Unabhängigkeitsgefühl in neue Welten getrieben wurden, wo sich ihre Persönlichkeit ungehemmt entfalten konnte. Diese ererbte Eigenschaft bildet den Grundzug der neuen Rasse, und es hat sich in ihr eine ganz andere Initiative und persönliches Verantwortungsgefühl ausgebildet, als im alten Europa. Vor allem anderen lernen die Amerikaner für sich selbst zu sorgen und sich nicht auf die Führung anderer zu verlassen.

Eine Folge ihrer kräftigen Jugendlichkeit ist es, daß sie die politische Nervosität, an der man in Europa so oft leidet, noch nicht kennen. Die in manchen europäischen Ländern so beliebte Beschwichtigungsformel: »Laßt nur die anderen koloniale Gebiete erobern, sie werden schon dran verbluten«, ist den Amerikanern ganz fremd. Eine Auffassung, die ungefähr so klingt, als ob ein Eunuche sich damit trösten wolle, daß man durch Liebesaffairen mitunter in Unannehmlichkeiten geraten kann. Die Nordamerikaner dagegen haben vorläufig durch Verkündigung der Monroe-Doktrin ihren ganzen Erdteil für Tabu erklärt, sie möchten aber am liebsten diese Doktrin auf die ganze Welt ausdehnen, wobei sie besonders den fernen Osten im Sinn haben, seitdem sie dort Fuß gefaßt haben. – Vorläufig spricht man in Amerika freilich nur von friedlicher, kommerzieller Expansion, aber Überraschungen kann es auf diesem Wege leicht geben, denn seit dem spanischen Krieg gibt es in Amerika eine Partei, die keine Scheu mehr vor europäischen Mächten kennt und sich allen ebenbürtig glaubt. Diese Leute würden bereit sein, es mit jedem aufzunehmen und, wie Mr. Bridgewater durchblicken ließ, am liebsten mit dem, den sie für den gefährlichsten Konkurrenten halten. Mr. Bridgewater warf die Bemerkung hin, daß an England als möglichen Feind am wenigsten gedacht werde. Mit ihrer einstmaligen Mutter würden die Amerikaner am liebsten gemeinsame Sache machen, um eine Art politischen Riesentrust zu schließen, zur endgültigen Regelung der Welt.

Das ist das Weltzukunftsbild, wie es mir ein Amerikaner entwarf. Ich sende es Ihnen in jenes ferne Land, dessen urprosaische, enthusiasmuslose Söhne nur in den Sorgen der täglichen Gegenwart aufgehen und nie Spekulationen über die Zukunft anzustellen scheinen. Und doch könnten vielleicht gerade diese, allen Zukunftsgedanken so abgewandten Leute in der Weltzukunft ein großer Faktor werden – – denn über uns allen steht das Schicksal, und es läßt Handlungen und Gedankenströmungen, einzelne Menschen und Völker oftmals genau den entgegengesetzten Zwecken nützen, denen sie ursprünglich dienen wollten.

Ende der Leseprobe aus 177 Seiten

Details

Titel
Briefe, die ihn nicht erreichten
Untertitel
Eine Novelle in Briefen
Autor
Jahr
2008
Seiten
177
Katalognummer
V118761
ISBN (eBook)
9783640213245
ISBN (Buch)
9783640213368
Dateigröße
2185 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Briefe
Arbeit zitieren
Elisabeth von Heyking (Autor:in), 2008, Briefe, die ihn nicht erreichten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118761

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Titel: Briefe, die ihn nicht erreichten



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