Die niederländische Mystikerin Hadewijch berichtet im 12. Jahrhundert in ihrem „Buch der Visionen“1 von persönlichen Erlebnissen außerhalb der natürlichen Welt. Oft sind es religiöse Feiertage, an denen sie sich durch göttliches Wirken in andere Sphären versetzt sieht: Sie begegnet Engeln, Heiligen, Christus und Gott. Hadewijch befindet sich meist in einer Mette oder hört eine Messe, manchmal geschieht es aber auch, während sie zu Bette liegt, dass sie, wie sie es meistens schlicht beschreibt, „in den Geist aufgenommen“2 wird oder auch, wie ihre „Sinne durch das heftige, ungestüme Gebaren eines grauenerweckenden Geistes nach innen gezogen“ 3 werden. Der Eintritt in ihre Visionen ist begleitet von dem innerlichen Verlangen, „mit Gott im Genießen eins zu sein“. Ihr Wunsch wird manchmal erfüllt. Gott nimmt sie aus dem Geist auf in das höchste Genießen, „einen wunderbaren Zustand, der dem Verstande verschlossen ist“4, wie sie in der 5. Vision berichtet.
Die andere Welt, die Hadewijch im Geist betritt, ihre Begegnung mit Gott, beschreibt sie nicht als Traum, sondern als reales Ereignis. Dem heutigen Leser, der in der Regel nicht über derartige mystische Erfahrungen verfügt, fällt es schwer, diese Visionen als Ausdruck wirklichen Erlebens zu akzeptieren.
Borchert sieht allerdings im mystischen Erleben eine anthropologische Grunderfahrung, die potentiell jedem Menschen zugänglich ist. Er beschreibt Mystik als ein Phänomen, das in allen Kulturen und Religionen existiert und das trotz unterschiedlicher kulturabhängiger Äußerungsformen den gleichen Kern besitzt: „aus Erfahrung wissen, dass alles irgendwie zusammenhängt, dass alles im Ursprung eins ist.“5 Für diese Erfahrung, die eine tiefere Wirklichkeit erkennen lässt, eine Einheit, in der alles mit allem zusammenhängt, wurden viele Namen geprägt: „das Absolute, das Sein, Alles-isteins / eins-ist-Alles, die Einheit von allem, der Erschaffende Grund, Brahman“6. Mystik ist auf das Übersinnliche, das Erfassen des Göttlichen, Transzendenten gerichtet. Der Begriff „Mystik“ ist abgeleitet vom griechischen „myô“, das „schließen“ bedeutet.7 Damit ist der Bezug auf das Augenschließen hergestellt, eine Technik, mit der oft die Versenkung in die Innenwelt eingeleitet wird. Das Mystische ist also etwas, was wir in uns suchen und zu dem wir über die eigene Innenwelt einen Zugang bekommen können. Damit ist Mystik ein unmittelbares, individuelles Erlebnis. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Tugenden als Wegweiser für die imitatio christi
- Die Tugenden der Baumallegorie
- Die Stufen des Aufstiegs bei Hadewijch
- Die Tugenden als Stufentreppe zu Gott
- Die Auserwähltheit Hadewijchs bestimmt ihren Weg
- Theorie und Praxis im Tugendleben
- Die Kraft des Vollkommenen Willens
- Schlussfolgerungen und Gesamtbetrachtung
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Baumallegorie der niederländischen Mystikerin Hadewijch aus dem 12. Jahrhundert. Die Arbeit analysiert die Allegorie im Kontext von Hadewijchs „Buch der Visionen“ und untersucht die Rolle der Tugenden im Aufstiegsprozess der Seele zu Gott. Die Analyse soll aufzeigen, wie Hadewijch die Tugenden als Wegweiser auf dem Weg zur Liebe zu Gott präsentiert.
- Die Bedeutung der Tugenden im christlichen Kontext
- Die Rolle der Liebe im mystischen Erleben
- Die Interpretation der Baumallegorie als symbolische Darstellung des Aufstiegs zur Göttlichkeit
- Die Verbindung von Theorie und Praxis im Tugendleben
- Die Bedeutung der Auserwähltheit für den mystischen Weg
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Dieses Kapitel führt in das Thema der Arbeit ein und stellt Hadewijch und ihr „Buch der Visionen“ vor. Die Einleitung beleuchtet die Bedeutung der Liebe in der mittelalterlichen Mystik und die Rolle der Tugenden als Wegweiser im Aufstiegsprozess der Seele zu Gott. Es wird außerdem auf die Frage eingegangen, wie das mystische Erleben der Autorin zu verstehen ist.
Die Tugenden als Wegweiser für die imitatio christi
Dieses Kapitel behandelt die Bedeutung der Tugenden im christlichen Kontext. Die Tugenden werden als Wegweiser für die „imitatio christi“ (Nachahmung Christi) vorgestellt. Es wird die Frage erörtert, wie die Tugenden den Menschen helfen, sich Gott anzunähern.
Die Tugenden der Baumallegorie
In diesem Kapitel wird die Baumallegorie Hadewijchs im Detail analysiert. Die Allegorie stellt eine Reihe von Tugenden dar, die den Weg der Seele zu Gott symbolisieren. Es wird untersucht, welche Tugenden dargestellt werden und wie sie im Zusammenhang des Aufstiegs zur Göttlichkeit stehen.
Die Stufen des Aufstiegs bei Hadewijch
Dieses Kapitel befasst sich mit den einzelnen Stufen des Aufstiegs zur Göttlichkeit, wie sie in der Baumallegorie dargestellt werden. Die einzelnen Tugenden werden als Stufen auf der Treppe zum Göttlichen betrachtet. Es wird erörtert, wie die Auserwähltheit Hadewijchs ihren Weg beeinflusst und wie Theorie und Praxis im Tugendleben zusammenhängen. Die Kraft des Vollkommenen Willens als Schlüssel zum Aufstieg zur Göttlichkeit wird ebenfalls behandelt.
Schlüsselwörter
Hadewijch, Mystik, Baumallegorie, Tugenden, Liebe, Gott, Aufstiegsprozess, Seele, imitatio christi, Auserwähltheit, Theorie und Praxis, Vollkommener Wille.
- Quote paper
- Antje Hellmann (Author), 2003, Die Tugenden als Wegweiser auf dem Weg zur Liebe. Hadewijchs Baumallegorie und ihre Bedeutung im Aufstiegsprozess der Seele zu Gott, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11881