Leseprobe
Inhalt
Inwiefern können Tiere Zwecke an sich selbst sein?
Der Zweck an sich selbst bei Kant
Korsgaards Interpretation des Zwecks an sich selbst bei Kant
Autonome praktische Vernunft als Bedingung, ein Zweck an sich selbst zu sein
Tiere als Zwecke an sich selbst
Fazit
Literaturverzeichnis
Inwiefern können Tiere Zwecke an sich selbst sein?
In dem Buch Tiere wie wir versucht Christine M. Korsgaard, einige Elemente von Kants Moralphilosophie für ihre neue tierethische Theorie zu benutzen. In dieser stellt sie die bedeutsame These auf, dass Tiere1 Zwecke an sich selbst sind (Korsgaard, 2021, S. 186). Der Begriff des Zwecks an sich selbst stammt aus Kants berühmter Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS). Der ‚Zweck an sich selbst‘ ist ein Begriff, der bei Kant menschlichen Personen zugeschrieben wird:
„ Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest “ (GMS, IV, S. 429).
Diese Formel ist eine modifizierte Ausdrucksweise des kategorischen Imperativs und wird auch Selbstzweckformel genannt. Der in der Selbstzweckformel zentrale Begriff des Zwecks an sich selbst soll in dieser Hausarbeit zunächst in Bezug auf seine Herleitung und Bedeutung bei Kant näher untersucht werden, hauptsächlich basierend auf Porcheddus detaillierter Studie Der Zweck an sich selbst aus dem Jahr 2016. Bei der Frage nach der Begründung des Zwecks an sich selbst tut sich die Problematik auf, dass Kant in der KrV schrieb, inhärente Werte, zu denen auch der Zweck an sich selbst zu gehören scheint, könnten von Menschen nicht eingesehen werden. Korsgaards Interpretation des Zwecks an sich selbst bei Kant bietet einen Lösungsvorschlag für dieses Problem an. Daraufhin wird untersucht, ob es schlüssig ist, dass, wie bei Kant, die autonome praktische Vernunft die Bedingung dafür ist, ein Zweck an sich selbst zu sein. Abschließend wird gezeigt, wie aus Korsgaards Kant-Interpretation die Begründung folgt, dass auch Tiere als Zweck an sich selbst behandelt werden müssen.
Der Zweck an sich selbst bei Kant
Zunächst soll erläutert werden, wie Kant auf den Begriff des Zwecks an sich selbst kommt. Die Selbstzweckformel ist wie die anderen Formeln, die Kant formuliert, eine Ausdrucksweise des kategorischen Imperativs, nach dem sich alle vernünftigen Wesen im rationalen Wollen und Handeln richten sollen (GMS, IV, S. 436). Der Wille von vernünftigen Wesen bestimmt sich im Handeln nach der Vorstellung gewisser Gesetze (Ricken, 2000, S. 235). Kant kann den Begriff des Zwecks einführen, da der vernünftige Wille einen Zweck braucht, um sich der Vorstellung von Gesetzen gemäß zu bestimmen (Ricken, 2000, S. 235; Atwell, 1986, S. 88). Ein Zweck ist etwas, um deswillen etwas geschieht (GMS, IV, S. 427; Schönecker & Wood, 2004, S. 143). Ein objektives Gesetz, das für alle vernünftigen Wesen gilt, bräuchte einen für alle ersichtlichen Zweck, der von der Vernunft gegeben wird (Ricken, 2000, S. 237). Dies wäre ein Zweck an sich selbst. Dieser Zweck an sich selbst wäre, vorausgesetzt, dass es ihn gäbe, ein Zweck um seiner selbst willen, „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat“ (GMS, IV, S. 428).
Nun soll gezeigt werden, wie Kant bestimmt, was ein Zweck an sich selbst sein kann. Um den Zweck an sich selbst zu bestimmen, wendet Kant in der GMS ein Ausschlussverfahren an (Camenzind, 2021, S. 7). Er unterscheidet strikt zwischen subjektiven und objektiven Zwecken (GMS, IV, S. 427). Subjektive Zwecke sind Dinge, die tatsächlich erstrebt werden. Sie sind relativ, da sie nur für gewisse Wesen aufgrund deren Subjektivität einen Wert haben (Atwell, 1986, S. 88). Ein Zweck an sich selbst kann nicht den kontingenten Bestimmungen der Begehrungsvermögen von Subjekten unterworfen sein, da er einen absoluten und nicht bloß einen relativen Wert haben muss (GMS, IV, S. 427; Porcheddu, 2016, S. 59). Daher schließt Kant alle potenziellen Anwärter auf einen absoluten Wert, die subjektiven Bedingungen unterworfen sind, aus: Relative Zwecke, die durch Neigungen bedingt sind, Neigungen selbst, und Tiere, die Kant zufolge nur aufgrund von Neigungen handeln (GMS, IV, S. 427-429; Camenzind, 2021, S. 7). Objektive Zwecke hingegen sind Dinge, die erstrebt werden sollen. Ihr Wert ist absolut, da sie aus der Vernunft kommen und für jedes vernünftige Wesen aufgrund ihrer Vernunft erstrebenswert sind (Atwell, 1986, S. 88). Objektive Zwecke sind also rationale, moralisch gute Zwecke (Atwell, 1986, S. 88). Der kategorische Imperativ, den Kant in Form der Selbstzweckformel formulieren will, muss für alle vernünftigen Wesen gelten. Daher muss ein Zweck an sich selbst, der für alle vernünftigen Wesen notwendig ein Zweck ist, ein objektiver, von der Vernunft bestimmter Zweck sein (GMS, IV, S. 428).
Was bleibt also nach diesem Ausschlussverfahren als möglicher Zweck an sich selbst übrig? Die verschiedenen Formulierungen Kants, denen zufolge Personen, die vernünftige Natur und die Menschheit Zweck an sich selbst sind, lassen sich konsistent auf den Begriff der praktischen Vernunft beziehen (Porcheddu, 2016, S. 20-21). Vernünftige Wesen werden aufgrund ihres Vermögens der praktischen Vernunft beziehungsweise des Willens als Zweck an sich selbst ausgezeichnet (Porcheddu, 2016, S. 21). Die praktische Vernunft kann jedoch auch den Neigungen dienen (Porcheddu, 2016, S. 23). Daher ist der Zweck an sich selbst etwas, das verwirklicht werden muss (Porcheddu, 2016, S. 23). Im sittlichen Wollen und Handeln verwirklicht das vernünftige Wesen seine eigene Natur als Zweck an sich selbst. Denn die Natur vernünftiger Wesen ist die praktische Vernunft, die wiederum in Sittlichkeit besteht (Porcheddu, 2016, S. 24). Da das vernünftige Wesen also in seinem sittlichen Wollen seine eigene Natur realisiert, ist sowohl der Wille beziehungsweise die praktische Vernunft als auch das vernünftige Wesen Zweck an sich selbst (Porcheddu, 2016, S. 26).
Es soll jetzt näher darauf eingegangen werden, was es bedeutet, dass der Zweck an sich selbst realisiert werden muss. Der Zweck an sich selbst bezeichnet kein Handlungsziel (Atwell, 1986, S. 91). Es hat zwar jede moralische Handlung ein konkretes Handlungsziel (Porcheddu, 2016, S. 19), jedoch ist das Motiv bei moralischen Handlungen nicht das vorgestellte Handlungsziel, sondern die Erkenntnis dessen, was moralisch geboten ist (Porcheddu, 2016, S. 18). Motiv und Ziel fallen auseinander. Da die handlungsmotivierende Vorstellung des moralisch Gebotenen an einem zu realisierenden Sachverhalt orientiert sein muss, muss der Zweck an sich selbst also in der Vorstellung des sittlichen Prinzips vorkommen und sich in moralischen Handlungen immer mitrealisieren (Porcheddu, 2016, S. 19). Der Zweck an sich selbst ist also nichts bereits Realisiertes (Schönecker & Wood, 2004, S. 148).
Wenn das vernünftige Wesen sich das sittliche Prinzip vorstellt, verwirklicht es sich, wie bereits erklärt, im moralischen Wollen und Handeln als Zweck an sich selbst (Porcheddu, 2016, S. 24). Dies geschieht, da der freie Wille des vernünftigen Wesens sich nach dem Sittengesetz richtet (GMS, IV, S. 447). Vollzugsursache des freien Willens ist also das Sittengesetz (Porcheddu, 2016, S. 37). Das Sittengesetz enthält nach Kant somit die immanente Ursache der eigenen freien Handlung sowie das selbstgegebene Gesetz (Porcheddu, 2016, S. 37). Sittlichkeit ist also eine Reflexivität des Willens (Porcheddu, 2016, S. 37). Dieser Wille besteht als praktische Vernunft in dem Vermögen, ein Handlungssystem zu erschaffen (Porcheddu, 2016, S. 39). Dies erfolgt, indem die praktische Vernunft nach praktischer Vernünftigkeit, also der „allseitige[n] Kohärenz oder Systematizität allen Handelns, die sich im moralischen Handeln verwirklicht“, strebt (Porcheddu, 2016, S. 40). Diese Systematizität wird im kategorischen Imperativ in Form der Selbstzweckformel ausgedrückt, welche bestimmt, welche Handlungsmaximen zulässig sind.
Der Zweck an sich selbst wird also durch und in konkreten Handlungen als ordnendes und auswählendes Prinzip realisiert, ohne dabei tatsächlich hervorgebracht zu werden (Porcheddu, 2016, S. 35-36). Diese Gesetzgebung, in der die Sittlichkeit besteht, bestimmt jeglichen weiteren Wert. Daher kommt der Sittlichkeit ein absoluter Wert beziehungsweise Würde zu (GMS, IV, S. 436; Porcheddu, 2016, S. 24). Die vernünftige Natur setzt also ihren durchs Sittengesetz organisierten Handlungen einen Zweck- nämlich sich selbst als Organisation dieser Handlungen als Zweck an sich selbst (Porcheddu, 2016, S. 85f). Als diese Organisation wird der Zweck an sich selbst in den konkreten Handlungen mitrealisiert. Es soll nun erläutert werden, auf welche Handlungen genau das zutrifft.
Sind Personen jederzeit, also in allen Handlungen als Zweck an sich selbst zu behandeln? Atwell zufolge kann Kant argumentativ ausschließlich zeigen, dass wir in den Fällen, in denen wir Personen als Mittel gebrauchen, diese zugleich als Zweck an sich selbst ansehen müssen, nicht aber, dass Personen immer als Zweck an sich selbst angesehen werden müssen (Atwell, 1986, S. 119). Die Formulierung Kants ist jedoch eindeutig so gemeint, dass Personen Zwecke an sich selbst sind und daher immer dem absoluten Wert des Zwecks an sich selbst entsprechend behandelt werden müssen. Denn, Personen „ jederzeit zugleich als Zweck “ (GMS, IV, S. 429) zu gebrauchen bedeutet nichts anderes als, zu jedem Zeitpunkt. Der Zusatz „ niemals bloß als Mittel “ (GMS, IV, S. 429) stellt nur eine Explizierung des Sachverhalts dar. Entgegen Atwells Meinung ist dies keine bloße Behauptung (Atwell, 1986, S. 119), sondern lässt sich durchaus auch argumentativ begründen. Denn nimmt man sich - aufgrund des Vermögens der reinen praktischen Vernuft - als Zweck an sich selbst an, so muss man dies auf andere Wesen mit reiner praktischer Vernunft übertragen, da die reine praktische Vernunft das Kriterium dafür ist, ein Zweck an sich selbst zu sein (Steigleder, 2002, S. 65). Sind andere vernünftige Wesen Zwecke an sich selbst, so müssen wir, um sittlich zu handeln, sie auch jederzeit gemäß ihrem absoluten Wert beziehungsweise als Zwecke an sich selbst behandeln.
Bei den bisherigen Ausführungen wurde stets vorausgesetzt, dass es tatsächlich einen Zweck an sich selbst gibt. Wieso vernünftige Wesen ihre vernünftige Natur notwendig als Zweck an sich selbst ansehen müssen, ist von Kant in GMS II nicht begründet worden. Er verweist für eine Begründung der Existenz des Zwecks an sich selbst auf GMS III (GMS, IV, S. 429, Fußnote). In diesem Abschnitt wird jedoch der Begriff des Zwecks an sich selbst nicht einmal genannt. Man kann davon ausgehen, dass der Nachweis der Autonomie des Willens die Notwendigkeit der Annahme des Zwecks an sich selbst begründen soll (Camenzind, 2021, S. 9; Wimmer, 1982, S. 295; Porcheddu, 2016, S. 143). Vielleicht ist von Kant das Folgende gemeint: Autonomie ist die Fähigkeit, frei und selbstbestimmt moralische Gesetze aufzustellen (GMS, IV, S. 446-447; Schönecker & Wood, 2004, S. 145). Damit diese Gesetze für alle vernünftigen Wesen gelten, müssten sie sich auf etwas berufen, was von allen vernünftigen Wesen unabhängig von subjektiven Einflüssen als gut angesehen werden muss. Dies könnte der Zweck an sich selbst sein. Jedoch ist dieses Argument keine zureichende Begründung für die Notwendigkeit des Zwecks an sich selbst, da bereits der kategorische Imperativ in der Standardformulierung der Universalisierungsformel diese Bedingung erfüllt.
Es gibt ein weiteres Problem bei der Begründung dafür, dass vernünftige Wesen Zwecke an sich selbst sind. Korsgaard verweist darauf, dass wir Kant zufolge keine metaphysische Erkenntnis transzendentaler Gegenstände haben können (Korsgaard, 2021, S. 175). Zu diesen Gegenständen gehören auch absolute Werte, da sie keine empirisch feststellbaren Tatbestände sind (Korsgaard, 2021, S. 176). Auf der metaphysischen Ebene ist es daher aus Kants Position heraus unmöglich, nachzuweisen, dass gewissen Wesen der Wert des Zwecks an sich selbst zukommt. Korsgaard bietet in ihrer Interpretation des Zwecks an sich selbst bei Kant, auf der ihre kantianische Tierethik aufbaut, eine mögliche Lösung an. Diese Interpretation wird im nächsten Abschnitt erläutert.
Korsgaards Interpretation des Zwecks an sich selbst bei Kant
Die zugrundeliegende These von Korsgaards Interpretation lautet, dass der Zweck an sich selbst von Kant als Voraussetzung praktischen vernünftigen Tuns angesehen würde (Korsgaard, 2021, S. 177). Dies sei nötig, da wir bestimmte Dinge wertschätzen müssten, um überhaupt irgendetwas wertschätzen zu können, wenn wir wie Kant davon ausgehen, dass wir nicht einsehen können, welche Dinge einen inhärenten Wert haben (Korsgaard, 2021, S. 177-178).
Auch wenn wir keine Einsicht in inhärente Werte haben, können Dinge für jemanden einen Wert haben (Korsgaard, 2021, S. 25). Somit ist es möglich, dass es Dinge gibt, die allen Wesen, für die etwas von Wert sein kann, wichtig sind (Korsgaard, 2021, S. 26). Diese Dinge wären unbedingt gut. Um zu prüfen, ob etwas unbedingt gut ist, muss es also auf einem verallgemeinerbaren Grundsatz beruhen, beziehungsweise mit dem kategorischen Imperativ in Form der Universalisierungsformel übereinstimmen (Korsgaard, 2021, S. 184). Es ist vom Standpunkt aller aus gut, wenn alle, für die etwas gut sein kann, bekommen, was gut für sie ist (Korsgaard, 2021, S. 27). ‚Unbedingt gut‘ bedeutet bei Korsgaard demnach, ‚gut vom Standpunkt einer jeden aus‘ (Korsgaard, 2021, S. 178).
Rationale Wesen können, wenn auch nicht fehlerfrei, einordnen, welche Dinge unbedingt gut sind. Diese Fähigkeit kommt ihnen zu, da sie die Beweggründe der eigenen Überzeugungen kennen und bewerten können (Korsgaard, 2021, S. 60). Ist man ein Wesen, zu dessen Funktionsweise die Rationalität gehört, kann man sich fragen, ob die eigenen Beweggründe gute Handlungsgründe sind. Dadurch können diese Wesen eine Haltung gegenüber den eigenen Wünschen einnehmen (Korsgaard, 2021, S. 62). Anstatt durch Gesetze aus den Instinkten bestimmt zu werden, wird man somit durch selbstgewählte Gesetze bestimmt: „Rationalität ist Befreiung von der Kontrolle, wenn auch nicht vom Einfluss des Instinkts“ (Korsgaard, 2021, S. 65). Da wir rationale Wesen sind, sind wir Menschen uns also unserer Beweggründe bewusst. Daher können wir nicht handeln, ohne unsere Beweggründe als rechtfertigend für unsere Handlungen zu halten und sie somit als unbedingt gut wertzuschätzen (Korsgaard, 2021, S. 181; Korsgaard, 1996, S. 122). Korsgaards Interpretation zufolge können vernünftige Wesen also nur beschließen, von ihnen als unbedingt gut eingeschätzte Zwecke zu verfolgen, da dies Voraussetzung für „die Art von Selbstbewusstsein, das rationalem Entscheiden zugrunde liegt“ ist (Korsgaard, 2021, S. 180).
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1 Gemeint sind nichtmenschliche Tiere. Tiere im umfassenden Sinn, also einschließlich Menschen, werde ich ‚Wesen‘ nennen.