Irrtum im Geschmack

Über die Möglichkeiten des irrtümlichen ästhetischen Urteils bei Immanuel Kant


Bachelorarbeit, 2021

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Urteilskraft und Geschmack
1.1. Kritik als Kompass
1.2. Urteilskraft und Subsumtion
1.3. Schematismus und Zweckmäßigkeit
1.4. Teleologische und ästhetische Reflexion
1.5. Urteilskraft und Lust
1.6. Zweckmäßigkeit ohne Zweck
1.7. Interesselosigkeit und subjektive Allgemeinheit
1.8. Schöne Natur und schöne Kunst
1.9. Übergang zum Irrtum

2. Irrtum im Geschmack
2.1. Dialektik und Schein
2.2. Schein im Geschmack
2.3. Zwei Arten von Irrtum
2.4. Das trockene Wohlgefallen und der nicht-differenzierende Irrtum
2.5. Die Autonomie des Geschmacks und der normative Irrtum
2.6. Freiheit im Geschmack

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Einen Gegenstand aus Natur oder Kunst als schön zu beurteilen drückt nach Immanuel Kant kein lediglich privates Empfinden aus. Wenn das sogenannte Geschmacksurteil auch ein subjektives Lustgefühl mitteilt, so doch mit einem Anspruch auf „jedermanns Beistimmung“. Diese sogenannte subjektive Allgemeinheit unterscheidet Kant zufolge das Geschmacksurteil von subjektiven Urteilen anderer Art und ist Anlass für eine sorgfältige „Zergliederung“ in seiner Kritik der Urteilskraft. Trotz aller Präzision in Kants Ausführungen entsteht der Eindruck eines Widerspruchs: Auf den ersten Blick scheint unbestritten, dass das Geschmacksurteil nicht objektives Erkenntnisurteil sein kann. Und doch impliziert Kants beanspruchte Allgemeinheit eine über das Subjekt hinausreichende Gültigkeit solcher Urteile, somit in irgendeiner Weise deren Überprüfbarkeit und die Möglichkeit zu irren. Letzteres steht der geläufigen Vorstellung entgegen, jeder Mensch sei völlig frei in seinem Geschmack. Es stellt sich also die Frage, ob Kant mit dieser entdeckten Allgemeinheit beansprucht, spontane Gedanken und Äußerungen über Schönheit als fehlerhaft zu ‚entlarven‘ und ob wir mit einer solchen ‚ästhetische Perspektive‘ unserem eigenen Empfinden nicht mehr trauen, uns im Urteilen über das Schöne folglich unsicher fühlen sollten. Kant selbst liefert Antworten auf diesbezügliche Fragen nicht auf dem Serviertablett. Die vorliegende Arbeit soll daher eine Bündelung der zum Thema verstreuten Äußerungen leisten. Zunächst soll grundlegend aufgezeigt werden, was Kant Anlass gibt für eine gültigkeitsbezogene Herausstellung des Geschmacksurteils. Auf dieser Basis folgt dann die Untersuchung, ob und wie in Kants Konzept Irrtum im Geschmack definiert ist. Zu guter Letzt können Befürchtungen bezüglich einer Freiheitsbeschränkung des Geschmacks weitgehend aus dem Weg geräumt werden, wenn auch Kants Kritik durchaus zu größerer Sorgfalt in der Wahl der Urteilsprädikate sensibilisiert.

1. Urteilskraft und Geschmack

1.1. Kritik als Kompass

Bevor Philosophie als „System der Vernunfterkenntnis durch Begriffe“ ernsthaft begonnen werden kann, ist nach Kant die reine Vernunft in ihren Möglichkeiten und Grenzen zu bestimmen.1 Vernunft allgemein bedeutet für ihn unser Vermögen, sinnlich und verstandesmäßig geformte Wahrnehmung unter höhere Prinzipien zu ordnen, also das Schließen von einzelnen begrifflichen Erkenntnissen auf Allgemeineres.2 Diese menschliche Fähigkeit ermöglicht gleichzeitig die erkenntnistheoretische Arbeit, bei Kant speziell das Ergründen der Prinzipien a priori, also der vor aller Erfahrung wirkenden Geistesstrukturen als Voraussetzung für Erkenntnis überhaupt. Sein dabei entstehendes Begriffssystem begründet die sogenannte Transzendental-Philosophie 3, in deren Rahmen er unsere Fähigkeit zu synthetischen Urteilen a priori untersucht: eine „Erkenntnisart“, die uns begrifflich voneinander unabhängige Vorstellungen verknüpfen lässt, ohne dass etwa vorherige Erfahrung diese Verbindung rechtfertigte. Eine grundlegende synthetische Leistung also, die wir quasi unwillkürlich ausführen, und ohne die es weder reine Mathematik, noch reine Naturwissenschaft, strenggenommen gar keine höhere Erkenntnis gäbe.4

Nun bleibt die Arbeit der Vernunft aber nicht bei Mathematik und Naturerfahrung stehen: Sie weist nämlich das metaphysische Bestreben auf, ihre Begriffe auch über die sinnlich gestützte Erfahrung hinaus auszuweiten. Jenseits des Empirischen liegt Kant zufolge ein unvermeidliches Fragen nach „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“, welches dem Menschen keinesfalls abgesprochen werden kann und soll.5 Vielmehr soll eine genaue Analyse der Vernunfterkenntnis lehren, die verschiedenen Gebiete ihres Wirkens bewusst voneinander zu unterscheiden und den „falschen Schein“, der in ihrem „hyperphysischen Gebrauch“ begründet liegt, zu erkennen und zu benennen.6 Damit erhält die in Misskredit gefallene Metaphysik erstmals einen kritischen „Gerichtshof“, der „gerechte Ansprüche“ sichern, „grundlose Anmaßungen“ hingegen bremsen oder verhindern soll.7 Dieser Gerichtshof ist also die für jede weitere Philosophie fundamentale Kritik der reinen Vernunft. Weiter in Bildern gesprochen leisten also bei Kant sowohl die analytische Vermessung des festen Landes „der Wahrheit“, als auch die standhafte Begegnung mit dem „stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins“ eine unvermeidliche Fortbildung im Umgang menschlicher Erkenntnis durch ihre ureigenen Werkzeuge bei der Entdeckung und Kartographie des Erfahrbaren.8

Die Komplettierung dieses Programmes stellt für Kant seine Kritik der Urteilskraft dar. Hier geht es ihm um die Untersuchung derjenigen transzendentalen Prinzipien, die den Umgang des menschlichen Geistes speziell mit der Vielfalt und Zufälligkeit der Erfahrung, also die Fähigkeit, das Besondere in irgendeiner Weise angemessen einzuordnen, ermöglichen. Dabei steht ein zuvor weitgehend unbeachtetes Vermögen neben Verstand und Vernunft, welches außerdem mit den beiden letzteren in notwendiger Vermittlung steht, weil es gewissermaßen deren Strukturen erst zur Anwendung bringt: Unser Vermögen, zu urteilen, die Urteilskraft. Auch wenn sie in dieser Vermittlerrolle keinen eigenen, gesetzgebenden Teil der Philosophie ausmacht, entdeckt Kant in ihr dennoch eine apriorische Funktion, und zwar überraschenderweise diejenige, die in ihrer Reinform unsere Beurteilung von Schönheit ermöglicht. Da Schönheits- oder Geschmacksurteile gleichzeitig auch synthetische Urteile sind, weil sie die Wahrnehmung des betreffenden Objektes mit dem, nicht im Begriff des Gegenstandes mitenthaltenen, Prädikat der Schönheit verbinden, gehört die Frage „Wie sind Geschmacksurteile möglich?“ für Kant mit „unter das allgemeine Problem der Transzendentalphilosophie“.9 Folgen wir ihm hierbei, zählt die Ergründung der Ästhetik (im Sinne von ‚Lehre der Schönheit‘), die uns als angehende Philosophinnen und Philosophen möglicherweise noch wenig beschäftigt hat, demnach zum fundamentalen Rüstzeug, welches nach Kants Metaphorik Wahrheit vermessen und uns damit richtungsweisend auf dem ‚stürmischen Ozean‘ gegen das Risiko des ‚Scheins‘ wappnen kann.

1.2. Urteilskraft und Subsumtion

Urteile stellen sich schon in der Einleitung der ersten Kritik, obwohl Kant an dieser Stelle noch keine explizite Definition liefert, für den Leser als gedachte bzw. geäußerte Erkenntnis sätze dar.10 Sätze sind sprachliche Gebilde, in denen Subjekt und Prädikat in ein Verhältnis gesetzt werden. Im Abschnitt der transzendentalen Analytik definiert Kant ein Urteil schließlich als die „mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes“, das heißt das verstandes- bzw. vernunftmäßige Einordnen der (sinnlich) aufgefassten Wahrnehmung eines Gegenstandes oder Sachverhaltes unter Begriffe.11 Für unser Alltagsverständnis, in welchem ‚Urteil‘ und ‚Urteilskraft‘ nicht unmissverständlich geläufig sind, können wir also festhalten: Jeder Mensch formuliert gewöhnlich konkrete Erfahrungen seiner Umwelt sowie seines inneren Erlebens in Sätze, wobei er bejahend oder verneinend Subjekt und Prädikat in Beziehung zueinander setzt.12 Im Umlauf sind dann wahrheitsfähige Gedanken oder Aussagen, unabhängig davon, wie sich die zugehörigen Sachverhalte überprüfen lassen. Zu dieser begrifflichen Erkenntnis ist immer ein unbestimmtes Prädikat nötig, unter welchem man konkrete Wahrnehmungen, im Satz die Subjekte, zusammenfassen oder bestimmen kann.13 Zum Beispiel in der Aussage: „Dieser Schnee wird nicht liegen bleiben“ ordnen wir einen konkreten Schneefall (Subjekt) unter das Prädikat des ‚Nicht-beständig-Seins‘. Ein solches (sprachliches) Erkennen der wahrgenommenen Gegenstände und Sachverhalte, das wir ja quasi ständig tun, ist nach Kant nichts anderes als das Produzieren von Urteilen.

Letzten Endes sind es die Schlussfolgerungen, die wir täglich treffen, sowie deren Konsequenzen in unseren Handlungen und Entscheidungen, die für uns von (lebenspraktischer) Bedeutung sind. Kant geht es aber wie gesagt um jene Geistesarbeit, die diesen Manifestationen vorausgeht. Diese ‚Vorarbeit‘ ordnet er verschiedenen Geistesvermögen zu, die er nicht immer klar umreißt, die sich im Lesefluss also oft nicht eindeutig auseinanderhalten lassen. Während die Auffassung der Wahrnehmung bei Kant durch das Vermögen der Einbildungskraft geschieht14, ist das „Vermögen zu urteilen“ zunächst der Verstand, dessen Handlungen allesamt auf Urteile zurückzuführen sind.15 An späterer Stelle beschreibt Kant die Verstandestätigkeit als ein ständiges Durchspähen der Erscheinungen, also der wahrgenommenen Gegenstände oder Vorstellungen in der Absicht, „an ihnen irgend eine Regel aufzufinden“. Regel meint hier den allgemeinen Begriff, also jenes unbestimmte Prädikat, unter das der Gegenstand geordnet werden soll. Deshalb bezeichnet Kant den Verstand dann schließlich, das vorher genannte zusammenfassend, als „Vermögen der Regeln“.16 Urteilen ist so betrachtet also der Umgang mit verstandesmäßigen Regeln bezogen auf unsere durch die Sinne aufgenommene Erfahrung. Die Vernunft wiederum bietet einerseits gesetzesmäßige Begriffe für den Bereich des Übersinnlichen, der dem Verstand gänzlich verschlossen bleibt, vereinheitlicht aber auch die Urteile des Verstandes unter höhere Prinzipien. Bezogen auf Letzteres bringt sie also nach Kant „die höchste Einheit des Denkens“ hervor, welche wiederum die Grundlage für unsere Entscheidungen und Handlungen darstellt.17

Die Urteilskraft wiederum, auch wenn sie mit Verstand und Vernunft zusammenwirkt, ist nicht Verstand oder Vernunft. Sie ist bei Kant dasjenige Vermögen, welches unterscheidet, „ob etwas unter einer gegebenen Regel […] stehe oder nicht.“18 Zunächst kann verwirren, dass Kant einerseits, wie oben gesagt, den Verstand als Urteilsvermögen bezeichnet und dann zusätzlich die Urteilskraft ins Spiel bringt. Die Notwendigkeit der Urteilskraft als eigenem Vermögen ergibt sich ihm jedoch aus folgendem Grund: Das logische Regelwerk von gesetzmäßig bestimmenden Begriffen bieten uns Verstand und Vernunft, doch für den ‚Akt‘ ihrer Anwendung auf konkrete Fälle können sie nicht ebenfalls wieder zuständig sein, weil sonst der sogenannte Regelregress entsteht. Für jeden Begriff muss es wiederum eine andere Regel geben, welche seine Anwendung anweist. Diese Anleitung selbst müsste jedoch wiederum von einer Meta-Anleitung angewiesen werden, die besagte, dass die ‚erste‘ Anleitung tatsächlich über die Anwendung des ‚ersten‘ Prädikats verfügt. Auch diese Meta-Anleitung bräuchte einen ihr durch eine erneute Regel zugewiesenen Anwendungsbereich… Diese Vorstellung führt ins Unendliche.19 So muss, „wenn wir überhaupt zu einem Urteil gelangen wollen“, der Regress an einer Stelle abbrechen.20 Das Zuordnen eines Gegenstandes zu einem Begriff, ohne dass es wiederum durch eine übergeordnete Regel als Prinzip dessen bestimmt ist, wird von Kant als Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff bezeichnet und muss zwangsläufig durch eine dem logischen Regelwerk von Verstand und Vernunft ausgelagerte Instanz geschehen, der Urteilskraft. Sie muss einerseits logische Gesetze selbsttätig zur Anwendung bringen und andererseits, wo solche nicht bereitstehen, die Anwendung des Prädikats auf den Gegenstand als Subjekt selbst entscheiden. Nennt Kant trotzdem den Verstand als Überbegriff für unser Denk- und Urteilsvermögen, meint er dessen Gegensatz zur Sinnlichkeit und betont damit die Gegenüberstellung der beiden einzigen Erkenntnis quellen, also Sinnlichkeit und Verstand bzw. Denkvermögen.21 Über diesen dichotomischen Aspekt hinaus bilden aber für ihn Verstand, Vernunft und Urteilskraft die dreiteilige „systematische Vorstellung des Denkungsvermögens“.22

1.3. Schematismus und Zweckmäßigkeit

Die Urteilskraft als besonderes Vermögen bringt nun also konkret wahrgenommene Gegenstände (bzw. deren Vorstellungen) unter allgemeine Begriffe. Bei dieser Subsumtion gibt es nach Kant gewisse Einteilungen. So müssen uns, um überhaupt zu Erfahrungsurteilen zu gelangen, begriffliche Grundvoraussetzungen a priori gegeben sein. Unter solche reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien subsumiert die Urteilskraft nach dem sogenannten transzendentalen Schema. Dieses ist eine jeder Erfahrung überhaupt vorausgesetzte Verstandesstruktur, welche sinnliche Wahrnehmungen unserer Anschauung mit den rein verstandesmäßigen Kategorien zusammenbringen.23 Kategorien sind die Art von Begriffen, „vermittelst (…) [derer] überhaupt irgend ein Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann.“24 So sind zum Beispiel die Voraussetzungen, einen menschlichen Körper als solchen zu erkennen, sich überhaupt einen substantiellen Körper denken und ihm Eigenschaften zuschreiben zu können. Urteile über Handlungen und Abläufe um uns herum (und in uns selbst) wären uns ohne grundlegende Begriffskonzepte wie der von Ursache und Wirkung gar nicht möglich. Und selbst die Tatsache, ob da nur ‚ein‘ Mensch zu erkennen ist oder ‚mehrere‘, oder ob gar von der ‚gesamten‘ Menschheit gesprochen werden kann, setzt quantitative Grundbegriffe von Einheit, Vielheit und Allheit voraus. Auf diese Weise werden jegliche Erfahrungen sozusagen begrifflich vorgeformt und somit, zusammen mit einer entsprechenden Vorformung der (nicht-begrifflichen) Anschauung durch Raum und Zeit, erst möglich gemacht.25 Verknüpft wird also eine konkrete Anschauung mit der entsprechenden Begriffskategorie durch das transzendentale Schema. Dies ist zwar auch eine sinnliche Angelegenheit, weil es nach Kant die zur Sinnlichkeit gehörige Einbildungskraft ist, die zur Anschauung eine Art Äquivalent, eben das Schema, produziert. Das Schema bezieht sich aber von Beginn an bereits auf die Verstandeskategorie und ist somit schon begrifflich mitdefiniert.26 Das Schematisieren ist folglich ein an die Anschauung geknüpftes Hervorbringen eines gesetzlich bestimmten Verstandesbegriffes, dessen Darstellung des „korrespondierenden Gegenstandes in der Anschauung“, mit anderem Wort die Subsumtion, jedoch nicht der Verstand, sondern die Urteilskraft bewerkstelligt.27 Um Erfahrungen also in beschriebener Weise unter Kategorien zu subsumieren, werden Kant zufolge der Urteilskraft Gesetze des Verstandes (im moralischen Bereich das Freiheitsgesetz der Vernunft) vorgeschrieben, dennoch muss die Urteilskraft angesichts des genannten Problems des Regelregresses notwendig selbsttätig sein. Nach diesem transzendentalen Prinzip des Schematismus bestimmt die Urteilskraft den Teil der Erfahrung, zu dem allgemeine Begriffe, als Kategorien oder Vernunftideen, bereits gegeben sind.28

Nun haben aber die meisten unserer alltäglichen Urteile ihre für uns offensichtliche Bedeutung bei der Einordung von Gegenstands- oder Sachverhaltsbereichen, die vom beschriebenen Schematismus gar nicht abgedeckt werden. Wir erfahren die Umwelt zwar räumlich, zeitlich und kategorial vorgeformt, deren Besonderheiten jedoch ordnen wir nach einer eher ‚willkürlichen‘ Einschätzung unter ganz andere Arten von Begriffen. Begriffe bzw. Regeln, welche wir oft erst suchen müssen, die also nicht, wie etwa die Kategorien, schon vorgegeben sind. Nach Kant ‚durchspähen‘ wir unsere Umwelt, d.h. die Natur, die für ihn der „Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung“29 darstellt, und suchen bewusst Regeln, Prinzipien, Gesetze zu den Besonderheiten, die uns spontan begegnen. Die Besonderheiten der Natur sind aber so vielfältig ( mannigfaltig ), dass ein Regelwerk, welches sie eindeutig und restlos ordnet, uns beim Durchspähen nicht zur Verfügung steht. Es gibt jenseits der kategorialen oder vernunftmäßigen Bestimmung der Erfahrung keine logische Ordnung nach Schema, sondern die Urteilskraft muss in irgendeiner Weise selbst gesetzgebend sein, bekommt somit als Geistesvermögen eine weitaus bedeutendere Rolle als bisher zugeschrieben. Kant zufolge subsumiert sie nach einem ihr eigenen Prinzip und es ist sein Anliegen in der Kritik der Urteilskraft, herauszustellen, ob dieses Prinzip a priori Regeln gibt, so wie Verstand und Vernunft es können, und somit die transzendental-philosophische Bedeutung, die die Urteilskraft in unserem Erkenntnisvermögen spielt, genau zu definieren.30

Was ist nun dieses der Urteilskraft eigene Prinzip, das also weder von Verstand noch Vernunft seine ‚Befehle‘ erhält? Welche Regeln kann sie dadurch autonom vorschreiben? Schauen wir uns das ‚besondere Urteilen‘ im Kontext des (nicht-wissenschaftlichen) Alltags einmal genauer an. Um einen Satz wie „ich bin erkältet“ zu äußern, müssen wir für gewöhnlichen nicht überlegen, welchen Überbegriff wir für die speziellen Symptome, die uns heimsuchen, und die wir hier zusammenfassen, benutzen sollen. Das ist aber nicht deswegen so, weil wir eine verstandesmäßige Kategorie „Erkältung“ gegeben hätten, sondern weil dieser Begriff durch Beobachtungen und Beschreibungen in einer hier nicht relevanten Weise gesucht und festgelegt wurde, sodass wir uns an seine Verwendung, ohne normalerweise weiter nachzudenken, gewöhnt haben. Diese Gewohnheitsbereiche einmal außer Acht gelassen geraten wir aber ständig an Sachverhalte, für deren Details unsere Urteilskraft keine begrifflichen Vorgaben zur Verfügung hat und wo auch Gewohnheit nicht weiterhilft. Geht es beispielsweise darum, den Krankheitserreger, der unsere ‚Erkältung‘ verursacht, genau bestimmen zu müssen, um Maßnahmen zur Verhinderung seiner Weiterverbreitung einleiten zu können, beginnen wir zu überlegen, wo genau unsere Symptome im System der entsprechenden Begrifflichkeiten verortet sein könnten, etwa indem wir bereits bekanntes Wissen aktivieren, darüber nachlesen, sie also mit Symptomen bereits bekannter Erreger abgleichen, letztendlich auch, indem wir eine spezielle ärztliche Diagnostik veranlassen. Unsere Umwelt in ihrer ganzen Vielfalt erfordert von uns ständig ein solches Überlegen, ein Einschätzen, ein Reflektieren. Selbst was in der Wissenschaft, wo detailliert beforschte Erkenntnis schon begrifflich systematisiert sein mag, bleibt letztendlich die Vielfalt in ihrer Zufälligkeit bestehen. Auch dem Virologen, der vielleicht schon lange an ein und demselben Erreger forscht, ergeben sich immer wieder unerschlossene Bereiche, in denen er im Dunkeln tappt, begriffliche Zusammenhänge erst finden muss. Auch ein Wissenschaftler muss immer wieder überlegen und reflektieren und ihre Urteilskraft walten lassen.

Trotz des Bewusstseins dieser scheinbar unüberwindbaren Vielfalt, deren Ergründung wir in sowohl wissenschaftlichen als auch nicht-wissenschaftlichen Urteilen ständig bestrebt sind, haben wir nun eine Art ‚Zuversicht‘ in uns, durch die wir uns die Natur als nach einem mehr oder weniger geschlossenen System aufgebaut zu sein vorstellen. Wir gehen davon aus, dass unser Krankheitserreger in irgendeiner Weise in ein die Natur spezifizierendes System hineinpasst, weshalb wir in diesem Beispiel auch einen Arzt aufsuchen und nicht etwa einen Gärtner.

Wir bilden also neben den bestimmenden Urteilen des Schematismus oder den bestimmenden moralischen Urteilen ständig sogenannte Reflexionsurteile. Die allgemeingültige Voraussetzung dahinter ist, dass wir unsere Umwelt in einer bestimmten Weise verstehen ‚dürfen‘, weil sie sich unserer Urteilskraft eben nicht als völliges Chaos zeigt. Diesen der Erfahrung vorausgehenden Systemgedanken und eben nicht den der „besorgliche[n] grenzenlose[n] Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und Heterogenität der Naturformen“, sieht Kant nun als das der Urteilskraft eigene Prinzip, die Zweckmäßigkeit.31

[...]


1 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt 1974, S. 9.

2 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 313.

3 Vgl. Ebd. S. 63.

4 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 59.

5 Ebd.: S. 49.

6 Ebd.: S. 106.

7 Ebd.: S. 13

8 Ebd.: S. 267.

9 Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt 1974, S. 219.

10 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 46.

11 Ebd. S. 110.

12 Vgl. Georgi Schischkoff (Hrsg): Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart 1965, S. 620.

13 Der wahrgenommene und zu ordnende Gegenstand als Subjekt ist nicht zu verwechseln mit dem Subjekt der Erkenntnis, also der Person, die die Wahrnehmung hat.

14 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 148 ff. und: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt 1974, S. 33.

15 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 110.

16 Ebd. S. 180.

17 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 311 f.

18 Ebd. S. 184.

19 Vgl. ebd.

20 Markus Gabriel: Die Erkenntnis der Welt-Eine Einführung in die Erkenntnistheorie. Freiburg 2012, S. 206.

21 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 66.

22 Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt 1974, S. 15.

23 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 187ff.

24 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt 1974, S. 132.

25 Vgl. ebd., S. 69 ff.

26 Vgl. ebd., S. 189.

27 Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt 1974, S. 33.

28 Vgl. ebd. S.87.

29 Ebd., S. 21.

30 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt 1974, S. 74.

31 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt 1974, S. 21f und S. 29.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Irrtum im Geschmack
Untertitel
Über die Möglichkeiten des irrtümlichen ästhetischen Urteils bei Immanuel Kant
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
30
Katalognummer
V1191953
ISBN (eBook)
9783346630551
ISBN (Buch)
9783346630568
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Immanuel Kant
Arbeit zitieren
Sophie Blaumann (Autor:in), 2021, Irrtum im Geschmack, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1191953

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