Platons Kratylos - Exzerpte


Exzerpt, 1999

45 Seiten, Note: -keine Benotung-


Leseprobe


Inhaltsverezeichnis

0. Vorbemerkungen
0.1 Verwendete Ausgabe
0.2 Anmerkungen zu den Zitaten
0.3 Anmerkungen zum Aufbau des Dialogs
0.4 Anmerkungen zum Aufbau der Exzerpte:

1. Einführung
1.1 Die Natürlichkeitsthese und die Konventionsthese werden präsentiert
1.2 Welche ist die platonische These des Sprachursprungs bzw. der Richtigkeit der Namen?
1.3. Ausgangspunkt der Untersuchung: Gedankenfehler der jeweiligen These und Unterscheidung von falscher und wahrer Rede
1.4 Die Seitenhiebe gegen die Sophisten

2. Untersuchung der Konventionsthese
2.0 Hermogenes’ Gedankenfehler: Anordnung/Vertrag/Übereinkunft basiert auf Willkür
2.1 Erste Voraussetzung für die Untersuchung: die Unterscheidung von wahrer und falscher Rede
2.2 Zweite Voraussetzung für die Untersuchung: die Objektivierbarkeit allen Seins
2.3 Einführung des Werkzeugmodells
2.4 System Sprache vs. Handlung Sprechen; kognitive vs. kommunikative Funktion von Sprache
2.5 Unterscheidung zwischen dem Dialektiker und dem Gesetzgeber
2.6 Zusammenfassung: platonische Ideenlehre, Werkzeugmodell und Sprache

3. Der etymologisierende Teil des Dialogs: Untersuchung der natürlichen Richtigkeit der Benennungen
3.1 Eigennamen und Appellativa
3.1.1 Eigennamen
3.1.2 Appellativa
3.2 Die natürliche Richtigkeit der Wörter ad absurdum geführt
3.2.1 Erster Hinweis auf Ironie: eine überspitzte Gattungstheorie
3.2.2 Akustische Etymologisierung
3.2.3 Überspitzte Verwendung der herakleitischen Lehre des ewigen Stroms des Seins
3.2.4 Ironisierung der etymologisierenden Erkenntnis der natürlichen Richtigkeit der Namen
3.2.5 Direkte Ironisierung der herakleitischen Lehre
3.3 Bewusstsein für mehrere sprachliche Phänomene und semiotisches Verständnis von Sprache
3.3.1 Vorstellung dieser sprachlichen Phänomene
3.3.1.1 Verschiedenheit der Sprachen bzw. Dialekten
3.3.1.2 Sprachwandel
3.3.2 Ironisierung und Relativierung der Natürlichkeitsthese
3.4 Überspitunzg von der Idee der Ur- oder Stammwörter und vom Prinzip der Nachahmung
3.4.1 Vorstellung des Nachahmungsprinzips
3.4.2 Offene Überspitzung der Nachahmungstheorie
3.5 Schlussfolgerung: nachahmende Kraft als Grundlage der natürlichen Richtigkeit der Wörter

4. Untersuchung der Natürlichkeitsthese
4.1. Ausgangspunkt: Relativierung des bisher Gesagten
4.2 Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Rede; Kratylos’ Ablehnung der Existenz richtiger und unrichtiger Benennungen
4.3 Präzisierung des Nachahmungsprinzips
4.4. Relativierung des Nachahmungsprinzips
4.5 Kognitive Funktion von Sprache, der Wortbildner und die herakleitisch basierte Etymologisierung
Exkurs I: Grundzüge einer Wort- bzw. Satzlehre
Exkurs II: Semiotik

5. Konklusion: Natürlichkeit oder Konvention?
5.1 Natürlichkeitsthese?
5.2 Aporie?
5.3 Göttlicher Sprachursprung?
5.4. Einfacher „Stand der Forschung“?
5.5 Versöhnung beider Positionen?

0. Vorbemerkungen

0.1 Verwendete Ausgabe

Platon: Werke, Band II.2. – Kratylos – Der Sophist – Der Staatsmann – Das Gastmahl. – In der Übersetzung von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher[1]. – Hrsg. im Auftrage des Zentralinstituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Unter Leitung v. Johannes Irmscher, durchges. v. Regina Steindl. - Berlin: Akademie-Verlag, 1986. – [Platons Werke von F. Schleiermacher. – Zweiten Theiles zweiter Band. – Zweite verbesserte Auflage. – Berlin: G. Reimer, 1824. -]

0.2 Anmerkungen zu den Zitaten

- Die Originalorthographie wurde aus rechnerbedingten Gründen größtenteils modernisiert: Das verwendete Textverarbeitungsprogramm nimmt in den meisten Fällen automatische Korrekturen vor.
- Die Originalinterpunktion wurde dagegen beibehalten.
- Wenn nicht anders angegeben, sind Unterstreichungen und Fußnoten von mir.
- Die Seitenzahlen, in Klammern angegeben, beziehen sich auf die Editio princeps des Henricus Stephanus (Paris 1578, 383-440), wie sie in der Schleiermacher-Ausgabe am Seitenrand angegeben ist.

0.3 Anmerkungen zum Aufbau des Dialogs

- Gesprächspartner sind Hermogenes, Kratylos und Sokrates.
- Hermogenes-Teil (383-427): Hermogenes führt das Problem ein und ist auch Sokrates’ Gesprächspartner für mehr als zwei Drittel des Dialogs. Hier wird die Konventionsthese untersucht (384-390). Zu diesem Teil gehört auch der umfangreiche etymologische Teil (393-427), in welchem die natürliche Richtigkeit der Wörter demonstriert werden soll.
- Kratylos-Teil (428-440): Kratylos ist Sokrates’ Gesprächspartner. Hier wird die Natürlichkeitsthese untersucht.

0.4 Anmerkungen zum Aufbau der Exzerpte:

- Makrostrukturell gesehen, wird die Reihenfolge, wie beide obengenannte Teile, und darin die Teilprobleme und Thesen im Originaldialog erscheinen, mit übernommen.
- In der Mikrostruktur ist aber auch eine thematische Organisation zu finden, so dass weit entfernte Passagen des Dialogs hier nacheinander erscheinen können, wenn sie sich inhaltlich ergänzen oder präzisieren, aber auch wenn sie sich neutralisieren oder relativieren.

1. Einführung

1.1 Die Natürlichkeitsthese und die Konventionsthese werden präsentiert

Die Natürlichkeitsthese des Kratylos physis

Hermogenes: Kratylos hier, o Sokrates, behauptet, jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung, und nicht das sein ein Name, wie Einige unter sich ausgemacht haben etwas zu nennen, indem sie es mit einem Teil ihrer besonderen Sprache anrufen; sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen und Barbaren insgesamt die nämliche. (383)

Die Konventionsthese des Hermogenes thesis, nomos

Hermogenes: Ich meines Teils, Sokrates, [...] kann mich nicht überzeugen, dass es eine andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet. Denn mich dünkt, welchen Namen jemand einem Dinge beilegt, der ist auch der rechte, und wenn man wieder einen anderen an die Stelle setzt und jenen nicht mehr gebraucht, so ist der letzte nicht minder richtig als der zuerst beigelegte, wie wir unsern Knechten andere Namen geben. Denn kein Name keines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen. (384)

1.2 Welche ist die platonische These des Sprachursprungs bzw. der Richtigkeit der Namen?

- Ist er für die Natürlichkeits- oder für die Konventionsthese?
- Wäre der göttliche Sprachursprung als dritte Alternative oder wenigstens neben der menschlichen – wie auch immer geartete – Erklärung denkbar?
- Eine vierte Möglichkeit: Platons Absicht, Bericht zu erstatten über den ‚Stand der Forschung’ einer Jahrhunderte alte Debatte?
- Eine fünfte Möglichkeit: Platons Absicht, beide Positionen miteinander zu versöhnen?
- Oder befürwortet er gar keine These, sondern lässt seinen Dialog absichtlich aporetisch enden?

1.3. Ausgangspunkt der Untersuchung: Gedankenfehler der jeweiligen These und Unterscheidung von falscher und wahrer Rede

Die Untersuchung beider Thesen geht symmetrisch von zwei Ausgangspunkten aus, durch welche Sokrates[2] /Platon[3] sich einen Einstieg verschafft, um die jeweilige These zu untersuchen und zu widerlegen bzw. zu relativieren:

- einem Gedankenfehler der jeweiligen These
- der Unterscheidung von falscher und wahrer Rede als Voraussetzung

1.4 Die Seitenhiebe gegen die Sophisten

Gleich eingangs bei der Vorstellung des Problems

Dabei eine typisch sokratische Aussage, zu behaupten, er wisse die Lösung nicht, und die Absicht seiner Methode des ruhelosen Fragens (Maieutik oder ‚Hebammenkunst’) dafür anzuwenden

Sokrates: [...] Hätte ich nun schon bei dem Prodikos[4] seinen Vortrag für Funfzig Drachmen gehört, den man, wie er behauptet, nur zu hören braucht um hierüber vollständig unterrichtet zu sein, dann sollte dir nichts im Wege stehen sogleich das Wahre über die Richtigkeit der Benennungen zu erfahren. Nun aber habe ich ihn nicht gehört, sondern nur den für Eine Drachme, also weiß ich nicht, wie es sich eigentlich mit dieser Sache verhält. Gemeinschaftlich jedoch mit dir und dem Kratylos sie zu untersuchen bin ich gern bereit. [...] (384)

Bei der Untersuchung, worin die natürliche Richtigkeit der Wörter besteht

Dabei kurz davor wieder die typisch sokratische Aussage

Sokrates: Die richtigste Überlegung, Freund, ist die man mit den sachverständigen anstellt, denen man Geld dafür zahlt, und noch Dank dazu weiß. Dies sind aber die Sophisten, denen auch dein Bruder Kallias soviel Geld eingebracht, dass er nun wohl für weise gilt. Da du nun nicht im Besitz des väterlichen Vermögens bist, so musst du deinem Bruder schön tun, und ihn bitten, dass er dich lehre, was hierin richtig ist, wie er es vom Protagoras gelernt hat. (391)

Sokrates: Ich du guter Hermogenes, weiß ja von gar keiner [Richtigkeit der Wörter, S.B.], sondern du hast vergessen was ich nur eben noch sagte, dass ich es nicht wüsste, aber es wohl mit dir untersuchen wollte. [...] (391)

Kritik an Protagoras

die Frage der Subjektivierung und Objektivierung des Seins (385-386)

2. Untersuchung der Konventionsthese

2.0 Hermogenes’ Gedankenfehler: Anordnung/Vertrag/Übereinkunft basiert auf Willkür

Hermogenes Gedankenfehler: schwammiger Konventionsbegriff:

Übereinkunft und Vertrag nicht vermittels Gebrauch durch Sprachgemeinschaft, sondern staatliche Satzung oder schlicht Arbitrarität des Einzelnen, wobei sowohl offizielle als auch individueller Willkür nebeneinander existieren können

Hermogenes: [...] kein Name keines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen.

Sokrates: Nenne es nun ein Einzelner so, oder auch der Staat?

Hermogenes: Das behaupte ich. (384-385)

Hermogenes: Ich wenigstens, Sokrates, weiß von keiner andern Richtigkeit der Benennungen als von dieser, dass ich jedes Ding mit einem andern Namen benennen kann, den ich ihm beigelegt habe, und du wieder mit einem andern, den du. Und so sehe ich auch, dass für dieselbe Sache bisweilen einzelne Städte ihr eigenes eingeführtes Wort haben, und Hellenen ein anderes als andere Hellenen, und Hellenen auch wiederum andere als Barbaren. (385)

2.1 Erste Voraussetzung für die Untersuchung: die Unterscheidung von wahrer und falscher Rede

Erste, ohne große Beweisführung akzeptierte Voraussetzung für die Untersuchung: die Unterscheidung von wahrer und falscher Rede (die Argumentation dafür wird erst durch die Präzisierung des Nachahmungsprinzips im Kratylos-Teil angegeben). Nebenbei wird das Wort als der kleinste Redeteil identifiziert.

Die wahre Rede gibt das wahre Wesen der Dinge wieder.

Sokrates: Wohlan sage mir dies. Nennst du etwas wahr reden, und etwas falsch?

Hermogenes: O ja.

Sokrates: Also wäre auch eine Rede wahr und eine andere falsch?

Hermogenes: Freilich.

Sokrates: Und nicht wahr, die von den Dingen aussagt was sie sind ist wahr, die aber, was sie nicht sind, ist falsch?

Hermogenes: Ja.

Sokrates: Also findet dieses doch Statt, durch eine Rede aussagen was ist, und auch was nicht ist?

Hermogenes: Allerdings. (385)

Das Wort als der kleinste Redeteil kann ebenfalls wahr oder falsch sein. Also bezeichnen wahre Wörter das wahre Wesen der Dinge. Man erkennt hier bereits, dass Sokrates gegen die Willkür argumentieren will

Sokrates: Die wahre Rede aber, ist die zwar ganz wahr, ihre Teile aber nicht wahr?

Hermogenes: Nein, sondern auch ihre Teile.

Sokrates: Und sind etwa nur die größeren Teile wahr, die kleineren aber nicht? oder alle?

Hermogenes: Alle, denke ich doch.

Sokrates: Und kannst du wohl einen kleineren Teil einer Rede sagen als ein Wort?

Hermogenes: Nein, dies ist das kleinste. (385)

2.2 Zweite Voraussetzung für die Untersuchung: die Objektivierbarkeit allen Seins

Zweite, ebenfalls nicht weiter diskutierte, sondern einfach behauptete Voraussetzung: die Objektivierbarkeit allen Seins, das jeder menschlichen Wahrnehmung apriorisch ist

Kritik an Protagoras’ Sensualismus und Subjektivismus[5]...

Sokrates: Wohlan lass uns sehen, Hermogenes ob dir vorkommt, dass es auch mit den Dingen eben so steht, dass ihr Sein und Wesen für jeden besonders ist, wie Protagoras meinte, wenn er sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, dass also die Dinge, wie sie mir erscheinen, so auch für mich wirklich sind, und wiederum wie dir, so auch für dich? Oder dünkt dich dass sie in sich eine Beständigkeit ihres Wesens haben?

Hermogenes: Ich bin wohl sonst schon in der Verlegenheit auch dahin geraten, Sokrates, auf dasselbe, was auch Protagoras sagt; ganz und gar so glaube ich jedoch nicht, dass es sich verhalte. (385-386)

...und an Euthydemos’ Gleichgültigkeit der menschlichen Wahrnehmung[6]

Sokrates: Aber auch nicht mit dem Euthydemos, denke ich, hältst du es, dass Allen Alles auf gleiche Weise zugleich und immer zukommt. [...]

Hermogenes: Ganz recht. (386)

Das wahre Wesen der Dinge ist eine objektivierbare, weil naturgegebene, von der menschlichen Wahrnehmung unabhängige Realität. Dieser Apriorismus wird als Argument gegen die Willkür verwendet

Sokrates: Also wenn weder Allen Alles auf gleiche Weise zugleich und immer zukommt, noch auch jedes Ding für Jeden auf eine besondere Weise da ist: so ist offenbar, dass die Dinge an und für sich ihr eignes bestehendes Wesen haben, und nicht nur je nachdem wir sind, oder von uns hin und her gezogen nach unserer Einbildung, sondern für sich bestehend, je nach ihrem eigenen Wesen seiend wie sie geartet sind. (386)

2.3 Einführung des Werkzeugmodells

Nicht nur die Dinge, sondern auch ihre Handlungen besitzen ein wahres Wesen, das nicht von der Willkür des Menschen abhängt

Sokrates: Also auch die Handlungen gehen nach ihrer eigenen Natur vor sich, und nicht nach unserer Vorstellung. Wie wenn wir unternehmen etwas zu schneiden, teilen, sollen wir dann jedes schneiden wie wir wollen und womit wir wollen? oder werden wir nur dann, wenn wir jedes nach der Natur des Schneidens und Geschnittenwerdens, und mit dem ihm angemessenen schneiden wollen, nur dann es wirklich schneiden und auch einen Vorteil davon haben, und die Handlung recht verrichten, wenn aber gegen die Natur, dann es verfehlen und nichts ausrichten?

Hermogenes: So dünkt es mich. (387)

2.4 System Sprache vs. Handlung Sprechen; kognitive vs. kommunikative Funktion von Sprache

Nicht das System Sprache sondern die Handlung Sprechen wird der Untersuchung zugrundegelegt. Die Handlung Sprechen ist vorwiegend die Handlung Benennen. Das Werkzeug des Benennens ist das Wort. Zweck des Benennens ist die Kognition: der kognitiven Funktion von Sprache wird ihre kommunikative unterordnet

Auch das Reden ist eine Handlung mit einer ihr eigenem, wahren, von Natur gegebenen Wesen,

Sokrates: Ist nun auch das Reden eine Handlung?

Hermogenes: Ja.

Sokrates: [...] [Richtig reden kann man also nur] vermittelst dessen, wie es der Natur des Sprechens und Gesprochenwerdens angemessen ist [...]. (387)

Die Rede besteht aus Benennungen, also ist auch das Benennen eine Handlung mit einer ihr eigenem, wahren, von Natur gegebenen, nicht der Willkür ausgesetzten Wesen

Sokrates: Und ein Teil des Redens ist doch das Benennen. Denn durch Benennung besteht jede Rede?

Hermogenes: Freilich.

[...]

Sokrates: Also auch benennen muss man so, und vermittelst dessen, wie es in der Natur des Benennens und Benanntwerdens der Dinge ist, nicht aber so wie wir etwa jedes Mal möchten, wenn uns anders dies mit dem vorigen übereinstimmen soll, und nur so werden wir etwas davon haben und wirklich benennen [...] (387)

Das Wort ist das Werkzeug, vermittelst dessen man benennen kann

Sokrates: Was ist nun jenes, womit man bohren muss ?

Hermogenes: Der Bohrer.

[...]

Sokrates: Und wie, womit benennen?

Hermogenes: Das Wort.

Sokrates: Richtig. Ein Werkzeug ist also auch das Wort. (388)

Sinn des Benennens ist die Belehrung: kognitive Funktion von Sprache, wobei die kommunikative Funktion unterordnet erscheint

Sokrates: [...] Indem wir mit dem Wort als Werkzeug benennen, was tun wir?

Hermogenes: Das weiß ich nicht zu sagen.

Sokrates: Lehren wir etwa einander etwas, und sondern die Gegenstände von einander, je nachdem sie beschaffen sind?

Hermogenes: Allerdings.

Sokrates: Das Wort ist also ein belehrendes Werkzeug, und ein das Wesen unterscheidendes und sonderndes, wie die Weberlade das Gewebe sondert. (388)

2.5 Unterscheidung zwischen dem Dialektiker und dem Gesetzgeber

Unterscheidung zwischen dem Belehrenden bzw. Lehrkünstler bzw. Dialektiker, der das Wort gebraucht, und dem Gesetzgeber bzw. Wortbildner - oder auch einfach dem Benennenden, wie es in späterer Stelle auch heißt (424) –, der es einführt

Der Lehrkünstler bzw. Dialektiker, der die Wörter mit dem Sinn der Belehrung gebraucht, ist zwar nicht deren Entdecker, aber derjenige, der bestens geeignet ist, die Kunst des Gesetzgebers zu beurteilen

Sokrates: Der Weberkünstler also wird die Lade recht zu gebrauchen wissen, recht aber heißt weberkünstlerisch. Und ein Lehrkünstler das Wort, und recht heißt lehrkünstlerisch. (388)

Sokrates: Wer aber könnte am besten über dieses Geschäft des Gesetzgebers die Aufsicht führen und seine Arbeit beurteilen, hier sowohl als unter den Barbaren? Nicht der, der sie auch gebrauchen soll?

Hermogenes: Ja.

Sokrates: Ist das nun nicht der, welcher zu fragen versteht?

Hermogenes: Allerdings.

Sokrates: Und derselbe doch auch zu antworten?

Hermogenes: Ja.

Sokrates: Und der zu fragen und zu antworten versteht, nennst Du den anders als Dialektiker?

Hermogenes: Nein, sondern so. (390)

Widerlegung der Arbitraritätsthese durch die einmalige Kunstfertigkeit eines Wortbildners...

Sokrates: Also, o Hermogenes, kommt es nicht Jedem zu, Worte einzuführen, sondern nur einem besonderen Wortbildner. Und dieser ist, wie es scheint, der Gesetzgeber, von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste. (388)

... zumal seine Arbeit unter der Aufsicht des Dialektikers steht [in dem nebenstehenden Zitat ist dieser Zusammenhang nicht eindeutig, die Passage gehört aber zu der über den Dialektiker

Sokrates: Also mag es doch wohl nichts so geringes sein, wie du glaubst, Hermogenes, Worte zu bilden und Benennungen festzusetzen, auch nicht schlechter Leute Sache oder des ersten besten; sondern Kratylos hat Recht, wenn er sagt, die Benennungen kämen den Dingen von Natur zu, und nicht jeder sei ein Meister im Wortbilden, sondern nur der, welcher auf die einem jeden von Natur eigene Benennung achtend, ihre Art und Eigenschaft in die Buchstaben und Silben hineinzulegen versteht. (390)

Auch wenn dieses im etymologischen Teil ironisiert zu werden scheint

Sokrates: Es mögen wohl, mein guter Hermogenes, die ersten, welche Namen festgesetzt haben, gar nicht gemeine Leute gewesen sein, sondern von den Himmelskundigen und Hochfliegenden welche. (401)

Führt Sokrates durch den Gesetzgeber den Begriff der Konventionalisierung ein? Das könnte ein Hinweis für die Vereinbarung beider Thesen

Sokrates: Dünkt es dich nicht der Gebrauch und die eingeführte Ordnung zu sein, was sie [=die Wörter, S.B.] uns überliefert?

Hermogenes: Das scheint wohl.

Sokrates: Es ist also ein Werk dessen der die Gebräuche einrichtet, des Gesetzgebers, dessen jener Belehrende sich bedient, wenn er sich der Worte bedient?

Hermogenes: So scheint es mir. (388)

Aber der Wortbildner ist für Sokrates genauso ein (als Individuum bzw. als Gattung zu verstehender?) Künstler wie der Tischler, der die Weberlade baut, bloß ein seltener Künstler.

Sokrates: Und meinst du, dass Jedermann ein Gesetzgeber ist, oder nur der die Kunst inne hat?

Hermogenes: Der die Kunst inne hat.

[...]

Sokrates: [...] Und dieser ist, wie es scheint, der Gesetzgeber, von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste. (388)

Siehe auch im Kratylos-Teil folgende rhetorische Frage, durch die Sokrates die Annahme einführen will, es gebe richtige und unrichtige Benennungen (s.u.)

Sokrates: Wollen wir nun zugeben, dass auch diese Kunst [d.i. die Namengebung, S.B.] auf dieselbige Weise unter den Menschen besteht wie auch die übrigen, oder nicht? Ich will nämlich sagen, Maler gibt es doch einige bessere, andere schlechtere? (428-429)

Ist der Gesetzgeber bzw. Wortbildner ein Gott? Bzw. wäre der göttliche Sprachursprung neben der menschlichen Erklärung denkbar, zumindest was die Namen von apriorisch verstandenen Gattungen angeht?

Sokrates: [...] Dergleichen [d.h. die Untersuchung von Menschen- und Heldennamen, S.B.], denke ich, müssen wir bei Seite lassen, und vermuten, dass wir das richtige vornehmlich bei demjenigen finden werden, was immer da ist und in der Natur fortbesteht; denn hierauf muss sich doch wohl die Bildung der Namen am meisten befleißiget haben, und vielleicht sind auch einige con diesen durch eine göttlichere, als der Menschen Kraft festgesetzt worden. (397)

Die Götter werden jedenfalls scheinbar als den Menschen überlegen dargestellt in Sache Bennennen, wenn es um apriorisch verstandene Größen geht.

Sokrates: An gar vielen Orten [sagt Homeros von der Richtigkeit der Benennungen], vorzüglich aber und am schönsten da wo er an denselbigen Dingen unterscheidet, welche Namen die Menschen ihnen beilegen und welche die Götter. [...] Denn offenbar werden doch die Götter wohl vollkommen richtig mit den Wörtern benennen, die es von Natur sind. [...] (391)

[In der zitierten Stelle ist allerdings nicht von Gattungen, sondern von mythologischen Figuren die Rede. Hier fängt Sokrates nämlich seine etymologisch basierte Theogonie an (s.u.)]

Sokrates: [...] dass wir nämlich von den Göttern nichts wissen, weder von ihnen selbst noch von ihren Namen, wie sie sich unter einander nennen. Denn offenbar werden sie selbst sich richtig benennen. [...] (400)

Ein göttlicher Sprachursprung wird allerdings in späterer Stelle als Ausrede entlarvt

[Im Zusammenhang mit den Urwörtern, 425-426)

Unter den Menschen werden wiederum die Männer den Frauen als überlegen dargestellt in Sache Bennennen, und zwar weil den Ersteren größere Vernunft zugeschrieben wird.

Oder ist es auch Ironie?

Sokrates: [...] Wenn dich jemand fragte: Wer glaubst du wohl kann richtiger Namen beilegen, die Vernünftigeren oder die Unvernünftigeren?

Hermogenes: Offenbar die Vernünftigeren, würde ich sagen.

Sokrates: Scheinen dir nun wohl die Weiber die Vernünftigeren in der Stadt zu sein oder die Männer, wenn man es so im Allgemeinen sagen soll?

Hermogenes: Die Männer. (392)

2.6 Zusammenfassung: platonische Ideenlehre, Werkzeugmodell und Sprache

Zusammenfassung: die platonische Ideenlehre, das Werkzeugmodell, die Sprache und die Erklärung, worin die einmalige Kunstfertigkeit des Wortbildners besteht

Werkzeuge und die Ideenlehre: die Gegenstände der realen Welt sind nur Erscheinungen von absoluten, wahren, apriorischen, naturgegebenen Formen oder Ideen. Was kein Platz für die Willkür der menschlichen Wahrnehmung lässt

Sokrates: Also wenn für dichtes Zeug oder für klares, für leinenes oder für wollenes, oder wofür sonst eine Weberlade zu machen ist: so müssten diese insgesamt das Bild der Weberlade in sich haben, wie sie aber nun für jedes insbesondere am besten geeignet wäre, diese Eigenschaft müsste ebenfalls in jedes Werk hineingelegt werden. (389)

Einige Zeilen weiter oben sagt Sokrates:

Jenes [Bild] also könnten wir mit Recht die wahre Weberlade nennen, das was sie wirklich ist. (389)

Sokrates: Und mit allen anderen Werkzeugen auf die nämliche Weise. Das seiner Natur nach jedem angemessene Werkzeug muss man ausgefunden haben, und dann in dem niederlegen, woraus das Werk so gemacht werden soll, nicht wie es Jedem einfällt, sondern wie es die Natur mit sich bringt. (389)

Nochmalige Widerlegung der Arbitraritätsthese durch die Erklärung, worin die einmalige Kunstfertigkeit des Wortbildners besteht: Nur er ist in der Lage, apriorische Ideen zu erkennen und die ihnen entsprechenden Dinge ihrer Natur gemäß zu benennen

Sokrates: Also, Bester, muss wohl auch den für jedes seiner Art nach gearteten Namen jener Gesetzgeber wissen in den Tönen und Silben niederzulegen, und so indem er auf jenes sieht, was das Wort wirklich ist, alle Worte machen und bilden, wenn er ein tüchtiger Bildner der Wörter sein will. [...] (389)

Hermogenes kann nichts entgegensetzen, auch wenn er nicht ganz überzeugt ist. Er leitet aber mit seiner Neugier nach der natürlichen Richtigkeit der Wörter in den etymologisierenden Teil des Dialogs ein

Hermogenes: Ich weiß freilich nicht, Sokrates, wie ich dem, was du sagst, widersprechen soll. Es mag aber wohl nicht leicht sein, auf diese Art so schnell überzeugt zu werden, allein ich glaube, so würde ich leichter überzeugt werden, wenn du mir zeigtest, worin denn jene natürliche Richtigkeit der Benennungen bestehen soll. (390-391)

3. Der etymologisierende Teil des Dialogs: Untersuchung der natürlichen Richtigkeit der Benennungen

Worin besteht denn nun die natürliche Richtigkeit der Wörter? Sokrates’/Platons Antwort ist eine etymologisierende. Es handelt sich dabei selbstverständlich nicht um eine wissenschaftliche Etymologie, sondern eher um eine phonologische. Dieser etymologisierende Teil des Kratylos nimmt mehr als die Hälfte des Dialogs.

3.1 Eigennamen und Appellativa

3.1.1 Eigennamen

Die Etymologisierung wird bereits eingangs angedeutet...

[siehe weiter unten eine weitere Deutung des Namens des Hermes]

Sokrates: [...] Dass er [Kratylos, S.B.] aber leugnet Hermogenes sei in Wahrheit dein Namen, damit merke ich beinahe dass er spöttelt. Denn er meint wohl gar du möchtest gern reich werden aber gar nicht wie vom Hermes abstammend, verfehltest du es immer.“ (384)

... und hier ausführlicher entwickelt.

Beispiele sucht er zunächst in Eigennamen und zwar lieber bei den Dichtern, v.a. bei Homeros[7] oder Hesiodos[8], und in der Mythologie, als bei den Sophisten (s.o. Kritiken an den Sophisten)

[Es ist von Hektor und seinem Sohn Astyanax die Rede]

Sokrates: [...] Denn Anax, Herr, und Hektor, Inhaber, bedeuten fast dasselbe, und scheinen beides königliche Namen zu sein. Denn worüber einer Herr ist, davon ist er auch Inhaber; denn offenbar beherrscht er es und besitzt es und hat es. Oder scheine ich dir nichts zu sagen und täusche mich, indem ich glaube die Spur ausgefunden zuhaben von Homeros Meinung über die Richtigkeit der Benennungen?

Hermogenes: Nein, beim Zeus, das nicht, wie mich dünkt, sondern du hast wahrscheinlich wohl etwas gefunden. (393)

Sokrates/Plato stellt dabei in einer ersten Runde eine etymologische Theogonie anhand der männlicher Linie von Orestes ausgehend und bis hin zu Uranos

Siehe in diesem Dokument zitierte Beispiele Orestes, Agamemnon, Atreus.

Weitere hier nicht ausführlich behandelte Beispiele sind: Pelops, Tantalos, Zeus, Kronos, Uranos.

(394-397)

Nach einem Exkurs zu Appellativa (s.u.) kehrt er auf Wunsch von Hermogenes zu Götternamen zurück, wobei auch Göttinnen behandelt und die Theogonie ergänzt werden

Siehe in diesem Dokument zitierte Beispiele: Hestia, Rhea, Okeanos, Thetys, Poseidon, Hera, Persephone oder Pherrhephatta, Appollon, Leto, Athene, Hermes

Weitere hier nicht ausführlich behandelte Beispiele sind: Pluton oder Hades, Demeter, die Musen, Artemis, Dionysos, Aphrodite, Hephaistos, Ares, Iris, Pan(401-408)

[...]


[1] Schleiermacher: 21.11.1768-12.2.1834. Evang. Theologe und Philosoph, gehörte dem Kreis der Romantiker, befreundet mit den Schlegels u.a. Einflüsse: Fichte, Spinoza, Schelling. Ethik als Entfaltung der menschlichen Vernunft in der Geschichte. Religion als Anschauung des Universums; neben dem Begriff des Universums tritt der Begriff der menschlichen Individualität. Befreiung der Christologie aus den grenzen theologischer Begriffsbildung: Christ als der „Mensch an sich“, die göttliche Idee des Menschen. Pantheistisch intendierter Gottesbegriff. Ableitung des Religionsbegriffs aus der Psychologie. Platon-Übersetzung (1. Aufl.: 5 Bde., 1804-1810) bis heute klassisch.

[2] Sokrates: 470-399 v. Chr.

[3] Platon: 427-347 v.Chr.

[4] Prodikos: griech. Sophist, Zeitgenosse des Sokrates, Verfasser der Erzählung Herakles am Scheidewege. Anklang fanden auch seine rationalistische Deutungen des Götterglaubens sowie seine Studien zur Synonymik.

[5] Protagoras (etwa 485 – etwa 415): der bedeutendste der Sophisten, wurde in Athen wegen Gottlosigkeit verurteilt, ertrank auf der Flucht. Er lehrte die Abhängigkeit aller Wahrnehmungen von den menschlichen Sinnen. Sein Satz: „Der Mensch ist der Maß aller Dinge“ wurde von Platon in den Dialogen Protagoras und Theätet kritisiert.

[6] [6] Euthydemos: ein Dialog Platos.

[7] Homeros: Ende des 8. Jhs. v. Chr.

[8] Hesiodos: um 700 v.Chr., schrieb Theogonie, eine Dichtung über die Abstammung der Götter und Entstehung der Welt

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Platons Kratylos - Exzerpte
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Romanistik)
Veranstaltung
Projektutorium Ein Abriss der Geschichte des Sprachdenkens seit der Antike bis Ende des 20. Jahrhunderts
Note
-keine Benotung-
Autor
Jahr
1999
Seiten
45
Katalognummer
V12082
ISBN (eBook)
9783638180689
Dateigröße
784 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Sehr dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand.
Schlagworte
Sprachphilosophie, Natürlichkeitsthese, Konventionsthese
Arbeit zitieren
Suzie Bartsch (Autor:in), 1999, Platons Kratylos - Exzerpte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12082

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