Ellernklipp - Nach einem Harzer Kirchenbuch


Klassiker, 2009

96 Seiten

Theodor Fontane (Autor:in)


Leseprobe


Inhalt

Erstes Kapitel
Hilde kommt in des Heidereiters Haus

Zweites Kapitel
Hilde spielt

Drittes Kapitel
Hilde hat einen Willen

Viertes Kapitel
Hilde kommt in die Schule

Fünftes Kapitel
Hilde wird eingesegnet

Sechstes Kapitel
Hilde schläft am Waldesrand

Siebentes Kapitel
Hilde flicht eine Girlande

Achtes Kapitel
Hilde bei Melcher Harms

Neuntes Kapitel
Des Heidereiters Geburtstagabend

Zehntes Kapitel
Sonntag früh

Elftes Kapitel
Der Heidereiter horcht

Zwölftes Kapitel
Auf Ellernklipp

Dreizehntes Kapitel
Im Elsbruch

Vierzehntes Kapitel
Drei Jahre später

Fünfzehntes Kapitel
Das kranke Kind

Sechzehntes Kapitel
Eine Fahrt nach Ilseburg

Siebzehntes Kapitel
Wieder auf Ellernklipp

Achtzehntes Kapitel
Ewig und unwandelbar ist das Gesetz

Erstes Kapitel

Hilde kommt in des Heidereiters Haus

In einem der nördlichen Harztäler, in Nähe der Stelle, wo das Emmetal in das flache Vorland ausmündet, lagen in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Dorf und Schloß Emmerode; jenseits des Dorfes aber, einige hundert Schritte weiter talaufwärts, wurd ein einzelnstehendes, hart in die Bergwand eingebautes Haus sichtbar, das in seiner Front ein paar Steinstufen und eine Vorlaube von wildem Wein und über der Tür ein Hirschgeweih zeigte. Hier wohnte Baltzer Bocholt, ein Westfälinger, der in jungen Jahren in Kur-Trier als Soldat gedient hatte, späterhin aber nach Emmerode gekommen und um seiner guten Führung willen erst ein gräflicher Heidereiter und einige Jahre später, durch Heirat mit des alten Erbschulzen Aleswant einziger Tochter, ein über seinen Stand hinaus vermöglicher Mann geworden war. Er hatte nun Haus und Hof und Amt und Frau, dazu den Respekt in Dorf und Schloß, und ging stolz und aufrecht einher und freute sich seines Glückes, bis er nach einer elfjährigen friedfertigen Ehe zum ersten Male den Unbestand alles Irdischen an sich selbst erfahren mußte. Die Frau starb ihm plötzlich und ruhte jetzt – seit zwei Monaten erst – an der Berglehne drüben, die, dreifach abgestuft, auf ihrer untersten Stufe den von Mauer und Stechpalmen umfaßten Kirchhof, auf ihrer mittleren die kleine Kapellenkirche zum Heiligen Geist und auf ihrer höchsten das zacken- und giebelreiche Schloß der alten Grafen von Emmerode trug.

Es war im September und der Heidereiter eben von Ilseburg zurück, wohin er sich, um ein eisernes Gitter für das Grab seiner Frau zu bestellen, in aller Frühe schon begeben hatte, als er Pastor Sörgels alte Doris über die Straße kommen und gleich darauf in den Flur seines Hauses eintreten sah.

»Nun, Doris, was gibt's?«

»'nen Brief vom Herrn Pastor.«

Und der Heidereiter, der noch in seinem Staatsrock war und eben erst Miene machte, den Hirschfänger abzulegen, nahm ihr den Brief ab und las ihn, nachdem er sich mit einem Anfluge von Wichtigkeit ans Fenster gestellt hatte. »Die Muthe Rochussen ist diese Nacht gestorben, und ihr Kind ist bei mir. Ich wünsche mit Euch vertraulich darüber zu sprechen und sehe demnächst Eurem Besuch entgegen.«

Baltzer Bocholt klappte das Papier wieder zusammen und ließ mit seinem »ergebensten Empfehl« zurücksagen, daß er sich gleich die Ehre geben und vor Seiner Ehrwürden erscheinen würde, bei welchem Titel, als ob ihr derselbe mit gegolten hätte, Doris einen Dankesknicks vor dem Heidereiter machte. Dieser aber sah ihr nach und beobachtete von seinem Fenster aus, wie sie, statt über den Brückensteg, über die sechs Steine ging, die durch den Bach gelegt waren, und eine Minute später in dem Vorgarten der halb schon unter den Kirchhofsbäumen versteckten Pfarre verschwand.

Inzwischen hatte des Heidereiters Magd oder, um ihr ihre volle Ehre zu geben, die stattliche Person von über dreißig, die seit dem Tode der Frau dem Hauswesen vorstand, ein Frühstück aufgetragen. Aber Baltzer Bocholt setzte sich nicht, weil ihn der Brief doch unruhig oder neugierig gemacht hatte, und keine halbe Stunde, so ging er auf die Pfarre zu, strich gewohnheitsmäßig über das große runde Kratzeisen hin, trotzdem seine Sohlen so sauber und trocken waren wie der Weg, den er gekommen, und trat in den Flur.

Und gleich darauf auch in die Studierstube des Pastors Sörgel.

Er war oft in dieser Stube gewesen, und der Friede, der darin weilte, hatte mehr als einmal zu seinem Herzen gesprochen. Aber doch nie so wie heute. Die Wanduhr ging, und die dicke Schwanenfeder kritzelte hörbar über das Papier; in die Nähe des Fensters aber war ein Schemelchen gerückt, auf dem ein Kind saß, das in einer großen Bilderbibel blätterte.

Der Alte legte die Feder nieder, reichte dem Heidereiter die Hand und sagte zu dem Kinde: »Hilde, du kannst nun in den Garten gehen und dir pflücken, was du willst. Und kannst auch die Bibel mitnehmen. Aber sei vorsichtig und mache keinen Fleck.«

Das Kind tat, wie ihm geheißen, und nur die Bibel ließ es zurück. Nicht aus Trotz, wohl aber aus Respekt.

»Lieber Bocholt«, nahm der Geistliche das Wort, als Hilde gegangen war, »ich hab Euch rufen lassen. Ihr wißt, was es mit der Muthe war, aber ich denke, wir geben ihr ein gutes und ordentliches Begräbnis und fragen nicht erst lange.«

Baltzer nickte zustimmend.

»Aber«, so fuhr der Alte fort, »da haben wir nun die Hilde. Wohin mit ihr? Ihr kennt die Gräfin und wißt, wie's drüben steht, oder sagen wir, wie's im Herzen der Gnädigen aussieht; ihr Stolz wird größer sein als ihr Mitleid, und sie wird ihre Hand abziehen und sich's zurechtlegen in ihrem Gewissen. Denn es gibt immer Gründe für das, was wir wünschen... Aber Ihr, Baltzer Bocholt, Ihr wäret der Mann. Ihr könntet's! Und es wär ein christlich Werk.«

»Es fehlt die Frau, Herr Pastor. Eben komm ich von Ilseburg und habe das Gitter bestellt.«

»Es fehlt die Frau. Wohl. Aber sie wird Euch nicht immer fehlen. Ihr seid noch rüstig und werdet drüber hinkommen; und das weiß ich, es sind ihrer viele...«

»Glaub's nicht, Ehrwürden.«

»Und wenn nicht, so seid Ihr der Mann, der mit einem Blick besser erzieht als drei Frauen... Aber seht nur«, und er wies auf das Kind, das draußen zwischen den schon hoch in Samen geschossenen Spargelbeeten stand und dem Spiel zweier Schmetterlinge mit den Augen folgte.

Der Heidereiter freute sich ersichtlich des Anblicks und sagte nach einer Weile: »Gut. Ich will es bedenken.«

»Und was Ihr beschließt, das soll mir gelten; denn ich kenn Euch und weiß, es wird das Rechte sein. – Aber nun kommt, daß wir nach der Muthe sehen.«

Und er klatschte zweimal in die Hand und rief dem Kinde vom Fenster aus zu: »Wir wollen gehen, Hilde! Nimm dein Tuch!«

Und gleich danach schritten alle drei quer über das Tal auf einen langen und ziemlich hohen Heckenzaun zu, der, neben dem Gehöfte des Heidereiters ansteigend, erst auf den Wiesen- und Weidegrund der »Sieben-Morgen« und dann immer höher hinauf auf eine weitgestreckte, mit Ginster und Heidekraut bestandene Hochfläche führte, die »Kunerts-Kamp« hieß und nach hinten zu mit einem anscheinend endlosen Tannenwalde schloß. An dem Punkte aber, wo Kamp und Wald sich ineinanderschoben und ein Eck bildeten, stand das kleine weißgetünchte Haus der Muthe Rochussen, einer armen Holzschlägerswitwe.

Hilde war eine gute Strecke zurückgeblieben, um Gräser und Blumen zu pflücken, und erst als Sörgel und der Heidereiter bis dicht an den Zaun heran waren, der das weiße Häuschen von drei Seiten her einfaßte, beeilte sie sich, wieder in die Nähe beider zu kommen. Und nun schob sie, die kleine Hand durch das Gitter zwängend, einen Holzriegel von innen her zurück und lief über den Hof hin auf die mit Tannenzweigen bestreute, zugleich als Küche dienende Diele, daran die beiden einzigen Stuben des Hauses gelegen waren. Und nun öffnete sie die vorderste derselben und trat zurück, um die beiden Männer eintreten zu lassen.

Diese blieben jedoch, einen Augenblick wenigstens, wie betroffen stehen, denn was sie sahen, war mehr ein Begräbnis- als ein Sterbezimmer. Alles Unschöne war wie vorweg aus dem Wege geräumt. Unter einer aus bunten Zeugstücken sauber zusammengesteppten Decke lag die Tote, das dunkle Haar gescheitelt und eine Kette von Bernsteinkugeln um den Hals, daran ein flammendes Herz hing. Ihre Linke hielt die gesteppte Decke fest und ließ für jeden, der eintrat, gleich auf den ersten Blick einen Schlangenring am vierten Finger erkennen. Es war ersichtlich, daß sie das Herannahen ihrer letzten Stunde gefühlt und das eitle Verlangen gehabt hatte, nach ihrem Tode noch eine Verwunderung und das Gerede der Leute zu wecken. Und so hatte sie denn das Haus bestellt, sich gekleidet und geschmückt und sich dann niedergelegt und war gestorben. Und ohne Kampf schien sie hinübergegangen zu sein, denn so herb ihre Züge waren, aus jedem sprach es doch wie das Glück einer endlichen Erlösung.

Und nun war auch Hilde herangetreten und hatte die Blumen, die sie draußen auf der Heide gepflückt, über die Mutter ausgestreut. Und sie kniete nieder und küßte die herabhängende Hand. Aber sie weinte nicht und gab kein Zeichen tiefen Schmerzes. Es war vielmehr, als wisse sie nichts Deutliches von Tod und Sterben, und als beide Männer immer noch schwiegen, erhob sie sich und ging auf den Platz hinaus, wo der Brunnen stand und ein paar Leinenstücke zum Bleichen ausgespannt lagen.

Es war stickig in dem Zimmer, und Sörgel, den es von Anfang an nach frischer Luft verlangt hatte, trat ans Fenster, um zu öffnen. Und dabei wurd er auf dem Fensterbrett und fast zu Häupten der Toten eines zierlichen und mit Silber eingelegten Ebenholzkästchens ansichtig, das an dieser ärmlichen Stelle beinahe mehr noch überraschen mußte als der Schmuck, den die Holzschlägerswitwe trug. In dem Kästchen aber lag alles, was diese hinterließ: ein Goldgulden, ein Spezies, ein paar kleinere Münzen und daneben zwei silberne Trauringe, die sie bei Lebzeiten getragen, aber in ihrer Sterbestunde von sich getan hatte.

»Das ist ihr Trauring«, sagte Sörgel und legte den kleineren auf seine flache Hand. »Und das hier ist der von dem Rochussen. Und sind nun elf Jahre, daß sie mit ihm unten vorm Altar stand. Ihr wißt ja, wie's kam und was es war; und sollte was zugedeckt werden. Aber sie hat nicht mit den beiden Ringen wie mit einer Lüge vor ihren Gott hintreten wollen, und ist mir, als ob's eine Beichte wär und ein Bekenntnis. Und nur hoffärtig ist sie geblieben bis an ihr Ende. Denn seht nur, von dem Schlangenringe hat sie nicht lassen wollen, den trägt sie noch, auf daß jeder ihn sehe. Ja, Heidereiter, irr und verworren sind unseres Herzens Wege.«

Der schwieg und sah vor sich hin. Sörgel aber fuhr fort:

»Und auch das hier« – und er wies auf die Münzen – »erzählt mir nur, was ich schon weiß. Sie hat nie gedarbt, arm, wie sie war. Es geschah eben, was geschehen mußte, solange noch wer da war, der den Finger aufheben und sagen konnte: so und nicht anders. Aber das ist nun vorbei seit heute nacht, und die Gnädigste drüben wird sich nicht aus freien Stücken zu dem Enkelkinde bekennen wollen. Es war ihr immer ein Stachel im Fleisch. Und so haben wir von Stund an eine Waise mehr in der Gemeinde.«

»Nicht doch«, sagte Baltzer. »Ich nehme das Kind, und es soll mit meinem Martin zusammengehen. Ja, Pastor, ich will ein Gespann haben, damit fährt sich's besser, und ist dem Jungen gut. Und lieben wird er sie schon, denn's ist ein feines Kind und hat die langen Wimpern und das helle Rothaar – dasselbe, das die drüben haben. Und wer den Toten Blumen streut, der streut sie, denk ich, auch wohl den Lebenden.«

»Ich hoff es«, antwortete Sörgel.

Und danach riefen sie Hilden und sagten ihr, daß sie nun Abschied nehmen müsse. Die war denn auch bereit und stutzte nicht, und nur auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal und lief zurück, um der Toten die Hand zu streicheln. Und nun erst folgte sie den beiden Männern und trat auch ihrerseits und ohne Zeichen tieferer Bewegung ins Freie.

Der Pastor gedachte seinen Weg wieder über Kunerts-Kamp und die Sieben-Morgen zu nehmen, genauso, wie sie gekommen waren; als ihn aber der Heidereiter bedeutet hatte, es sei näher über Diegels Mühle, schlenderten sie gemeinschaftlich an einer tiefen Grenzfurche hin, die von dem kleinen weißen Haus aus bis an den Abfall des Berges führte. Hilde ging vor ihnen her und stemmte, wie sie zu tun liebte, den rechten Arm in die Seite. Das gab ihr einen geraden Gang und machte, daß sie größer aussah, als sie war. Die beiden Männer aber folgten ihr mit den Augen, und Baltzer sagte lächelnd: »Ich werde sie zu hüten haben.«

Eine kurze Strecke noch, und die Grenzfurche bog nach links hin um eine kahle Felswand herum, in deren Front sie sich als mannsbreite Straße fortsetzte. Die Felswand selbst aber hieß Ellernklipp. Ein mittelhoher Brombeerbusch wuchs hier als einzige Schutzlehne hart am Abgrund hin, und der alte Sörgel, indem er sich an dem Gezweige festhielt, sah in freudiger Bewegung in das Landschaftsbild hinein, das ihm heut, unter dem Einfluß einer besonderen Beleuchtung, als etwas Neues und Niegesehenes erschien. In den Fenstern des Schlosses stand die Vormittagssonne, weiter unten blinkte der Wetterhahn auf der Schindelspitze des Turmes, und von rechts her, unter Erlen halb verborgen, flimmerte das Schieferdach von Diegels Mühle herauf.

»Ich muß nun da hinein«, sagte der Heidereiter und zeigte halb rückwärts auf den Wald. »Und dies ist der Weg, der nach der Mühle führt. Ehrwürden sehen den Haselbusch, und wenn Sie den haben, schlängelt sich's allmählich bergab. Aber immer rechts. Nach links hin geht's in den Elsbruch und ist steil und abschüssig, und wer fehltritt, ist kein Halten mehr. Und du, Hilde, gehst vorauf und suchst Ehrwürden die besten Stellen.«

Und sie ging vorauf und wartete nur dann und wann, bis der Alte, den sie führen sollte, wieder heran war. In diesem aber klang es nach, was der Heidereiter in der Muthe Haus oben gesprochen hatte: »Wer den Toten Blumen streut, der streut sie, denk ich, auch wohl den Lebenden.« Und er wiederholte sich jedes Wort. »Aber ich fürchte«, fuhr er in leisem Selbstgespräch fort, »sie kennt nicht gut und nicht bös, und darum hab ich sie zu dem Baltzer Bocholt gegeben. Der hat die Zucht und die Strenge, die das Träumen und das Herumfahren austreibt. Und wenn sie Gutes sieht, so wird sie Gutes tun.«

Zweites Kapitel

Hilde spielt

Hilde blieb in der Pfarre bis zum Begräbnis ihrer Mutter, am dritten Tag in aller Frühe. Man läutete nicht, und nur einige Neugierige waren gekommen, darunter auch Dienstleute vom Schloß. Und als nun der alte Sörgel das Gebet gesprochen und der Toten eine Handvoll Erde nachgeworfen hatte, nahm Baltzer Bocholt das Kind an der Hand, um es in seine neue Heimstätte hinüberzuführen. Auf dem Flur, in der Nähe der schmalen Treppe, standen alle Zugehörige des Hauses, und Baltzer, als er sie stehen sah, sagte: »Das ist gut, daß ihr da seid. Sieh, Hilde, dies ist unsere Grissel. Mit der wirst du nun zusammenleben und mußt ihr gehorchen in allen Stücken, als ob ich's selber wär. Und dies ist Joost, unser Knecht, der meint es gut. Nicht wahr, Joost? Und laß dich nur aufs Pferd von ihm setzen, aber immer nur, wenn er Zeit hat, und darfst ihn nicht stören bei seiner Arbeit. Und dies ist unser Martin; der soll nun dein Bruder sein, und ihr sollt euch liebhaben. Wollt ihr? Willst du, Hilde?«

Diese nickte, während Martin schwieg und verlegen vor sich niedersah. Baltzer aber hatte dessen nicht acht und fuhr fort: »Und nun gebt euch die Hand. So. Und jetzt einen Kuß. Und nun, Grissel, führ unser neues Kind in seine Stube hinauf und zeig ihm, wo es wohnt. Und zu Mittag sehen wir uns wieder. Punkt zwölf, auf die Minute. Hörst du! Denn ich bin ein alter Soldat und liebe Pünktlichkeit. Und nun Gott befohlen!«

Danach wandt er sich und ging aus dem Flur in die Vorlaube, während Martin in den Hof lief und Grissel und Hilde treppauf stiegen. Oben waren zwei Giebelstuben, in deren einer Grissel bis dahin allein gewohnt hatte. Die sollte sie jetzt mit Hilde teilen. Es war ein großer, weißgetünchter Raum, in dem aber so vielerlei stand, daß er wenigstens nicht kahl und kalt wirkte. Die Truhen und Schränke waren bunt gestrichen, und in der Nähe des Fensters hing eine Wanduhr, auf deren Zifferblatt ein goldgelber Hahn krähte. Der Pendel ging, ein paar große Fliegen summten, und Grissel sagte: »Sieh, Hilde, hier müssen wir uns nun vertragen. Werden wir? Ich denke doch. Du siehst mir danach aus, als ob jeder mit dir leben könnt und wärst ein gutes Kind und hättest keinen Eigenwillen. Und das ist immer das Beste, keinen eigenen Willen haben. Ich meine so für gewöhnlich, denn mancher hat einen und muß einen haben... Und dies hier ist deine Seite, dein Bett und dein Stuhl, und dieser Rechen ist für dich. Und es darf nichts umherliegen. Die Fenster aber müssen offen sein, denn es lebt sich besser in frischer Luft, und ich weiß nicht, wer sie wieder zugemacht hat. Gewiß unser Joost; der denkt immer: je stickiger, je besser, und will alles warm haben wie seinen Pferdestall.«

Und während sie so sprach, hatte sie das Fenster aufgemacht und eingekettet und winkte Hilden, an dem anderen Fenster ein gleiches zu tun. Und Hilde tat es, und ein Ausdruck von Glück überflog ihre Züge, so sehr gefiel ihr, was sie sah. Unmittelbar unter ihrem Fenster lag der Wirtschaftshof, auf dem die Tauben von einem Dachfirst zum anderen flogen; abwärts am Bach hin, in Entfernung weniger hundert Schritte, stieg der Rauch aus den Dächern des Dorfes, und immer weiter zu Tale dehnte sich das weite, flache Vorland aus und blinkte sonnenbeschienen in allen Herbstesfarben.

In all das sah Hilde hinein und sagte, während sie lang und tief aufatmete: »Hier will ich immer stehen... Ah...! Es ist so weit hier.«

»Ei nun«, lachte Grissel, »das ist gut, daß es dir gefällt. Aber du kannst hier nicht immer stehen. Ein junges Ding wie du, das ist nicht dazu da, bloß in die Welt zu gucken und zu warten, bis das Glück kommt oder der Bräutigam, was eigentlich ein und dasselbe ist. So wenigstens glauben sie. Nein, mein Hildechen, ein junges Ding muß arbeiten; denn bei der Arbeit vergehen einem die dummen Gedanken, und der Böse kann nicht herein, der immer vor der Tür steht... Und nun komm und laß uns in die Küche gehen, daß wir ein Feuer machen und ihm ein Frühstück bringen.«

»Muß ich es ihm bringen?«

»Ja. Da wird er sich freuen. Denn er hat dich gern, und du gefällst ihm. Oder fürchtest du dich vor ihm?«

Sie schwieg und sah vor sich hin. Grissel aber fuhr fort: »Er lacht nicht viel und sieht aus, als ob er bloß brummen und beißen könnt. Aber er ist nicht so schlimm und hat es eigentlich gern, wenn andere lachen. Lache nur und erzähl ihm viel und sei zutulich, und du wirst sehen, er läßt sich um den Finger wickeln. Und so sind alle Mannsleut, und die, die so sauertöpfisch aussehen, just am meisten. Aber das verstehst du noch nicht. Oder verstehst du's? Höre, Hilde, du siehst mir aus, als verständest du's.«

Und dabei lachte Grissel wieder, nahm sie bei der Hand und führte sie treppab in die Küche.

Hilde fand sich schnell in allem zurecht, und den dritten Tag, als Grissel eben den Tisch deckte, sagte der Heidereiter, indem er sich auf seinem Stuhle herumdrehte: »Nun, wie geht es? Ich meine mit der Hilde?«

»Wie soll es gehen! Gut geht es. Es ist ein liebes Kind, still und gehorsam.«

»Das freut mich«, sagte Baltzer, »daß ihr euch vertragt. Aber ich wußt es. Sie hat so was Feines, und ist alles anders. Meinst du nicht auch?«

»I freilich, mein ich. Die Muthe war ja eine feine Person und eigentlich über ihren Stand. Und was ihr Mann war, ich meine den Jörge Rochussen – denn er soll ja doch wirklich ihr Mann gewesen sein, und sie reden ja von zwei Trauringen, die der alte Sörgel oben in einer Schachtel gefunden und mit in die Sakristei genommen hat –, nu, der Jörge, der war ja kohlschwarz und eigentlich noch schwärzer als die Muthe, bloß nicht so kraus. Und davon, denk ich, hat unser Hildechen das rote Haar und ist so was Feines.«

»Höre, Grissel«, entgegnete der Heidereiter, »ich kenne dich und weiß, wo das hinaus soll. Aber ich sage dir, ich will davon nicht hören. Was geschehen ist, ist geschehen, und es muß nun tot sein, so tot wie die Muthe. Die hat alles mit ins Grab genommen, ich meine die Geschichte von drüben, und das Kind ist jetzt ehrlicher Leute Kind, unser Kind, und du wirst den Mund halten. Ich weiß auch, du kannst es, wenn du willst. Denn du bist eine kluge Person, eine rechte Schulmeisters- und Küsterstochter, und hörst das Gras wachsen, geradeso wie der alte Melcher Harms oben, den du nicht leiden kannst. Und warum nicht? danach frag ich nicht, das ist deine Sach. Aber meine Sach ist, daß ich kein Gerede haben will, und soll alles sauber und rein sein in meinem Haus. Und was gewesen ist, ist gewesen. Und dabei bleibt's. Hörst du?«

Grissel, während Baltzer so sprach, hatte das Tischtuch immer wieder und wieder geglättet, trotzdem es längst glatt lag, und sagte nur: »Es ist gut, sie soll nichts hören davon, und im Dorfe redet sich's tot. Aber ihr eigen Blut wird es ihr sagen. Und ich merke schon so was.«

»Unsinn.«

»Ihr müßt ihr bloß nach den Augen sehen, Baltzer, und wie sie so zufallen am hellen lichten Tag. Und ist immer müd und tut nichts; aber mit eins richtet sie sich auf und steht kerzengrad und ist, als ob ihr die Guckerchen aus dem Kopf wollten. Und dann ist es wieder vorbei. Ja, Baltzer, es wird nichts Leichtes sein mit dem Kind.«

»Und was meinst du, was geschehen soll?«

»Allerlei, mein ich. Ich meine, sie muß in die Schul und an die Arbeit. Es ist ja zum Gotterbarmen mit ihr, und kann nichts und weiß nichts, und ist wild aufgewachsen und will immer hinaus. Und wenn sie nicht hinaus will, so will sie schlafen.«

»Ich habe selber schon an Schule gedacht«, antwortete der Heidereiter. »Aber der alte Sörgel will es nicht und meint, es sei noch zu früh, und hat erst von Ostern gesprochen. Und weil ich ja gesagt habe, so muß es bleiben.«

Und es blieb so.

Ein milder Herbst war, stille warme Tage bis tief in den Oktober hinein, und das Vieh, das sonst früh in den Stall kam, wurde immer noch an des Heidereiters Hause vorübergetrieben, um oben auf den Sieben-Morgen seine Weide zu finden.

Die Kühe hatten ein gestimmtes Geläut, und Hilde, wenn sie das Läuten von ferne hörte, lief ihnen entgegen und setzte sich auf den Bankstein in der offenen Vorlaube. Der melancholische Ton der Glocken durchzitterte sie mit einer Sehnsucht weit hinaus, aber diese Sehnsucht in die Weite war ihr Glück. Und zuletzt kam der alte Melcher Harms, den sie schon von früher her kannte, wo sie noch oben auf Kunerts-Kamp zu Hause war. Er trug einen langen Leinenrock mit vielen Knöpfen, wie die Hirten zu tragen pflegen, und immer, wenn er seinen dreikrempigen Hut abnahm, sah man einen großen braunen Kamm, der sein spärliches, aber langes Haar nach hinten zu zusammenhielt. Und um dieses Kammes willen war es, daß er bei den Dorfleuten etwas spöttisch der Kamm-Melcher hieß. Aber Hilde hing an ihm, und allabendlich, wenn er heimkehrte, brachte er ihr einen Strauß mit, den er aus Heidekraut und ein paar verspäteten Erdbeeren zusammengebunden hatte. Dann nahm sie seine Hand und tat Fragen über Fragen, und erst wenn sie mitten im Dorf und die meisten Kühe längst im Stalle waren, entsann sie sich und schlenderte die Kreuz und Quer und von einem Ufer aufs andre bis an ihr Haus und die von wildem Wein überwachsene Vorlaube zurück. Da traf sie sich mit Martin, der ihr in allem zu Willen war, ohne daß sie selber einen rechten Willen gehabt hätte. Aber er erriet ihre Gedanken und handelte danach.

Und so wußt er denn auch bald, daß sie nichts Lieberes tat als Boot und Flotte spielen, und in seinen freien Stunden saß er seitdem in der Geschirr- und Hobelkammer, schnitt Schiffchen aus Holz- und Rindestücken und gab ihnen einen Mast mit einem weißen Segel daran. Und dann setzten sie die Schiffchen ein und sahen ihnen nach. Die meisten kenterten gleich und wurden ans Ufer geworfen, aber zwei hielten sich bis weit hinaus, und sie konnten sie nicht bloß verfolgen, sondern auch deutlich erkennen, wie sie gerad auf den Sonnenball zufuhren, der zwischen dem niederhängenden Gezweige stand und die schäumenden Wellen vergoldete. »Sieh«, sagte Martin, »das sind wir; ich hab unsere Namen drangesteckt, und die scheitern nicht. Und wenn du's nicht glaubst, so komm nur, wir wollen sehen, ob ich nicht recht habe.« Und sie liefen abwärts, um die gekenterten Schiffchen wieder aufzusuchen und danach festzustellen, welche zwei noch flott waren; aber schon das zweite, das zwischen den Steinen lag, war der »Martin«. Er nahm es und erschrak. »Ach, Hilde, dann ist es ein anderes Schiff, das mit dir fährt.« Und eine Träne stand in seinem Auge.

Hilde gab keine Antwort und sah immer nur den beiden Segeln nach, die noch im Abendlichte glänzten, bis endlich das Licht und die Segel verschwunden waren.

Unter solchem Spielen verging der Herbst, und es war fast, als ob der Wetterumschlag nicht kommen wollte. Aber zuletzt kam er doch. Eines Abends hatten sich Grissel und Hilde niedergelegt und kurz vorm Einschlafen beschlossen, am nächsten Tage die Winteräpfel von den Bäumen zu schütteln, da kam ihnen der Sturm zuvor, und noch ehe Mitternacht heran war, wachte Grissel auf und sah zu Hilde hinüber, ob sie noch schliefe. Aber sie saß schon auf, mit gefalteten Händen, und sah in den Vollmond, der hell hereinschien und die ganze Stube mit seinem weißen unheimlichen Lichte füllte. Dabei lief der Sturm, der sein Heulen aufgegeben hatte, pfeifenden Tones und immer rascher um das Haus her und zwängte sich durch alle Ritzen. Und mit einem Male ward es still. »Ist es vorüber?« fragte Hilde von ihrem Bett her. Aber ehe Grissel noch antworten konnte, gab es ein Donnern in den Lüften, und alles dröhnte und schütterte, und Grissel, die sonst Mut hatte, rief mit ängstlicher Stimme: »Duck di, Hilde. Dat is he.« Und Hilde duckte sich und wollte sich unter die Kissen verstecken, aber sie konnte es nicht und sprang auf und setzte sich auf Grissels Bett und sagte: »Was machen wir?« – »Wir beten.« – »Ich kann nicht.« – »Dann sprich es nach.« Und Grissel betete:

»Steh uns bei, Herr Jesus Christ,

Wider Teufels Macht und List;

Dein ist die Kraft und Herrlichkeit

In Ewigkeit. Amen.«

Und »Amen« zitterte Hildens Stimme nach.

Als sich am andern Morgen der Sturm gelegt hatte, kam die Regenzeit. Die dauerte zwei volle Wochen, und es klatschte Tag und Nacht an die Fenster, und die letzten Blätter fielen von den Bäumen und trieben in hundert kleinen Rinnen dem von dem losgewaschenen Erdreich immer trüber werdenden Bache zu. Hilde stand an dem Giebelfenster oben und fror. Und zuletzt warf sie sich aufs Bett, wickelte sich ein und legte die Füße auf den Binsenstuhl. Aber wenn sie dann Grissel auf der Treppe hörte, sprang sie rasch wieder auf, machte Bett und Decke wieder glatt, trat ans Fenster und sah in den Hof hinunter, wo die Hühner unterm Schuppendach saßen und Tiras seinen Kopf immer nur so weit vorstreckte, wie der Dachvorsprung seiner Hütte reichte. Und dann fragte Grissel: »Was machst du, Hilde?«

»Ich friere.«

»Dann komm an den Herd.«

Und darauf wartete Hilde bloß und ging treppab und kauerte sich unter den Herdbogen, wo das kleingemachte Holz lag, und wenn sie da warm geworden, kroch sie wieder heraus und setzte sich auf den Hauklotz. Da hockte sie stundenlang und sah in das Feuer, in das von oben her aus dem Rauchfang einzelne Tropfen zischend niederfielen, und hörte, wie die Katze spann und wie die Sperlinge, die sich naß und hungrig auf das Fensterbrett geflüchtet hatten, ängstlich und traurig zirpten und zwitscherten. Dann jammerte sie der Kreatur, und sie stand auf und öffnete das Fenster und streute Krumen. Und wenn einige zudringlich in die Küche hineinhuschten, dann hielt sie die Katze fest, bis alle wieder über den Flur oder durch den Rauchfang hinaus ins Freie waren.

Das ging so wochenlang, bis eines Morgens der Regen fort war und die Sonne hell ins Fenster blinkte. Denn über Nacht war Winter geworden. Und wie das Wetter, so hatte sich auch die Hilde vertauscht und war froh und frisch und aller Müdigkeit los und ledig. Und Martin sagte: »Komm, ich geh auf die Sieben-Morgen.« Und nicht lange, so stiegen sie den Heckenzaun entlang auf ein Tümpelchen zu, das in der Sommerzeit eine Tränke für das Vieh war. Und weil es tief eingebettet und geschützt vor dem Winde lag, war sein Eis glatt, und Martin sagte: »Nun hucke dich und fasse meinen Rock.« Und im nächsten Augenblicke fuhr er über die Spiegelfläche hin, und sie glitt ihm nach und konnt es nicht müde werden, bis ihr zuletzt die klammen Finger versagten. Aber noch auf dem Heimwege versuchte sie's immer wieder, und als Grissel ihrer ansichtig wurde, wie sie so frisch und rotbäckig war, rief sie verwundert ein Mal über das andere: »Kind, Hilde, du bist es ja gar nicht mehr!«

Und wieder eine Woche später, da trübte sich der Himmel, ohne daß der Frost erheblich gewichen wäre; und als Hilde den dritten Tag aufsah und wie gewöhnlich das Fenster öffnete, siehe, da flog schon ein Schneeball über sie weg und gleich darauf ein zweiter, und Martin rief hinauf: »Aber nun rasch; ich will dich Schlitten fahren.« Und wirklich, ehe noch die Grissel ein Nein oder Ja sagen konnte, war schon die Schleife mit den vier Speichen heraus, und Hilde saß in dem Korbe, einen Häckselsack unter den Füßen und einen Pferdefries über die Knie; Martin und Joost aber spannten sich vor, der eine rechts, der andere links, und im selben Augenblicke ging es vom Hof her in den Fahrweg hinunter und am Hause vorbei, so laut und so froh, daß Baltzer von seinem Tisch aufsah und zur Grissel sagte: »Wie die Hilde lustig sein kann. Und du sagst immer, sie sei bloß müd und matt und recke sich und strecke sich. Da sieh nur, wie das jubelt und lacht!«

»Ja«, sagte Grissel, »das ist, seit wir den Winter haben; und hat ordentlich rote Backen und ist wie vertauscht. Und uns' Martin auch, und immer hinterher, und Hildechen hier und Hildechen da. Ja, die Hilde! Sie weiß es nicht anders mehr und hat es, mein Seel, vergessen, wo sie herkommt und was es eigentlich mit ihr ist... Aber das sag ich so bloß zwischen uns, Baltzer Bocholt.«

Und des Heidereiters Stirn, die sich schon gerunzelt hatte, glättete sich wieder, und er sagte ruhig und in beinahe freundlichem Tone: »Und wenn sie's vergessen hat, desto besser. Wir wollen es auch vergessen... Und das vergiß nicht!«

Drittes Kapitel

Hilde hat einen Willen

Hilde lebte sich ein, und es waren glückliche, helle Tage, so hell wie der Schnee, der draußen lag. Alle Morgen mußte Martin in die Schule, zweimal auch zu Sörgel, aber wenn er dann eine Stunde vor Essen wiederkam und seine Mappe mit der Schiefertafel in das Brotschapp gestellt hatte, so ging es mit der ihn schon erwartenden Hilde rasch in die Winterfreude hinaus, die jeden Tag eine andere wurde. Die größte aber war, als sie sich auf dem Hofe eine Schneehütte gebaut und die Höhle darin mit Stroh und Heu ausgepolstert hatten. Da saßen sie halbe Stunden lang, sprachen kein Wort und hielten sich nur bei den Händen. Und Martin sagte, sie seien verzaubert und säßen in ihrem Schloß und der Riese draußen ließe niemand ein. Dieser Riese aber war ein Schneemann, dem Joost eine Perücke von Hobelspänen aufgesetzt und anfänglich ein Schwert in die Hand gegeben hatte, bis einige Tage später aus dem Schwert ein Besen und mit Hülfe dieses Tausches aus dem Riesen selbst ein Knecht Ruprecht geworden war. Das war um die Mitte Dezember. Als aber bald danach die letzte Woche vor dem Fest anbrach, da fingen auch die Heimlichkeiten an, und Martin war stundenlang fort, ohne daß Hilde gewußt hätte, wo. Und wenn sie dann fragte, so hörte sie nur, er sei bei Sörgel oder bei Melcher Harms oder bei dem alten Drechsler Eickmeier, der in der Weihnachtszeit außer seinen Pfeifen und seinem Schwamm auch noch Bilderbogen verkaufte. Mehr aber konnte niemand sagen, und erst am Heiligabende selbst mußte der Geheimnisvolltuende von seinem Geheimnis lassen, um sich ebenso der Zustimmung des Vaters wie der Hülfe Grissels zu versichern. Und diese letztere half denn auch wirklich und freute sich, daß es etwas Schönes werden würde, worüber ihr keinen Augenblick ein Zweifel kam. Und als es nun dunkelte und drüben von der Kirche her die kleine Glocke zu läuten anfing, da war alles fertig, und der Heidereiter selbst führte Hilden in seine Stube, drin unter dem Christbaum neben anderen Geschenken auch die ganze Stadt Bethlehem mit all ihren Hirten und Engeln aufgebaut worden war. Alles leuchtete hell, weil hinter dem geölten Papier eine ganze Zahl kleiner Lichter brannte; am hellsten aber leuchtete der Stern, der über dem Kripplein und dem Jesuskinde stand. Hilde konnte sich nicht satt sehen daran, und als endlich der Lichterglanz in der Stadt Bethlehem erloschen war, trat sie vor den Heidereiter hin, um ihm für alles, was ihr der heilige Christ beschert hatte, zu danken.

»Und nun sage mir«, sagte dieser, »was hat dir am besten gefallen?«

Sie wies auf die Stadt.

»Dacht ich's doch!« lachte Baltzer Bocholt, »die Stadt! Aber die Stadt ist nicht von mir, Hilde, die hat dir der Martin aufgebaut und hat seine Sparbüchse geplündert. Und der alte Melcher Harms hat ihm geholfen, und alles, was in Holz geschnitzt ist und auf vier Beinen steht, das ist von ihm. Ja, das versteht er. Aber der Martin hat doch das Beste getan, und wenn du wem danken willst, so weißt du jetzt, wohin damit.«

Und dabei wies er auf Martin, der scheu neben dem Ofen stand.

Hilden selbst aber war alle Scheu geschwunden, und sie lief auf Martin zu und gab ihm einen herzhaften Kuß, so herzhaft, daß der alte Heidereiter ins Lachen kam und immer wiederholte: »Das ist recht, Hilde, das ist recht. Ihr sollt euch liebhaben, so recht von Herzen und wie Bruder und Schwester. Ja, so will ich's, das hab ich gern.«

Und danach ging es zu Tisch, und alle ließen sich den Weihnachtskarpfen schmecken und waren guter Dinge, nur Hilde nicht, die noch immer in fieberhafter Erregung nach dem dunkelgewordenen Bethlehem hinübersah und endlich froh war, als sie gute Nacht sagen und in die Giebelstube hinaufsteigen konnte. Hier stellte sie, was ihr unten beschert worden war, auf das oberste Brett ihres Schrankes und sagte zu Grissel, während sie den Binsenstuhl an das Bett derselben heranrückte: »Nun erzähle.«

»Wovon, Kind?«

»Von der Jungfrau Maria.«

»Und von dem Jesuskindlein?«

»Ja. Von dem Kindlein auch. Aber am liebsten von der Jungfrau Maria. War es seine Mutter?«

»Ach, du Herr des Himmels!« entsetzte sich Grissel. »Hast du denn nie gelernt: ›Geboren von der Jungfrau Maria‹? Kind, Kind! Ach, und deine Mutter, die Muthe, hat sie dir denn nie das zweite Stück vorgesagt? Wie? Sage!«

»Sie hat mir immer nur ein Lied vorgesagt.«

»Und wovon?«

»Von einem jungen Grafen.«

»Und nichts von Gott und Christus? Und weißt auch nicht, was Weihnachten ist? Und bist am Ende gar nicht getauft? Und da läßt der Pastor dich umherlaufen, sagt nichts und fragt nichts, und der Böse geht um, und ist keiner, der ihm widerstände, der nicht den Glauben hat an Jesum Christum, unseren Herrn und Heiland. Ach, du mein armes Heidenkind...! Aber nimm dir ein Tuch um und wickele dich ein, denn es ist kalt, und dann höre zu, was ich dir sagen will.« Und Grissel erzählte nun von Joseph und Maria und von Bethlehem, und wie das Christkind allda geboren sei.

»Von der Jungfrau Maria?«

»Ja, von der. Denn das Kind, das sie gebar, das war nicht des Josephs Kind, das war das Kind des Heiligen Geistes.«

Es war ersichtlich, daß Hilde nicht verstand und verlegen war. Aber sie wollte nicht weiter fragen und sagte nur: »Und wie kam es dann?«

»Ei, dann kam es so, wie du's heute gesehen hast und wie Martin und Joost es dir aufgebaut haben. Und meinetwegen auch der alte Melcher. Erst kam der Stern und stand über dem Hause still, und dann erschienen die Hirten, und zuletzt kamen die drei Könige von Morgenland und brachten Gold und Gaben und köstliche Gewänder, und alles war Licht und himmlische Musik, und der Himmel war offen, und die Engel Gottes stiegen auf und nieder. Und es war Freud im Himmel und auf Erden, denn unser Heiland war geboren. Und dieser Geburtstag unseres Heilandes ist unser Weihnachtstag.«

Hildes Augen waren immer größer geworden, und sie sagte jetzt: »Ah, das ist schön und wird einem so weit! Erzähle mir immer mehr. Ich seh es alles und höre die himmlische Musik, und dazwischen ist es wie Glockenläuten. Ernst und schwer. Und ist immer derselbe Ton...«

Indem aber hatte sich Grissel aufgerichtet, hielt ihre Hand ans Ohr und sagte: »Hilde, Kind, was ist das...? Immer ein Ton, freilich. Und immer derselbe... Das ist die Feuerglocke... Horch!«

Und sie war aus dem Bett gesprungen, warf ihren Friesrock über und sah hinaus. Aber im Dorfe war kein Feuerschein, und so lief sie nach der anderen Giebelstube hinüber, wo Martin schlief, und riß das Fenster auf. Und da sah sie die Glut, nicht unten im Tal, aber oben, und wenn nicht alles täuschte, so mußt es auf Kunerts-Kamp sein, hart am Walde, denn die Rückseite von Ellernklipp stand angeglüht im Widerschein. Und sie flog treppab, um den Heidereiter zu wecken. Aber der stand schon auf der Diele, den Hirschfänger an der Koppel, und rief ihr zu: »Meinen Hut; rasch! Verdammte Wirtschaft! Wer hat den Hut vom Ständer genommen?« – »Er hängt ja; weiß Gott, Baltzer, Ihr habt wieder Euren Koller und kein Aug im Kopf. Hier.« Und er riß ihr den Hut aus der Hand. In der Tür aber wandt er sich noch einmal zurück und sagte scharf und bestimmt: »Und daß du mir das Haus hütest, Grissel. Ich befehl es. Ein Feuer wie das ist kein Küchenfeuer. Und Hilde soll ins Bett. Und Martin auch.«

Damit war er die Treppenstufen hinunter und ging auf Diegels Mühle zu, von der er dann, als auf dem nächsten Wege, nach Ellernklipp hinauf wollte.

Mittlerweile war auch Hilde die Treppe herabgekommen und stellte sich mit auf die zugige Diele, denn Vor- und Hintertür standen weit offen. Und nicht lange, so rollte von Emmerode her über den hartgetretenen Schnee die Dorfspritze heran. Allerhand junges Volk hatte sich vorgespannt, andere schoben, und Grissel, die bis auf die Vortreppe hinausgetreten war, fragte: wo es sei.

»Auf Kunerts-Kamp. Der Muthe Rochussen ihr Haus brennt.«

Und damit ging es weiter. Aber ehe noch die Spritze zwischen den Erlen verschwunden war, erklärte Hilde, die jedes Wort gehört hatte, daß sie gehen und das Feuer sehen wolle.

»Du darfst nicht.«

Aber sie bat weiter, und als Grissel unerbittlich blieb, sagte sie: »Gut, so geh ich allein. Du wirst mich doch nicht halten wollen?« Und damit lief sie fort und kam erst zurück und beruhigte sich erst wieder, als ihr die bang und ängstlich nachstürzende Grissel ein Mal über das andere zugesichert hatte, sie nicht einsperren oder mit Gewalt festhalten, ihr vielmehr in allem zu Willen sein zu wollen. Und wirklich, sie hielt Wort; und als sie die vor Erregung immer noch zitternde Hilde wohl verwahrt und in ihre Weihnachtspelzkappe gesteckt hatte, gingen sie, rechts um das Haus biegend, einen mit lockerem Schnee gefüllten Graben hinauf, der unmittelbar neben dem Heckenzaun hin auf die Höhe zulief. Eine Zeitlang war es ihnen, als ob oben alles erloschen sei, denn sie sahen keinen Schein mehr. Aber kaum, daß der anfänglich tiefe Graben etwas flacher geworden war, so lag auch das Feuer vor ihnen, wie mit Händen zu greifen, und die Glutmasse wirbelte immer heftiger in die Höhe. Hilde stand wie gebannt. Endlich aber sagte sie: »Komm, wir wollen näher.«

Und damit hielten sie sich auf einen hohen Grenzstein zu, der zwischen Kunerts-Kamp und den Sieben-Morgen lag und das verschneite Heidekraut weit überragte. Auf den stellten sie sich und sahen hinüber in die Flamme.

Die Spritze war schon da, trotzdem man sie stückweise hatte herauftragen müssen, aber Wasser fehlte. Denn der Ziehbrunnen, der zu dem Hause gehörte, lag schon im Bereiche des Feuers, und niemand konnte mehr heran. Es schien aber doch, als ob Wasser von irgendwoher erwartet werde, denn eine lange Kette hatte sich bis Ellernklipp hin aufgestellt, und nur der Heidereiter achtete weit mehr auf das, was an der entgegengesetzten Seite vorging, weil er vor allem seinen Wald zu retten wünschte. Der lag freilich noch gute hundert Schritte zurück, aber gerade da, wo die Muthe gewohnt hatte, schob er eine lange Spitze vor, deren vorderstes Gezweig bereits bis über die Gartenzäunung hing. Es war klar, daß der Wald in äußerster Gefahr schwebte, wenn es nicht gelang, einen breiten Zwischenraum zu schaffen, und Baltzer Bocholt, der wohl erkannte, daß er um des Ganzen willen einen Einsatz nicht scheuen dürfe, wies jetzt, als er seine Holzschläger und Schindelspeller um sich versammelt sah, auf die Stelle hin, wo seiner Meinung nach der Schnitt gemacht und die vorspringende Spitze von dem eigentlichen Gebreite des Waldes abgetrennt werden mußte. »Vorwärts!« Und nicht lange, so hörte man den Schlag der Axt und das Krachen und Stürzen der Bäume, die, wenn kaum erst halb angeschlagen, an langen Stricken niedergerissen wurden. Und eine kleine Weile noch, so gab es auch Wasser oder doch die Gelegenheit dazu, denn aus dem Tale herauf, von Diegels Mühle her, erschien eben jetzt eine Schlittenschleife, die mit Schaufeln und Spaten, mit Eimern und Kesseln und überhaupt mit allem bepackt worden war, dessen man unten in der Eile hatte habhaft werden können; und während einige der Leute sofort sich anschickten, mit Stangen und Feuerhaken ein paar brennende Balken aus der Feuermasse herauszureißen, schleppten andere die Kessel, große und kleine, vom Schlitten her in die Glut und schippten den umherliegenden Schnee hinein. Und wieder andere waren, die hockten um die Kessel her und trugen den Schnee, wenn er geschmolzen, in Butten und Eimern an die nebenstehende Spritze, deren erster Strahl eben jetzt in die Glutmasse niederfiel. Aber der Heidereiter, unschwer erkennend, daß an der Muthe Haus wenig gelegen und noch weniger zu retten war, schrie mit lauter Stimme dazwischen: »Unsinn! hierher!«, und gehorsam seinem Kommando, packten alle, die zur Hand waren, nach der Spritzendeichsel und jagten über die verschneiten Baumstubben fort, bis sie dicht an der Waldecke hielten, an eben jener bedrohtesten Stelle, wo der angeglühte Schnee bereits von den Zweigen zu tropfen anfing.

Und Hilde starrte wie benommen in das mit jedem Augenblicke sich neu gestaltende Bild, das, alles sonstigen Wechsels ungeachtet, in drei fest und unverändert bleibenden Farbenstufen vor ihr lag: am weitesten zurück die schwarze Schattenmasse des Waldes, vor dem Walde das Feuer und vor dem Feuer der Schnee.

Über dem Ganzen aber der Sternenhimmel.

Und sie sah hinauf, und die Engel stiegen auf und nieder. Und es war wieder ein Singen und Klingen, und die Wirklichkeit der Dinge schwand ihr hin in Bild und Traum.

Und so stand sie noch, als sie drüben ein Rufen und Schreien hörte, vor dem ihr Traum zerrann, und als sie wieder hinblickte, sah sie, daß das brennende Haus in ein Wanken und Schwanken kam und im nächsten Augenblicke jäh zusammenstürzte.

Die Funken flogen himmelan und verloren sich in den Sternen.

Eine Minute lang folgte sie noch wie geblendet dem Schauspiel, während sie zugleich das in die Höhe gerichtete Auge mit ihrer Hand zu schützen suchte. Dann aber ließ sie die Hand wieder fallen und sagte: »Komm, Grissel, mich friert. Und es ist nun alles vorbei.«

Viertes Kapitel

Hilde kommt in die Schule

Baltzer Bocholt hatte die beiden wohl gesehen, aber er sagte nichts, als er eine Stunde später heimkam, und schwieg auch am anderen Tage beim Frühstück. Er sah nur Hilden scharf an, und erst als diese wieder fort war und Grissel die Teller abräumte, von denen man die Morgensuppe gegessen, warf er im Vorübergehen hin: »Ihr waret also doch da?«

»Ja. Die Hilde wollt es, und als ich es ihr abschlug und ihr sagte, Ihr hättet es verboten, da lief sie fort, wie sie ging und stand. Und da mußt ich ihr alles versprechen. Und ein wahres Glück noch, daß ich sie wieder ins Haus brachte; sie hätte ja den Tod gehabt ohne Mantel und dicke Schuhe. Und im Ostwind und durch den Schnee.«

»So, so«, sagte Baltzer und trommelte an die Scheiben. »Sie kann also auch ungehorsam sein. Sieh, Grissel, das gefällt mir. Der Mensch muß gehorchen, das ist das erste, sonst taugt er nichts. Aber das zweite ist, er muß nicht gehorchen, sonst taugt er auch nichts. Wer immer gehorcht, das ist ein fauler Knecht, und ist ohne Lust und Liebe und ohne Kraft und Mut. Aber wer eine rechte Lust und Liebe hat, der hat auch einen Willen. Und wer einen Willen hat, der will auch mal anders, als andere wollen.«

So verging der Tag, ohne daß von dem Feuer gesprochen worden wäre, und erst am Abend, als Grissel und Hilde wieder auf ihrer Giebelstube waren, sagte erstere: »Bist du traurig, Hilde?«

»Nein.«

»Aber du sprichst nicht. Und es war doch euer Haus, und du wolltest hin und es sehen.«

»Ja, ich wollt es, als ich den roten Himmel sah.«

»Und hast auch keine Sehnsucht? Ich meine nach deiner Mutter. Oder hattest du sie nicht lieb?«

»O ja, ich hatte sie lieb. Aber ich bin doch nicht traurig.«

»Und warum nicht?«

»Ich weiß es nicht. Aber mir ist, als wäre sie nicht tot. Ich seh sie noch und höre sie noch. Und dann hab ich ja euch. Es ist besser hier und nicht so still und so kalt. Und du bist so gut, und Martin...«

»Und der Vater...«

»Ja, der auch.«

Ohne weitere Zwischenfälle verlief der Winter, und als Ostern, das in diesem Jahre früh fiel, um eine Woche vorüber war, packte Martin nicht bloß seine Mappe, sondern auch Hildens, und mit erwartungsvoller und beinahe feierlicher Miene gingen beide neben dem Bach hin auf das mitten im Dorf gelegene Schulhaus zu, das schwarze Balken und weißgetünchte Lehmfelder und oben auf dem Dach eine kleine Glocke hatte. Die läutete eben, als sie eintraten.

Hilde kam nach unten, denn sie wußte nichts, und selbst die Kleinen lachten mitunter. Auch schien es nicht, als ob sie die lange Versäumnis im Fluge nachholen werde, denn sie war oft träge und abgespannt und machte Krickelkrakel im Rechnen und Schreiben, und nur im Lesen und Auswendiglernen war sie gut. Und siehe da, das half ihr, und als kurz vor der Erntezeit eine Schulinspektion angemeldet wurde, mußte sie die Fabel von der Grille und der Ameise vorlesen, was ihr neben der Zufriedenheit des Lehrers auch eine besondere Belobigung des alten Sörgel eintrug.

Und was diesen anging, so sollte sich's überhaupt jetzt zeigen, daß er des Kindes und seiner Zusage nicht vergessen habe, denn er schrieb denselben Tag noch ein Zettelchen, worin er dem Heidereiter vorschlug, ihm jeden Dienstag und Freitag die Hilde herüberzuschicken, und natürlich auch den Martin, damit er ihnen etwas aus der Bibel erzählen könne. Das geschah denn auch, und die zwei Stunden beim alten Sörgel waren bald das, worauf sich die Kinder am meisten freuten. Es war alles nach wie vor so still und behaglich drüben, und der kleine Zeisig, der in seinem Bauer zirpte, schien nur dazu da, zu zeigen, wie still es war. Dazu lagen über die ganze Stube hin lange, von Tucheggen geflochtene Streifen, sogenannte Läufer, alle weich genug, einen jeden Schritt zu dämpfen, auch den schwersten, selbst wenn der alte Sörgel nicht kniehohe Sammetstiefel und bei rechter Kälte sogar noch ein Paar Filzschuhe darüber getragen hätte. Das erste Mal, als er so kam, waren Martin und Hilde dicht am Lachen gewesen, aber der alte Herr, der wohl wußte, wie Kinder sind, hatte nur mitgelächelt und im selben Augenblicke gefragt: »Nun, Hilde, sage mir, wie hießen die zwölf Söhne Jakobs...? Richtig... Und nun sage mir, wie hieß sein Schwiegervater...? Richtig... Und nun sage mir, wie hieß seine Stiefgroßmutter...?« Auf diese letztere Frage war er nun, wie sich denken läßt, einer Antwort nicht gewärtig gewesen; als aber Hilde mit aller Promptheit und Sicherheit ihm »Hagar« geantwortet und noch hinzugesetzt hatte: » Die meint Ihr, Pastor Sörgel; es ist aber eigentlich nicht richtig« – da war er schmunzelnd an einen nußbaumenen Eckschrank herangetreten und hatte von dem obersten Brett eine Meißener Suppenterrine herabgenommen, darin er seine Biskuits aufzubewahren liebte. »Da, Hilde, das hast du dir ehrlich verdient... Und das hier, Martin, ist für dich, damit dir das Herz nicht blutet.«

So ging es geraume Zeit, es war schon der zweite Winter, und da Sörgel eine Vorliebe für das Alte Testament hatte – eine Vorliebe, die nur noch von seiner Abneigung gegen die Offenbarung Johannis übertroffen wurde –, so konnte es keinen verwundern, die Kinder fest in der alten biblischen Geschichte zu sehen, und zwar um so fester, als sie nicht bloß zuhören, sondern auch alles frisch Gehörte sofort wiedererzählen mußten.

In ihrem Wissen waren sie gleich, aber in Auffassung und Urteil zeigte sich Hilde mehr und mehr überlegen, so sehr, daß der alte Pastor immer wieder in die vielleicht verwerfliche Neigung verfiel, sie, wie damals mit der Hagarfrage, durch allerlei Doktorfragen in Verlegenheit zu bringen.

»Sage, Hilde«, so hieß es eines Tages, »du kennst so viele Frauen von Eva bis Esther. Nun sage mir, welche gefällt dir am besten und welche am zweit-und drittbesten? Und welche gefällt dir am schlechtesten? Gefällt dir Mirjam? Oder gefällt dir Jephthahs Tochter? Oder gefällt dir Bathseba? Du schüttelst den Kopf und willst von des Uria Weib nichts wissen. Aber du darfst es ihr nicht anrechnen, daß der König ihren Mann an die gefährliche Stelle schickte. Das tat eben der König. Und sie konnt es nicht ändern... Oder gefällt dir Judith?«

»Auch die nicht. Judith am wenigsten.«

»Warum?«

»Weil sie den Holofernes mordete, listig und grausam, und seinen Kopf in einen Sack steckte. Nein, ich mag kein Blut sehen, an mir nicht und an anderen nicht.«

»Ich will es gelten lassen. Aber wer soll es dann sein, Hilde? Wer gefällt dir?«

»Ruth.«

»Ruth«, wiederholte Sörgel. »Eine gute Wahl. Aber du weißt doch, sie war eine Witwe.«

So plauderte der Alte mit seinen Konfirmanden, und wenn dann die Stunde vorüber war, schlenderten Martin und Hilde wieder heim, im Winter an dem Stachelginster vorbei, der neben der Kirchhofsmauer hinlief, im Sommer über den Kirchhof selbst, wo sie hinter den Büschen Verstecken spielten. Oft aber wollte Hilde nicht, sondern blieb allein und setzte sich abwärts auf eine Steinbank, wo der Quell aus dem Berge kam und wo Gartengeräte standen und große Gießkannen, um die Gräber damit zu begießen. Und von dieser Bank aus sah sie, wie die Lichter einfielen und vor ihr tanzten und wie die Hummeln von einer hohen Staude zur anderen flogen: von dem Rittersporn auf den roten Fingerhut und von dem roten auf den gelben. Den liebte sie zumeist und freute sich immer und zählte die Schwingungen, wenn er unter dem Anprall der dicken Hummeln ins Schaukeln und Schwanken kam. Und dann erhob sie sich und ging auf ihrer Mutter Grab zu, das nichts als ein paar Blumen und ein blaues Kreuz mit einem Dach und einer gelben Inschrift hatte: »Erdmuthe Rochussen, geb. den 1. Mai 1735, gest. den 30. Sept. 1767.« Und immer wenn sie den Namen las und den Spruch darunter, stiegen ihrer Kindheit Bilder wieder vor ihr auf, und sie sah sich wieder auf der Hofschwelle sitzen, und an der anderen Seite der Diele, der Vordertür zu, saß ihre Mutter und schwieg und spann. Und dann hörte sie sich rufen: »Hilde!«, ach, leise nur, und sie lief auf die Mutter zu, die plötzlich wie verändert war und ihr das Haar strich und fühlte, wie fein es sei.

So waren die Bilder, denen sie nachhing, und während sie so sann und träumte, pflückte sie von den Grashalmen, die das Grab umstanden, flocht einen Kranz, hing ihn an das Dach und ging im Zickzack auf die höher gelegene Kirchhofsstelle zu, wo die Gräflichen ihre Ruhestätte hatten, eingehegt und eingegittert und von einem hohen Marmorkreuz überragt. Das leuchtete weithin, und ein Zeichen war darauf, das sie nicht deuten konnte. Zu Füßen des Kreuzes aber lagen allerhand Steinplatten, einige von Schiefer, andere von Granit, auf deren einer in Goldbuchstaben zu lesen war: »Adalbert Ulrich Graf von Emmerode, geb. am 1. Mai 1733, gefallen vor Prag am 6. Mai 1757.« Und immer wenn sie dies sah und las, gedachte sie der vielen, vielen Tage, wo sie mit ihrer Mutter an eben dieser Stelle gestanden hatte, manchmal in aller Frühe schon, wenn der Tau noch lag, und öfter noch bei Sonnenuntergang. Und niemals waren sie gestört worden, außer ein einzig Mal, wo die Gräfin unvermutet und plötzlich am Gittereingang erschienen war. Und das war ihr unvergessen geblieben und mußt es wohl, denn ihre Mutter hatte sie rasch und ängstlich zurückgerissen und sich und sie hinter eine hohe Brombeerhecke versteckt.

Ende der Leseprobe aus 96 Seiten

Details

Titel
Ellernklipp - Nach einem Harzer Kirchenbuch
Autor
Jahr
2009
Seiten
96
Katalognummer
V121412
ISBN (eBook)
9783640254125
ISBN (Buch)
9783640254279
Dateigröße
921 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ellernklipp, Nach, Harzer, Kirchenbuch
Arbeit zitieren
Theodor Fontane (Autor:in), 2009, Ellernklipp - Nach einem Harzer Kirchenbuch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121412

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Titel: Ellernklipp - Nach einem Harzer Kirchenbuch



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