Vom Wesen der Märchensprache

Planung einer empirischen Studie zur psychologischen Wirkung von Märchensprache


Bachelorarbeit, 2021

56 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1 Zur Terminologie „Märchen“
1.1 „Märchen“ – eine Begriffsannäherung
1.2 Ursprung und Entstehung von Märchen

2 Charakteristika von „Märchen“
2.1. Volksmärchen
2.2 Kunstmärchen
2.3 Linguistische Kernelemente der Märchensprache am Beispiel „Die Sterntaler“

3 Aspekte der Märchenforschung
3.1 Studie: Fairy Tales versus Facts: Genre Matters to the Developing Brain
3.2 Studie: Zur experimentellen Erschließung von Lesewirkungen.

4 Planung der empirischen Studie: Auswirkungen von Märchensprache auf die emotionale Psyche von Kindern und Erwachsenen
4.1 Teilnehmendengruppe
4.2 Methodik
4.2.1 Vorbefragung
4.2.2 Eyetracking
4.2.3 Fragebogen
4.3 Geplante Durchführung der Studie
4.4 Ergebnisprognose

5 Zusammenfassendes Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

„Erzähl mir keine Märchen“ – ein vorwurfsvoller Ausdruck, der im alltäglichen Sprach­gebrauch oft ab­schätzig gesagt wird und das Verbreiten von Lügen oder kunstvoll aus­gebauten Unwahrheiten meint. Zugleich wird „märchenhaft“ aber auch in positiven Kontexten verwendet und mit etwas Übernatürlichem, Wunderbarem, Märchenähnlichem in Verbindung gebracht, für das eine große Faszination ausgedrückt wird. Ein Zwiespalt, der zum Ausdruck bringt, wie Märchen auf der einen Seite abgelehnt werden, ihnen gleichzeitig aber noch immer eine ästhetische und faszinierende Wirkung zugeschrieben wird (Lüthi 1998: 11).

In kinderausgerichteten Medien werden Märchen oft in Bild und Ton dargestellt. Dabei kommt die Frage auf, ob die „Märchensprache“, also die formelhafte Sprache, die sich durch geläufige Wendungen und Verse wie „Es war einmal“ oder „Und wenn sie nicht gestorben sind“ auszeichnet, eine bedeutsame Rolle für die Begeisterung für Märchen einnimmt. Was genau bewirkt sie in uns und wie gehen Kinder und Erwachsene mit dem originalen altertümlichen Sprachstil heutzutage um?

Ein Zeitungsartikel der Westfälischen Rundschau versuchte 2003 die Bevölkerung zum Lesen und Vorlesen von Märchen zu ermutigen. „Viele scheuen sich, ihre Kinder mit extremen Themen wie Trennung oder Tod zu konfrontieren“, heißt es darin. Pädagog:innen und Psycholog:innen haben jedoch erkannt, dass Kinder Märchen brauchen, „es sollten allerdings die richtigen zur rechten Zeit sein“ (Westfälische Rundschau 2003: 125/4).

Viele Erwachsene sind aber noch immer von der scheinbar offenkundigen Brutalität der Märchen erschrocken und möchten ihre Kinder nicht in Verbindung mit traditionellen Märchen bringen, wie unter anderem aus meiner eigenen Vorbefragung zur Entwicklung der empirischen Studie hervorgeht (siehe Kapitel 4.2.1). Offenbar gibt es eine allgemeine Ver­unsicherung in der Bevölkerung, wie und ob Kinder in Berührung mit Märchen gebracht werden sollten.

Auch im 19. Jahrhundert äußerten Schrift­steller wie Achim von Arnim und Clemens Brentano nach der Erstausgabe der KHM Vorbehalte gegenüber Märchen (Steinlein et al. 2006: 556). So schrieb Arnim in einem Brief an Jacob Grimm, dass „Märchen zwar nicht für Kinder geeignet [seien], regten aber in den Älteren die Art der Empfindsamkeit an“ (Noguchi 1981: 86). Eine Märchenkritik wurde angestoßen, die sich vor allem auf die Gebrüder Grimm konzentrierte und ihnen vorwarf: „[Märchen] seien außerordentlich schädlich für die Entfaltung ihrer kindlichen Rezipienten zu angstfrei-selbstbewussten Individuen“ (Steinlein 1995: 301).

In den Jahren nach 1945 verschärfte sich die Kontroverse, sodass Märchen sogar in den Verdacht gerieten, durch ihre Grausamkeiten kindliche Prägungen hervorzurufen, die eine Ursache für die Gräueltaten des Nationalsozialismus darstellen könnten. Eine Denkschrift der britischen Militärregierung mit dem Titel „Das deutsche Märchen als eine Ursache der Entartung der deutschen Jugend“ forderte eine Reduzierung von deutschen Märchen, Sagen und Legenden im Schulunterricht und sah darin „first steps in cruelty“ (Steinlein et al. 2006: 556 f.).

Durch die vorangeschrittene Forschung (von Bettelheim, Bertignoll und weiteren Forschenden) wird heute jedoch von positiven Eigenschaften der Märchen ausgegangen und der Gattung eine zunehmende Bedeutung zugeschrieben. So gehören die Grimm’schen Märchen zu den meist gedruckten und übersetzen Büchern der deutschen Sprache (Röhrich 2002: 1).

Bruno Bettelheim und Verena Bertignoll entwickelten anhand von Beobachtungen und Studien die Theorie, dass eine Entsprechung zwischen der Märchenwelt und dem kindlichen Erleben und Denken existiert und Märchen als Zugang zur inneren Gefühlswelt sowie als Entwicklungs­chance verstanden werden können. Vor allem zur psychologischen Wirkung des Märchen­inhalts lassen sich heutzutage einige wissenschaftliche Studien finden. Dabei steht die Handlung, die in den Märchen enthaltenen Symbolik und die Botschaft dahinter im Fokus. Das Verhältnis von Märchensprache und Emotionen wird aber weitestgehend außen vor­gelassen, sodass es bislang verhältnismäßig wenige wissenschaftliche Arbeiten zum linguistischen Aspekt in Märchen gibt (Lüdtke 2012: 5).

Die vorliegende Arbeit stellt genau diesen sprachstilistischen Gesichtspunkt in den Vordergrund und befasst sich mit der Märchensprache auf Grundlage linguistischer Aspekte und Besonderheiten sowie der psychologischen Wirkung auf Kinder und Erwachsene. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, was die altertümliche Märchensprache so besonders macht, was sie sowohl in Kindern als auch in Erwachsenen auslöst und ob Märchen in moderner Sprache, die dem heutzutage gängigen Stil angepasst ist, ähnliche Emotionen hervorrufen können wie originale Märchenformulierungen. Im Zuge dessen wird innerhalb dieser Arbeit eine empirische Studie entwickelt, die die unterschiedliche Wirkung der beiden Sprachstile näher durchleuchten soll und das Alter der Teilnehmenden (Kind oder erwachsene Person) als wichtigen Aspekt berücksichtigt.

Zunächst wird der Begriff „Märchen“ näher definiert und ein Einblick in die Entstehung und Geschichte von Märchen dargeboten. Anschließend werden die stiltypischen Merkmale ausgearbeitet sowie Erkenntnisse aus bisheriger Märchenforschung dargestellt.

Der Hauptbestandteil der Arbeit besteht in der Planung einer eigenen empirischen Studie, anhand derer ermittelt werden soll, wie Proband:innen unterschiedlichen Alters auf ausgewählte Textausschnitte reagieren und welche Art von Gefühlen und Emotionen märchenhafte Wortwendungen in ihnen auslösen. Dafür sollen die Teilnehmenden verschiedene originale Märchenausschnitte mit märchentypischen Versen oder Formeln sowie davon abgeleitete, manipulierte, modernisierte Texte, die charakteristische Merkmale bewusst auslassen, zu lesen bekommen. Unmittelbar nach dem Lesen werden von den Teilnehmenden Fragen zu hervorgerufenen Emotionen und Gefühlen beantwortet, die möglichst intuitive Reaktionen der Proband:innen abbilden sollen. Erforscht wird damit, ob und welche Unterschiede es zwischen Märchensprache und modernisierter Version gibt und ob märchentypische Formeln einen Einfluss auf Lesedauer, Augenreaktionen und emotionales Empfinden haben.

Ziel ist es, mithilfe der erstellten Planung eine wissenschaftlich fundierte Studie zur Bedeutung von Märchensprache und deren emotionalen Wirkung durchführen und in den Forschungskontext einordnen zu können. Des Weiteren soll als Resultat dieser Arbeit ein umfassender Einblick in Funktionen und Eigenschaften von Märchensprache bei Kindern und Erwachsenen entstehen, der Unsicherheiten im Umgang mit Märchen eliminieren soll und die Bedeutung der Märchenlinguistik aufzeigt.

1 Zur Terminologie „Märchen“

Die Bezeichnung „Märchen“ stammt ursprünglich vom mittelhochdeutschen „maere“, was so viel bedeutet wie „Bericht, Kunde, Erzählung“. Die Diminutivform dieses Ausdrucks und damit das Anhängen des Suffixes - chen gab dem Terminus im Spätmittelalter eine neue Bedeutung und betitelte fortan unwahre, erdachte Erzählungen. Dabei wurde der Ausdruck keineswegs positiv gewertet, was an Begriffen wie „lügenmaere“ (Lügenmärchen) und „gensmär“ (Gänsemärchen) erkennbar wird, die sich zur gleichen Zeit herausbildeten (Lüthi 1990: 1).

Im Frühneuhochdeutschen, zwischen ca. 1350 und 1650, wurde unter einer „Mär“ eine Prosadarstellung mit Abenteuern und Neuigkeiten verstanden. Im Neutrum oder in der Pluralform dagegen beschrieb das Wort einen „Ruf“ oder ein „Gerücht“. Bekannt sind auch heute noch Martin Luthers Liedstrophen aus dem 16. Jahrhundert (Pöge-Alder 2016: 28):

vom himel hoch da kom ich her,

ich bring euch gute newe mehr,

der guten mehr bring ich so viel,

davon ich singn und sagen will.

(Luther zitiert nach Pöge-Alder 2016: 28).

Die „mehr“ wird hier als Botschaft eines wichtigen Geschehnisses verstanden und mit „höchstem, nämlich mit göttlichem Wahrheitsanspruch“ verkündet (Rölleke 1986: 9). Bei Murner ist die Rede von einer „selbig lieblich frölich mehr“, Weckherlin dagegen spricht von „falscher zungen mähr“ (Pöge-Alder 2016: 28). Durch diese ganz unterschiedlichen Zusammenhänge wird deutlich, dass der Terminus „Märchen“ in dieser Zeit ein breites Spektrum an Bedeutungen umfasst und in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden konnte.

Ende des 18. Jahrhunderts wandelte sich die Bedeutung des Wortes zum uns heute bekannten, meist neutralen Begriff einer Gattung, die Fiktionalität und fantastische Irrealität behandelt (ebd.: 28 f.). Diese Gattung soll in den folgenden Abschnitten näher definiert und erläutert werden. Es wird nicht der Anspruch auf eine umfassende, vollständige Definition erhoben. Angesichts des Forschungsgegen­standes dieser Arbeit, bleibt ein Abriss über unterschiedliche Definitionen jedoch unerlässlich.

1.1 „Märchen“ – eine Begriffsannäherung

Die Gattung „Märchen“ zeichnet sich vorrangig dadurch aus, dass sie etwas Fantastisches und Übernatürliches beinhaltet und sich von der Wirklichkeit abgrenzt. So definierte Johannes Bolte das Märchen als „eine nicht an Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte, die hoch und niedrig mit Vergnügen anhören, auch wenn sie diese unglaublich finden“ (Moser 1981: 57 f.). In Zedlers Universallexikon (1739) dagegen wird die Wortabstammung des Begriffs „Märchen“ hervorgehoben:

Maehre ist eine Erzehlung beydes einer wahrhafften als erdichteten Geschichte. Anders: eine wahre oder falsche neue Zeitung, Post oder Botschafft. Dahero kommt Maehrlein, sonst eine Fabel, wovon unten. Maehrlein, sind Gedichte oder Fabeln so man erzehlet, wenn man andern eine Lust machen oder die Zeit vertreiben will (Zedler 1739: 163,167).

Auch bei Röhrich ist die Rede von einer klaren Abgrenzung zu Realität und übernatürlichen, surrealen Zusammenhängen:

Unter einem Märchen verstehen wir eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte [...], die in einer phantastischen Welt spielt, in welcher der gewohnte Kausal- und Naturzusammenhang aufgehoben ist (Röhrich 1964: 1).

Moser hält die genannten Definitionen jedoch für „ungeeignet“ (Moser 1981: 58), da sie genaue Zuweisungen oder Aussonderungen einzelner Geschichten zur Gattung „Märchen“ unbeachtet lassen und rät, bei der Definition auch die Merkmale eines Märchens einzu­beziehen. Des Weiteren müsse man Märchen in Relation zu verwandten Gattungen setzen und davon abgrenzen. Er schlägt folgende Definition als merkmalorientiert vor:

Das Märchen ist eine in sich abgeschlossene, tradierte und deshalb konservative erzählende Dichtung mit typischen Figuren, Requisiten, Situationen und Handlungs- zügen, die auf der Grundlage fester Moral­vorstellungen der Darlegung von Konflikt­lösungen dient. Die in ihm geschilderten Vorgänge können den unmittelbaren Erfahrungsbereich verlassen, doch bleibt der Konflikt, den es behandelt, stets in diesem Bereich verankert (Moser 1981: 61) .

Diese Definition habe den Vorteil, dass sie „wirklich entsprechende Geschichten“ (Moser 1981: 61) zusammenfasse und märchenähnliche Erzählungen ausgliedere. Darüber hinaus könne dadurch eine „genauere[...] kulturgeschichtliche[...] und kulturgeographische[...] Zuordnung der jeweiligen Erzählungsart[...] ermöglicht werden (ebd.).

Es wird deutlich, dass der Gattungskomplex „Märchen“ breit gefächert ist und viele unterschiedliche Geschichtstypen einbindet. Charakteristisch für Märchen im Allgemeinen bleibt „daß es sich um Dichtungen handelt, die nicht – wie die Sage – besondere, sondern typische Dinge erzählen“ (Moser 1981: 59), Einblicke in Moralprinzipien, Weltbilder und soziale Strukturen vergangener Zeiten bieten und typische Figuren oder Requisiten einschließen (ebd.: 59 f.). Ein Märchen lege dar, „wie man mit Ausdauer, Furchtlosigkeit, Beherztheit, selbstloser Opferbereitschaft und [...] übernatürlicher Hilfe selbst die schwersten irdischen Probleme bewältigen kann“ und biete somit Konfliktlösungen (ebd.: 59, 62).

1.2 Ursprung und Entstehung von Märchen

Ob Märchen im engeren oder im weiteren Sinn schon in frühgeschichtlichen Zeiten existierten, lässt sich heute nicht mehr sagen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass das Epos von Gilgamesch von Uruk, die Geschichte von den Brüdern Anup und Bata sowie die Erzählung von Amor und der Psyche schon märchenähnliche Motive und Abläufe innehaben und zu den ältesten Schriften gehören (Lüthi 1990: 40 f.). Daraus lässt sich schließen, dass schon in der Antike eine Faszination für paranormale Ausführungen vorhanden war und die fantastischen Geschichten für nachfolgende Generationen auf Tontafeln, Papyrus oder in Büchern festgehalten wurden.

Auf der einen Seite wird bei Märchen von „Literatur vor der Literatur“ gesprochen, die auf „die Kindheitstage der Menschheit“ (Renger 2006: 13) zurückgeht, andere Forschende beteuern jedoch die fehlende Existenz von Märchen vor dem 17. Jahrhundert. Die Gründe dafür liegen in der erst im 18. Jahrhundert neu entstandenen Gattung „Märchen“, die allerdings nichts über das Alter der Märchen als mündlich tradierte Erzählung aussagt (Renger 2006 : 14). So bleibt es eine Frage der Definition, auf welchen Zeitpunkt man die Entstehung von Märchen datiert.

Neben zahlreichen erhaltenen Fabeln, Legenden und Romanen aus dem Altertum und Mittelalter gibt es wenige Schriften zu Märchen, zudem wurde die Forschung erst etwa 1800 auf Märchen als eine „zu erforschende Gattung“ (ebd.: 18) aufmerksam. Dies ist unter anderem auf Johann Gottfried Herder zurückzuführen, der Märchen 1777 einen bedeutsamen Platz in der Poesie zuwies und ihre vermeintliche Mündlichkeit als „primäres Charakteristikum“ herausstellte (ebd.). Die ursprünglich als negativ behafteten „Lügen­geschichten“ gewannen so ab dem 18. Jahrhundert nach und nach an Ansehen und brachten neu erscheinende „Feenmärchen“ und auch Geschichten aus „Tausendundeine Nacht“ hervor (Renger 2006: 24 f.).

Während Märchen heutzutage vor allem an das kindliche Publikum gerichtet sind, stellten sie bis ins 18. Jahrhundert „Erzählgut von Erwachsenen, insbesondere in analphabetischen Gesellschaften“ dar (Röhrich 1993: 9), was auf ihren ursprünglichen Inhalt zurückzuführen ist. Die Geschichten galten als „obszön“ und dienten zur „Unterhaltung für den Hochadel am Kamin“ (Stein o.D.). Neben erotischen Szenen wurden von den Grimm-Brüdern auch Gewalt­darstellungen in ihren kinderausgerichteten Märchenfassungen minimiert, sodass die angeglichenen, kindgerechten Erzählungen zu einem großen Erfolg führten (ebd.). Durch ihre (KHM) und Ludwig Bechsteins Märchensammlungen (Deutsches Märchenbuch) erlangten Märchen im 19. Jahrhundert enorm an Bedeutung und waren fortan nicht mehr ausschließlich für Erwachsenen-Kreise, sondern auch für ein junges Publikum bestimmt (Lüthi 1990: 1).

In der Geschichte des Märchens spielen die Brüder Grimm mit ihren Volksmärchen demnach eine besonders wichtige Rolle. So heißt es bei Friedrich von der Leyen: „Das deutsche Märchen bleibt uns für immer mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm unlöslich verbunden“ (Von der Leyen zitiert nach Karlinger 1988: 47). Auch heutzutage haben die Grimm’schen Märchen nicht an Popularität verloren, wurden von großen Medienunternehmen wie „The Walt Disney Company“ in zahlreichen Zeichentrick- und Unterhaltungsfilmen eingesetzt und sind insbesondere bei Kindern sehr beliebt.

2 Charakteristika von „Märchen“

Werden die Gattung „Märchen“ und deren charakteristische Merkmale betrachtet, lässt sich zunächst sagen, dass es sich hierbei um in Prosaform verfasste Texte handelt, die meist fantastische Ereignisse oder Wesen beinhalten. Unterschieden wird in Tier-, Novellen-, Schwank-, Legenden-, Rätsel-, Warn- und Zaubermärchen, von denen sich besonders letztere dadurch kennzeichnen, dass sie Wunderbares oder Numinoses erzählen (Pöge-Adler 2016: 31).

Auch lassen sich Märchen anhand ihrer Herkunft in zwei verschiedene Bereiche unterteilen: Während Volksmärchen auf mündlich überlieferten Erzählungen beruhen, die keiner konkreten Autorschaft zuzuordnen sind, sind Kunstmärchen auf einzelne Autor:innen wie Hans Christian Andersen oder Wilhelm Hauff zurückzuführen (Neuhaus 2005: 3). Der Gattungskomplex „Märchen“ beinhaltet demnach ein breites Spektrum unterschiedlicher Untergattungen mit fließenden Übergängen.

Aufgrund ihrer Bekanntheit und Bedeutung für die deutsche Literatur wird im Folgenden vorrangig auf Volksmärchen Bezug genommen, die anschließend auch in Form von Textauszügen in der empirischen Studie Verwendung finden. Ein kurzer Abriss über Kunstmärchen bleibt jedoch obligat, da sie einen bedeutenden Teil der Märchengattung darstellen und andere Herangehens­weisen und Merkmale aufweisen. Bevor es explizit um Eigenheiten von Kunst- und Volksmärchen geht, kann in einer Gegenüberstellung ein erster Eindruck über Unterschiede zwischen Kunst- und Volksmärchen erlangt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1. Volksmärchen

„Zum Begriff des Volksmärchens gehört, daß es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist [...]“ (Neuhaus 2005: 3). Es könnte demzufolge angenommen werden, dass Märchen als fantastische Erzählungen durch die Bevölkerung gingen, ohne dass es einer Autorschaft bedurfte. So bezeichnet Lüthi das Volksmärchen als „volksläufig“ und namenlos“, was gewissermaßen als Gesamtwerk eines Volkes zu sehen sei (Lüthi 1990: 5). Anderer Meinung ist hingegen Stefan Neuhaus: „Alle Märchen haben einen Autor, selbst wenn sich dieser heute nicht mehr feststellen lässt.“ (Neuhaus 2005: 3). Bearbeitungen und Veränderungen durch andere Autor:innen kämen selbst­verständlich vor, beträfen aber auch alle anderen Genres. Da bis ins 18. Jahrhundert jedoch schriftlich Zeugnisse von Märchen weitestgehend fehlten, kann zweifelsohne davon ausgegangen werden, dass auch durch das mündliche Erzählen Veränderungen zustande kamen, die später in die Schriften aufgenommen wurden (ebd.: 3 f.).

Der Begriff „Volksmärchen“ kann demnach etwas irreführend sein und implizieren, dass Volksmärchen keiner Autorschaft entstammen. Um das zu vermeiden, sollte nach Lothar Bluhm das „Volksmärchen“ mit der Bezeichnung „Buchmärchen“ ersetzt werden: „Damit sind schriftlich fixierte, in der Regel literarisierte Erzählungen gemeint, die dem an „Volksmärchen“ heran­getragenen Erwartungshorizont entsprechen“ (Bluhm zitiert nach Neuhaus 2005: 4). Zu den bekanntesten Volksmärchen zählen die Märchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, die durch die Schriftlichkeit fixiert und heutzutage besonders im Kindesalter eine wesentliche Rolle spielen. In ihnen lassen sich anschaulich die typischen Merkmale von Volksmärchen finden (ebd.: 5).

Die Handlung im Volksmärchen ist stereotypisch einsträngig und beinhaltet somit keine Nebenhandlungen (Neuhaus 2005: 5). Fiktionalität wird besonders durch das Fehlen von Orts- und Zeitangaben, den Einsatz von allgemeinen Bezeichnungen wie Königstochter, Zwerg und die bekannten Einleitungs- bzw. Schlussformeln „Es war einmal vor langer Zeit“ und „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ geschaffen (Pöge-Alder 2016: 32) . Charaktere werden dabei ganz eindeutig entweder dem Guten oder dem Bösen zugeordnet und bleiben meist namenlos (Neuhaus 2005: 5). Im Volksmärchen wundern sich die Heldin oder der Held weder darüber, dass übernatürliche Wesen auftauchen, noch über das „nach den Gesetzen der Natur Unmögliche“ (Pöge-Alder 2016: 31). Unerklärliches steht in direkter Verbindung zu sozialen Verhältnissen in Gesellschaft und Familien; es treten typische Konstellationen wie drei Geschwister, ein verstoßenes Stiefkind, ein habgieriger Herrscher oder soziale Ungleichheit auf (ebd.: 31 f.). Ausgangslage ist dabei eine problematische Situation, die es zu lösen gilt (Neuhaus 2005: 5). „Als unverzichtbar gilt schließlich ein Happy End“ (Ewers 2016: 4).

Auch Verse und formelhafte Phrasen gehören zu den typischen Stilmitteln, die in Volksmärchen Verwendung finden und von den Brüdern Grimm während ihrer Märchen-überarbeitung vermehrt eingesetzt wurden (Pöge-Alder 2016: 32). Eine eigentümliche Symbolik in Form von bestimmten Zahlen oder typischen Märchen­­motiven findet sich immer wieder. So gelten die Zahlen 3,4,7,12 und 13 als besonders wichtig (ebd.), ebenso wie die Motive der Schuhprobe, das Reiten über eine goldene Brücke oder das Lösen von unlösbaren Aufgaben (Pöge-Alder 2016: 61). Die Zahl Drei ist hier beispiels­weise nicht als Zahl, „sondern als Metapher für Vollständigkeit und Erfüllung“ (Kieser 2009: 35) zu verstehen, die Schuhprobe geht auf eine germanische Sitte zurück, „nach der bei einer Adoption die ganze Sippenschaft wie der zu adoptierende Sohn nacheinander in einen Schuh traten. Dieser Kontakt sollte wohl die blutsmäßig nicht gegebene Liebesbindung ersetzen“ (ebd.: 157).

Die Sprache im Volksmärchen ist „einfach“ gehalten: „Es gibt vorrangig Hauptsätze, keine schwierigen Vokabeln und immer wiederkehrende Formeln“ (Neuhaus 2005: 5), auf die im Kapitel 2.3 näher eingegangen wird. Durch diese einfachen Strukturen, die gepaart sind mit einer hohen Anschaulich- und Bildlichkeit finden Kinder besonders schnell einen Zugang zu Volksmärchen (Böttcher 2009: 8).

Zugleich gilt das Volksmärchen als „Kunstwerk“ (Bettelheim 1980: 19) und spielt in der Kinderliteratur eine bedeutende Rolle. So ist Bruno Bettelheim überzeugt, dass „nichts so fruchtbar und befriedigend [ist] wie das Volksmärchen“ (ebd.: 11).

2.2 Kunstmärchen

Kunstmärchen sind Werke einzelner Autor:innen und zeichnen sich idealtypisch durch verschiedene inhaltliche Merkmale aus. Während im Volksmärchen eine alleinige Handlung im Vordergrund steht, kommt es im Kunstmärchen oft zu mehreren Nebenhandlungen und zeitlichen Rückblenden. Auch Orts- und Zeitangaben werden oft explizit benannt und Figuren psychologisiert. Protagonist:innen und auftretende Charaktere haben demnach gute wie böse Eigenschaften und machen im Verlauf der Handlung eine Entwicklung durch. Zudem werden sie konkret einer Gesellschaft zugeordnet und steuern oftmals auf ein unglückliches oder offenes Ende zu (Neuhaus: 2005: 7 f.).

Das Kunstmärchen zählt zur Individualliteratur, „geschaffen von einzelnen Dichtern und genau fixiert, heute meist schriftlich, in früheren Kulturen durch Auswendiglernen überliefert“ (Neuhaus 2005: 3). Übereinstimmend mit dem Volksmärchen geht die Handlung aus einer problematischen Ausgangssituation hervor, bei der die Figuren mithilfe von wunderbaren Wesen oder Ereignissen das Problem zu lösen versuchen. Oft sind eingesetzte Symbole an die des Volksmärchens angelehnt. Auffallend sind die oft vorkommenden diversen Handlungs­ebenen, die auch in unterschiedlichen Welten dargestellt sein können (ebd.: 8).

Ebenso wie Volksmärchen gehören Kunstmärchen zur Kinderliteratur. Bekannte Autoren sind zum Beispiel Hans Christian Andersen (Die Prinzessin auf der Erbse, Das hässliche Entlein, Des Kaisers neue Kleider), E.T.A. Hoffmann (Der goldene Topf) oder Oscar Wilde (Der glückliche Prinz).

2.3 Linguistische Kernelemente der Märchensprache am Beispiel „Die Sterntaler“

Nachdem nun schon auf einige Merkmale von Märchen eingegangen wurde, sollen nun anhand von Textbeispielen linguistische Kernelemente von Märchen zusammengetragen werden. Neben der altertümlichen Sprache, die zur Zeit der Erst – und Zweitausgabe der KHM (1812; 1819) üblich war und sich von der heutigen Alltagssprache unterscheidet, lassen sich gattungsspezifische Märchenmerkmale finden, die im Folgenden näher erläutert werden.

Dafür bietet es sich an, ein bekanntes kurzes Grimm-Märchen genauer unter die Lupe zu nehmen und dessen Märchenelemente herauszu­arbeiten: „Die Sterntaler“, ein Märchen, welches ab der zweiten Auflage in den KHM zu finden ist (KHM 153). Nicht nur aufgrund des stereotypischen Märchenaufbaus stellt „Die Sterntaler“ ein geeignetes Beispiel dar. Wegen des hohen Bekanntheitsgrads kann angenommen werden, dass prägnante Sätze oder Satzteile bereits tief im kollektiven Bewusstsein verankert sind. So lässt sich anhand dieses Märchens zum einen zeigen, wie der Inhalt mit der Sprache verknüpft ist, zum anderen präsentiert es exemplarisch die märchentypische Struktur. Das Märchen wird dabei maßgeblich über die Sprache transportiert, was aus allgemein bekannten Floskeln wie „Da fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter blanke Taler“ oder „Da sammelte es die Taler ein und war reich für sein Lebtag“ hervorgeht.

Als Versuchstext in der empirischen Studie kommt das Märchen aufgrund seiner großen Popularität nicht infrage. Die Märchen hingegen, welche in der geplanten Studie Ver­wendung finden, sind in ihrer Gesamtheit deutlich länger und umfassender, sodass sie sich als Beispieltext an dieser Stelle als weniger geeignet erweisen.

„Die Sterntaler“ beginnt mit der typischen Einleitungsformel, die bei den Brüdern Grimm sehr häufig Verwendung findet: „Es war einmal“. Damit eröffnet eine Geschichte, die sich in eine klare, für Märchen charakteristische Struktur unterteilen lässt: Einleitung, Hauptteil und Schlussteil. Während die Einleitung Fragen zur Person, der individuellen Situation und den Gegebenheiten beantwortet, wird die Handlung im Hauptteil bis hin zu der Klimax vorangetrieben. Das Ende des Märchens wird meist recht kurzgehalten und klärt Ungelöstes auf. Das „Böse“ wird zur Rechenschaft gezogen und Heldin oder Held leben „glücklich und zufrieden bis an ihr Ende.“

Schon in der Einleitung kommt es vermehrt zum Einsatz der „einfachen Sprache“, die sich in Aneinanderreihungen von parallelisierten Nebensätzen äußert:

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. („Die Sterntaler“ Grimm 1996: 666).

In diesem Textabschnitt lassen sich mehrere linguistische Charakteristika von Märchen finden. Zunächst kommt es zum Einsatz einer Konjugation, die in der heutigen Standard­sprache grammatikalisch nicht korrekt ist. Vor „Vater und Mutter“ steht hier „war“, eine Singularform welche vermutlich aus rhythmischen Gründen verwendet wurde. Des Weiteren wurden die Anaphern „und“ und „darin“ eingesetzt, die den Nebensätzen einen ähnlich klingenden, fast schon melodischen Rhythmus verleihen und mit ihrer verstärkenden Wirkung die Not des Mädchens in den Vordergrund stellen. Auch kommt es im ersten Satz gleich drei Mal zum Einsatz des märchentypischen Stilmittels Diminutivum: „Kämmerchen“, „Bettchen“, sowie „Stückchen“. Diese rhetorischen Stilmittel könnten auf der einen Seite als Verniedlichungsform eingesetzt worden sein, da es sich bei der zugehörigen Person um ein Kind handelt, zum anderen aber auch mit einer Untertreibung zum Ausdruck bringen, dass nicht von einer „gemütlichen Kammer“ und einem „bequemen Bett“ die Rede ist, sondern meinen, dass nicht mal ein kleines „Schlupfloch“ zur Verfügung stand. Ebenso könnte das Diminutivum in Bezug auf das geschenkte Brot verdeutlichen, dass es sich dabei um ein recht kleines Stück, eben ein wahrliches „Stückchen“ handelt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 56 Seiten

Details

Titel
Vom Wesen der Märchensprache
Untertitel
Planung einer empirischen Studie zur psychologischen Wirkung von Märchensprache
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Deutsche Literatur und Sprache)
Note
1,7
Autor
Jahr
2021
Seiten
56
Katalognummer
V1215279
ISBN (eBook)
9783346642592
ISBN (eBook)
9783346642592
ISBN (eBook)
9783346642592
ISBN (Buch)
9783346642608
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Märchen, Studie, Märchensprache, Volksmärchen, Kunstmärchen
Arbeit zitieren
Fiona Wink (Autor:in), 2021, Vom Wesen der Märchensprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1215279

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