Psychische Störungen

Eine Einführung


Hausarbeit (Hauptseminar), 1996

41 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Gliederung

A. EINLEITUNG
A.1. NORM UND SEELISCHE GESUNDHEIT
A.2. DIE EINTEILUNG PSYCHISCHER STÖRUNGEN

B. DIE NEUROSE
B1. VORLÄUFIGE CHARAKTERISTIK DER NEUROSE
B2. DIE ZWANGSNEUROSE (ANANKASMUS)
B3. DIE ANGSTNEUROSE
B4. DIE PHOBIE
B5. DIE KONVERSIONSNEUROSE
B6. PSYCHO-VEGETATIVE ERSCHÖPFUNGSSYNDROME
(VEGETATIVE DYSTONIE)
B7. ANOREXIA NERVOSA
B8. DIE NEUROSENLEHRE NACH SIGMUND FREUD
B9. ZUR ÄTIOLOGIE DER NEUROSE

C. DIE PSYCHOSE
C1. ZUR CHARAKTERISTIK DER PSYCHOSE
1.1. Wie entsteht Wissensbildung beim gesunden Menschen?
1.2. Die Entstehung der Psychose:
1.3. Erscheinungsformen der Psychose:
C2. ZUR PROBLEMATIK DER ABGRENZUNG PSYCHISCHER KRANKHEITEN
(EXPERIMENT VON D.ROSENHAN)
C3. DIE SCHIZOPHRENIE
3.1. Zur Ätiologie der Schizophrenie:
3.1.1. Über das Auftreten von Kindheitspsychosen
3.2. Die wichtigsten Formen und der Krankheitsverlauf:
3.5. Schizophrenie in anderen Kulturen - Ein transkultureller Vergleich:

C4. DIE DEPRESSIVITÄT UND DEPRESSION

C5. DIE MANIE 34
5.1. Zur Charakteristik:
5.2. Symptomatik:
5.3. Zyklische Formen:

C6. PARANOIDE PSYCHOSEN

D. GLOSSAR

E. QUELLENVERZEICHNIS

A. EINLEITUNG

Wohl jeder von uns kennt im Bereich der somatischen Störungen das breite Spektrum zwischen leichten körperlichen Beeinträchtigungen und Irritationen und einer schweren Krankheit, die sämtliche unsere Kräfte bindet und intensive medizinische, therapeutische Maßnahmen erfordert.

Ebenso weit reicht das Spektrum zwischen leichten psychischen Behinderungen und Beeinträchtigungen und schweren psychischen Erkrankungen. Die Grenze zwischen psychisch gesund und krank ist oft schwer zu setzen. Der erlebte Leidensdruck ist das subjektive Kriterium, das einen Menschen dazu veranlaßt, die Hilfe eines Psychotherapeuten zu suchen.

Psychische Störungen können das Leben, die Arbeit, die Fähigkeit, befriedigende Beziehungen aufzubauen, beeinträchtigen. Ob solche Störungen genetisch bedingt oder durch die Lebenssituation der betreffend­en Menschen entstanden sind, ist eine auch heute noch umstrittene Frage, die aber angesichts der Tatsache, daß dem Betroffenen geholfen werden muß, von sekundärer Bedeutung ist. Diese teilweise dramatischen Störungen der Gefühle und die Reflexion ihnen gegenüber zeigen die Bedeutung der Emotionen für den Gesamtbereich des Psychischen. Ohne Pflege seiner Gefühle kann der Mensch dem Leben nicht standhalten.

Eine psychische Störung umfaßt per definitionem

"die Gesamtheit aller psychischen Zustände, die in den Bereich 'Abnormalität' fallen."

A.1. NORM UND SEELISCHE GESUNDHEIT

Abnorm kann - je nach Wertung - sowohl ein 'Zuviel' (Exzeß), 'Zuwenig' (Defizit), oder 'Fehlerhaft' (Defekt) im Sinne eines persönli­chen, fachlichen oder gesellschaftlichen Erwartungswertes (kultureller Sollzustand) sein.

Beim Begriff der Norm unterscheiden wir grundsätzlich:

1:

Die Soziale Norm ist durch eine bestimmte Sozietät bestimmt[1] .

2:

Die Statistische Norm nimmt den rechnerischen Durchschnitt als Maß.

3:

Die Idealnorm orientiert sich am Optimum.

4:

Die Funktionale Norm orientiert sich am Individuum; in ihr fühlt es sich wohl.

(siehe Abbildung nächste Seite)

Was ist gesund? - Für lange Zeit ging das Denken dahin, daß Ge­sundheit einfach die Abwesenheit von Krankheit ist. Demgegenüber wurde aber bald erkannt, daß seelische Gesundheit durch eigene positi­ve Merkmale definiert werden muß. MARIE JAHODA postuliert in ihrer beispielgebenden Studie sechs grundlegende Merkmale der seelisch ge­sunden Persönlichkeit:

1. Der Gesunde hat eine adäquate Einstellung zu sich selbst; er sieht sich realistisch so, wie er ist, und steht sich selbst kritisch gegenüber, ohne andererseits an Selbstachtung einzubüßen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2. Der Gesunde ist an seiner adäquaten inneren Entwicklung und Selbst­verwirklichung interessiert. Er will die besten Potentialitäten aus sich hervorbringen.

3. Der Gesunde bemüht sich um innere Einheit oder Integration seiner Strebungen. Er läßt sich von Strebungen, die miteinander nicht verein­bar sind, nicht zerreißen, sondern versucht, seine Konflikte zu lösen.

4. Der Gesunde ist ein autonomer Mensch: dh, einer, der sich aus sich selbst bestimmt und sich nicht von anderen abhängig macht.

5. Der Gesunde hat eine adäquate Wahrnehmung der Realität, wie sie ist. Dh, er läßt sich nicht durch Wünsche und Befürchtungen in seiner Er­fassung der Außenwelt beeinflussen.

6. Der Gesunde ist fähig, seine Lebensumstände zu bemeistern. Dazu ge­hört die Fähigkeit zu lieben, die Adäquatheit von Liebe, Arbeit & Spiel, die Adäquatheit der zwischenmenschlichen Beziehungen, Fähigkeit zur Anpassung, zum Lösen von Problemen sowie Fertigkeit in der Behand­lung der Erfordernisse gegebener Situationen.[2]

A.2. DIE EINTEILUNG PSYCHISCHER STÖRUNGEN

Einerseits ist die Fülle von Störmöglichkeiten nicht kleiner als die Fülle von positiven Formen psychischen Verhalten und Erlebens. Eine Eintei­lung in hauptsächliche Störgruppen engt daher notwendigerweise die Vielfalt ein. Andererseits waren an dieser Einteilung drei vorrangige therapeutische Richtungen beteiligt, die von unterschiedlichen Stand­punkten aus die psychischen Störungen klassifizierten: die Psychiatrie, die Psychoanalyse und die Verhaltenstheorie. Daraus ergaben sich letzt­endlich - unter besonderer Betonung des Schweregrades - vier Haupt­begriffe, die sich teilweise auch überschneiden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Verhaltensstörungen

% 1. Funktionsstörungen:

zB psychogener Schmerz, Eßstörungen

% 2. Entwicklungstörungen:

zB Anorexia nervosa, Midlife-crisis

% 3. Leistungsstörungen:

zB Schulphobie, Legasthenie

% 4. Abweichendes Verhalten:

zB Alkoholismus, Drogenabusus[5], Pyromanie, Arbeitsgetriebenheit[6]

% 5. Mentalstörungen:

zB Purgatie (Rechthaberei), Moria (Witzelsucht), Altersdemenz

% 6. Sexualstörungen:

zB Potenzschwäche, Frigidität, Paraphilie

% 7. Sprachstörungen:

zB Aphasie, Stottern, Agrammatismus

% 8. Existenzielle Leidensformen:

zB Selbstmordgefährdung, Opferreaktion, Hospitalismus, Sinnlosigkeitsgefühl

$ [7] Die Einordnung der psychischen Störungen ist eines der schwie­rig­sten Probleme der Klinischen Psychologie. Grundsätzlich ist jede psychi­sche Leistung mehrfach störbar. So ergibt sich eine unendliche Fülle an Störungen mit mannigfaltigen Symptomen und Syndromen (i.e. Symptomeinheiten). Die Störungsbezeichnungen haben sich zum Teil über mehrere Jahrtausende entwickelt, andere sind neueren Datums. Es ist da­her nicht verwunderlich, daß sie sich nicht ohne weiteres in ein System einfügen.

$ Das Verständnis für psychische Krankheit und Gesundheit hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Durch häufigeres Auftreten von psychischen Krisen, Störungen und Beeinträchtigungen erhöhte sich nicht nur in der Fachwelt, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit die Be­reitschaft, psychische Krankheit als eine Form der Beeinträchti­gung und Störung anzusehen wie andere Behinderungen auch und sie von ihrer Stigmatisierung zu befreien.

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B. DIE NEUROSE

Der Begriff wurde schon im 18. Jht. durch den schottischen Arzt WIL­LIAM CULLEN im §1091 seines Werkes "First Lines in the Practice of Physics" (1776-84) für Sinnesaffekte oder Bewegungen eingeführt, für die keine körperlichen Ursachen festgestellt werden konnten. Im Laufe der Zeit wurde dieser Begriff mehrfach modifiziert. Den meisten moder­nen Definitionsversuchen ist gemeinsam, die Neurose als Störung zu ver­stehen, die die "inadäquate Verarbeitung von länger anhaltenden Kon­flikt- und Frustrationssituationen, die meist in die Kindheit zurückrei­chen, zur Voraussetzung haben."[8] - Andere Definitionen deuten die Neu­rosen als Form einer abnormen Erlebnisreaktion, wobei es infolge einer abnormen (= neurotischen) Entwicklung zu einer Komplexverselbständi­gung kommt.

Heute werden im gebräuchlichen "Diagnostischen und Statistischen Ma­nual psychischer Störungen" (DSM-III-R) unter Neurose genannt:

- Hyste­rien
- Phobien
- Anankastische, neurasthenische, hypochondrische Störun­gen
- Dysthyme Depressionen
- Generalisierte Angstsyndrome
- Dissoziative Störungen
- Psychogene Schmerzsyndrome

Ähnliche Einteilungen ent­halten auch die Internationale Klassifikation der WHO (ICD-9) und das "Manual zur Dokumentation psychiatrischer Be­funde" (AMP).

Trotz der vagen Definition der Neurose und ihrer vielschichtigen Erklä­rung[9] umreißt dieser Begriff eine beobachtbare Gruppe von psychischen Leidenszuständen, die durch andere Begriffe nicht voll abgedeckt wer­den kann.

B1. VORLÄUFIGE CHARAKTERISTIK DER NEUROSE

Die neurotische Persönlichkeit wird im Gegensatz zu früher nicht mehr als das Opfer eines einzigen psychischen Traumas in früher Kindheit ge­se­hen, sondern als ein Mensch, der nicht die Möglichkeit hatte, Konflikte zu lösen. - Eine Krisensituation an sich macht noch keine Neurose aus.

"An der Wurzel neurotischer Störungen steht ein Konflikt, der durch zwei oder mehrere einander widersprechende vitale Bedürfnisse entsteht, wobei die neurotischen Symptome Abreaktionen der daraus resultierend­en Span­nungen sind."

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Seelischen Dispo­sition [10]. Diese spezifische Beschaffenheit eines Organis­mus, die die Vor­aussetzung für die Wirkung schädigender Einflüsse ist äußert sich beim Neurotiker in der Hauptsache in einer Überempfindlich­keit gegenüber gewissen Reizen (Hypersensibilität). Die seelischen Störun­gen, die sich beim Hypersensiblen in einer Durchschnittsumgebung ein­stellen, beginnen demgemäß bereits in der frühesten Kindheit.

Das folgende Schema[11] zeigt nun, wie zur Neurose disponierende Merkmale sowie aus der Umwelt und den Lebenserfahrungen herstammende schädi­gende Einflüsse zusammenwirken. Bei Gruppe 1 können selbst in günstig­er Umwelt die dehr starken Dispositionen eine Neurose hervorbringen, wie dies bei Gruppe 3 bei verhältnismäßig sehr günstigen Dispositionen in äußerst ungünstiger Umwelt geschehen kann. Dazwischen liegen propor­tional gleitende Anteile beider Faktoren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

- Die Symptomatik der Neurose ist eindeutig durch die jeweilige Le­bensform der Gesellschaft geprägt; ihr Erscheinungsbild ist daher einem ständigen Wandel unterworfen. Während um die Jahrhundertwende Symp­tome der Hysterie im Vordergrund standen, sind es heute eher vegetati­ve Symptome wie zB Müdigkeit und Schwindel.

- Neben der intrakulturellen ist überdies die interkulturelle Betracht­ungsweise von Bedeutung, stellen doch chronische neurotische Störun­gen (und auch Verhaltensstörungen) - in entwickelten Gesellschaften ei­ne der größten Diagnosegruppen - in außereuropäischen Kulturen, be­sonders in tropischen Regionen, die ein geringes Pro-Kopf-Einkommen aufweisen, kein dringendes Problem dar: Obwohl die geschätzte Häufig­keit auch in den Tropen den Verteilungsmustern der westlichen Welt entspricht, finden diese Erkrankungen aber in den armen Gesellschaften wenig Aufmerksamkeit und sind folglich in der transkulturellen Psycho­logie und Psychiatrie kaum Inhalt von vergleichenden Studien. Ein wei­terer Grund liegt in der Schwierigkeit, neurotische Störungen von den Folgen der Mangelernährung, der Anämie, des Parasitenbefalls oder an­derer akuter körperlicher Erkrankungen abzugrenzen.

Neurotische Störungen fallen darüberhinaus in die therapeutische Do­mäne der angestammten Gruppe des heilkundigen Priesters mit seinen überkommenen Ritualen oder der Großfamilie mit den engen Gefühlsbin­dungen. Es kann jedoch als belegt gelten, daß die Häufigkeit von Neuro­sen und Persönlichkeitsstörungen sich in den ärmeren Teilen der Welt kaum von derjenigen unterscheidet, die die entwickelten Gesellschafts­strukturen kennzeichnet.[12]

In Zeiten zielgerichteter Anspannung sowie in Zeiten akuter existenzieller Bedrohung und Not (zB Krieg) treten die Neurosen ebenso wie die psycho­somatischen Erkrankungen seltener auf. Nicht die hohe Belastung ist ausschlaggebend für die Bildung der Neurose, sondern die fehlende Mo­tivation, solche Belastungen auf sich zu nehmen.

Manchmal - aber durchaus nicht immer - stehen bei der Neurose be­stimmte Symptome sehr stark im Vordergrund, woraus sich folgende Ausprägungsformen ableiten lassen:

B2. DIE ZWANGSNEUROSE (ANANKASMUS)

"Die Zwangsneurose äußert sich darin, daß die Leidenden von Gedanken beschäftigt werden, für die sich eigentlich nicht interessieren, Impulse verspüren, die ihnen fremdartig vorkommen und zu Handlungen veran­laßt werden, deren Ausführung ihnen zwar kein Vergnügen bereitet, de­ren Unterlassung ihnen aber ganz unmöglich ist."[14][13]

Neurotiker solchen Typs kommen also beispielsweise von Namen, Rhyth­men oder Melodien nicht los (Perseverationen); oder sie fühlen zwang­haf­te Impulse, be­stimmten, an sich normalen Tätigkeiten in abnor­maler Häufigkeit nachzu­gehen (zB Waschzwang, Kontrollzwang, Ordnungs­zwang,...). Auch Kleptomanie ("Stehlzwang") und Pyromanie ("Brandstiftungszwang") sind sowohl ihrer Entstehung als auch ihrer Symptomatik nach Anankasmen.

Weniger gravierende Zwangssymptome sind übertriebene Rituale bei täg­lichen Verrichtungen, starr fixierte Gewohnheiten, deren Änderung nicht möglich erscheint u.ä..

Nicht die Inhalte des Zwanges sind bedenklich, sondern ihr dominieren­der Charakter und die Unfähigkeit, sich von ihnen zu lösen; der Patient ist den Zwangserscheinungen in so starkem Maße ausgesetzt, daß er trotz wie­derholter Kontrollen seine Zweifel nicht besänftigen kann und die Zwangshandlungen oft bis zur völligen Erschöpfung wiederholt. Un­terbindet man die diese Zwangsphänomene, tritt meist starke Angst auf.

Zwangs­neu­rosen betreffen starre (rigide) Persönlichkeiten mit hochgra­dig ver­drängten, bedeutsamen Konflikten. Der übersteigerte gleichsam morali­sche Anspruch des ÜberIch ist dabei entscheidend[15]. Dieser resul­tiert in der Regel aus dem Verhalten und den Wertvorstellungen der El­tern. Da­bei mußten natürliche Bedürfnisse und Strebungen (oft sexueller Art) geleugnet werden. Der Waschzwang beispielsweise drückt das Schuldge­fühl darüber aus, nicht so rein zu sein, wie das rigide ÜberIch es ver­langt. Wird dieser zugrundeliegende Konflikt erkannt, so besteht die Möglichkeit, sich vom Zwang zu lösen. Die Prognose ist allerdings ungünstig; meist ist nur eine partielle Heilung in etwa 50% der Fälle möglich[16].

Die anankastische Reaktion wird durch strenge Erziehung - im besonde­ren durch unerbittliches Anhalten zur Ordnung, übertriebene Reinlich­keitserziehung des Kleinkindes, Verpönung sexueller Regungen und Fru­strierung kindlicher Triebbedürfnisse - gefördert.

-In vielen Fällen ist die Zwangsneurose auch mit phobischen Sympto­men gekoppelt. Die Zwangshandlungen sind dabei eine Folge der Erfah­rung, die der Patient macht, wenn durch diese bestimmten Handlungen die mit dem Zwangsimpuls verbundene Angst gelöscht wird.

B3. DIE ANGSTNEUROSE

Stefan Zweig, Angst

"Als Frau Irene die Treppe von der Wohnung ihres Geliebten hinabstieg, packte sie mit einem Male wieder jene sinnlose Angst. Ein schwarzer Kreisel surrte plötzlich vor ihren Augen, die Knie froren zu entsetzlich­er Starre, und hastig mußte sie sich am Geländer festhalten, um nicht jählings nach vorne zu fallen. [..] Fröstelnd stieg es in ihr auf, dies andere geheimnisvolle Grauen, nun wirr gemengt mit dem Schauer der Schuld und jenem törichten Wahn, jeder fremde Blick auf der Straße vermöchte ihr abzulesen, woher sie käme, und mit fremdem Blick ihre Verwirr­ung erwidern. [..] Draußen aber stand schon die Angst, ungedul­dig sie anzufassen, und hemmte ihr so herrisch den Herzschlag, daß sie immer schon atemlos die wenigen Stufen niederstieg. [..]

Nun saß das Grauen bei ihr im Haus und rührte sich nicht aus den Zim­mern. In den vielen leeren Stunden, die immer wieder Welle auf Welle die Bilder jener entsetzlichen Begegnung in ihr Gedächtnis zurückspülten, wurde ihr das Hoffnungslose ihrer Situation vollkommen klar. - Unab­wendbar war, das spürte sie jetzt mit entsetzlicher Gewißheit, das Ver­hängnis, unmöglich ein Entkommen. Aber was ... was würde geschehen? Von Morgen bis Abend rüttelte sie an der Frage. [..] Sie wußte nicht weiter, und ihre Vermutungen stürzten schwindlig ins Bodenlose."[17]

Ist die Angst das vorherrschende Erscheinungsbild, sprechen wir von einer Angstneurose, richtet sich sie sich auf bestimmte Objekte und Situationen, so handelt es sich um eine Phobie.

"Wir sprechen immer dann von Angst, wenn ein Gefühl der Beklemmung, der Ausweglosigkeit und qualvollen Erregung zu beobachten ist. Die körperlichen Erscheinungen, wie Herzklopfen, zugeschnürte oder trocke­ne Kehle, motorische Unruhe, Zittern, kalter Schweiß, Harndrang, Durch­fall,... sind nicht Folgen der Angst, sondern unmittelbares physi­sches Korrelat."[18]

z Jeder Neurotiker leidet unter Angst. Wird die Person aber aus­schließ­lich davon beherrscht, kann man von Angstneurose sprechen.

z Nicht jede Angst ist neurotisch. Es kann als geradezu pathologisch angesehen werden, wenn man unfähig ist, Angst zu empfinden[19]. Bei Be­drohung Angst zu verspüren, ist eine für das Überleben notwendige Fä­higkeit (Realangst). - Die sogenannte Existenzangst ist etwas spezi­fisch Menschliches; sie kann empfunden werden, wenn sich der Mensch als endliches und ungeborgenes Wesen begreift, das dem "Schwindel der Freiheit preisgegeben ist" (KIERKEGAARD).

z Die neurotische Angst steht demgegenüber mit verdrängten Triebim­pulsen in Verbindung, deren Auslebung als Bedrohung empfunden wird. Hier liegen die Wurzeln der Angst in nicht bewußten Bereichen; oft hat neurotische Angst auch mit gehemmten und verdrängten Aggressionen zu tun, die gegen die eigene Person gewendet werden.

[...]


[1] ZB gilt bei einem Begräbnis im Orient lautes Lamento der Hinterbliebe­nen, Kleiderzerreißen,... als Norm-Verhalten, in unserer Gesellschaft je­doch als unangemessen.

[2] C. BÜHLER ergänzt:

"Zu diesen Hauptkriterien der gesunden Persönlichkeit kommt meiner An­sicht nach ein weiteres, das mir von der Psychotherapie her als bedeu­t­ungsvoll erscheint. Es ist die Fähigkeit des Gesunden, sein Leben in sei­ner Kontinuität zu überschauen, während der Neurotiker oft ganze Le­bensabschnitte mehr oder weniger völlig vergißt."

[3] DD zur Psychose: Echte Psychotiker distanzieren sich bald von diesen flüchtigen Verkennungen der Realität (nach WESIACK).

[4] Der Begriff Verhaltensstörung dient den Verhaltenspsychologen als Sam­mel­bezeichnung für alle 'sozialrelevanten' Störungen: sowohl des Selbst­bildes (zB Minderwertigkeitskomplexe) wie innerhalb der Gruppen (zB An­passungs­störungen) und gegenüber der Gesellschaft (zB kriminelle Delin­quenz).

[5] Der Abusus (Mißbrauch) ist eine in einer sinnentleerten und angstmach­en­den Umwelt zunehmend auftretende Verhaltensstörung.

[6] "workoholics"

[7] Hinweis: Das Symbol "$" ist Abschnitten mit additiven Informationen vorangestellt, die dem Leser von Interesse sein können; für das Ver­ständnis des Gesamttextes sind diese Zusatzinformationen jedoch nicht be­deutsam.

[8] nach SCHULTE-TÖLLE.

[9] vgl. B9.

[10] lat. disposito = planmäßige Anordnung.

[11] nach F.ALEXANDER.

[12] nach H.HINTERHUBER (1987).

[13] syn. SymptomNeurosen.

[14] nach S.FREUD.

[15] Nach FREUD handelt es sich dabei psychodynamisch um eine Konflikt­folge zwischen Triebwünschen und dieser ÜberIch-Reglementierung.

[16] Therapiemöglichkeiten: Psychoanalytische Therapie bzw Verhaltensthe­r­apie; kurzfristig auch Antidepressiva.

[17] STEFAN ZWEIG: "Angst"; Wien 1910.

[18] nach SCHULTE-TÖLLE.

[19] Vergleiche hiezu das Kindermärchen "Von Einem, der auszog, das Fürch­t­en zu lernen", in dem diese Problematik in kindlich-heiterer Weise aufgearbeitet wird.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Psychische Störungen
Untertitel
Eine Einführung
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Institut für Psychologie)
Veranstaltung
Klinische Psychologie II
Note
1
Autor
Jahr
1996
Seiten
41
Katalognummer
V121688
ISBN (eBook)
9783640258550
ISBN (Buch)
9783640259984
Dateigröße
804 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychische, Störungen, Klinische, Psychologie
Arbeit zitieren
Mag. Arno Krause (Autor:in), 1996, Psychische Störungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121688

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