Neusachliche Motive in Erich Kästners "Fabian"


Hausarbeit, 2008

28 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Historischer Kontext — Die Weimarer Republik

3 Handlungsverlauf

4 Figuren
4.1 Jakob Fabian
4.2 Stephan Labude
4.3 Cornelia Battenberg
4.4 Irene Moll
4.5 Die vollkommene Mutter

5 Fabian als neusachlicher Roman
5.1 Die ‚neue‘ Frau
5.2 Das Zeitungswesen
5.3 Das Reklamewesen
5.4 Technik, Rationalisierung und Arbeitswelt
5.5 Film und Sport — weitere neusachliche Sujets

6 Die Geschichte eines Moralisten

7 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Monographien

Aufsätze in Sammelwerken

Internet Ressourcen

Das Zeitgemäße könnte nicht zeitloser gesagt werden als hier, es ist von Hölle und Irrenhaus die Rede, aber es klingt wie Musik, es ist durch den Filter der Kunst gegangen und voll Anmut geworden.

Hermann Hesse über F ab i a n

1 Einleitung

Zwischen Redaktionssitzungen, Theaterproben und Kinobesuchen schrieb Erich Kästner 1930 das Manuskript zum satirischen Roman F ab ian in einer Zeit, die zwischen der ver- siegenden Leichtigkeit der Goldenen Zwanziger Jahre und der katastrophalen Weltwirt- schaftskrise mit ihren ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Nachbeben zerris- sen war. Kästners Intention war es, der Gesellschaft einen Zerrspiegel vorzuhalten, die Lebensverhältnisse des großstädtischen Berlins nicht in Form eines Poesie- oder Photo- graphiealbums, sondern in einer übertreibenden Satire, zu schildern.[1]

Die vom Verlag abgelehnten ersten Titelvorschläge Sodom & Gomorrha und Der Gang vor die Hunde ließen die Blickrichtung des Autors erahnen. Er wollte vor Deutschlands und Europas Weg in den Abgrund warnen. Die schonungslos dokumentarische Satire — der Angestellten-, Großstadt-, Raum-, Entwicklungs- oder Bildungsroman[2] F ab ian — wird zur Literaturbewegung der neuen Sachlichkeit, die sich in der Weimarer Republik entfaltete, gezählt.

Die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zielt auf diese Zuordnung ab. Es soll anhand der im F ab ian behandelten Themen und Milieus sowie ihrer sprachlichen Verarbeitung untersucht werden, wie hoch der ‚neusachliche‘ Gehalt des vorliegenden Werkes ist. Hier- für wird vorab der politische und ökonomische Hintergrund der Weimarer Republik grob skizziert. Anschließend werden die Handlung zusammengefasst und einige Schlüsselfigu- ren näher charakterisiert. Dabei werde ich auf die vielen Berührungspunkte zwischen den Romanfiguren und dem Leben Erich Kästners aufmerksam machen. Anschließend werden Eigenschaften und Besonderheiten der Neuen Sachlichkeit erläutert. Darauf aufbauend wird die intensive Auseinandersetzung mit den Motiven ‚Frauenbild‘, ‚Zeitungs- und Wer- bewesen‘, ‚Film‘, ‚Technologie‘ und ‚Rationalisierung‘ analysiert. Seine Schilderungen der ‚neuen‘ Frau machen eine Generationskluft in der wissenschaftlichen Kästner-Rezeption deutlich. In den jüngeren Publikationen wird immer wieder die Doppelbödigkeit Kästners’ moralischer Haltung kritisiert. Daran schließt das Kapitel über den schon im Titel präfi- gurierten Moralismus an, worauf schließlich die Ergebnisse der Untersuchung resümierend zusammengeführt werden.

2 Historischer Kontext — Die Weimarer Republik

Die Weimarer Republik wurde 1919 als erster Staat mit demokratischer Verfassung auf deutschem Gebiet gegründet und fand 1933 mit der Machtübernahme der NSDAP ihr Ende. Das Experiment der liberaleren Demokratie fand vor dem Hintergrund extremer ökonomischer Verwerfungen statt, die sich auf dem politischen Werdegang der jungen Republik als unlösbares Problem herausgestellt haben. Die Metropole Berlin entwickelte sich dessen ungeachtet zum kulturellen und intellektuellen Mittelpunkt des Landes.

In der Nachkriegszeit zwischen 1919 und 1923 kam es zu einer Schwächung der so- zialmoralischen Bindungen durch die Erfahrungen von Krieg, Hunger, Umsturzversuchen und Inflation. Diese Verunsicherung zeigte sich frappierend in der Kriminalitätsstatistik. Bereits im ersten Weltkrieg steigerte sich die Jugendkriminalität dramatisch und signali- sierte den Zusammenbruch der überlieferten Autorität. 1922/23 explodierte die Erwach- senenkriminalität im Zeichen der Hyperinflation, die zum völligen Kollaps der deutschen Währung führte. Eine solche Massenkriminalität hatte es in Deutschland seit der Ein- führung der Statistik nicht gegeben; sie ist Zeichen des Zusammenbruchs bürgerlicher Ordnung. Es kam zu einem Verfall moralischer Verhaltensstandards und ihrer Ersetzung durch eine zeitgemäße Schiebermentalität — ein Prozess, der massenhaft und irreversi- bel wurde. Die Hyperinflation führte zu Geldverlusten in astronomischer Höhe. Es kam zu Arbeitslosigkeit und Hungerunruhen. Wettbewerbsvorteile auf dem internationalen Markt und billig aufgenommene Kredite machten viele Unternehmer und Spekulanten zu Inflati- onsgewinnern; außerdem begünstigte die massive Geldentwertung Hypothekenschuldner. Die großen Verlierer waren Mittelschichtler wie Angestellte und Beamte, Rentner und die Bezieher staatlicher Fürsorgeleistungen. Im November 1923 konnte durch die Einführung der Rentenmark die Inflation unterbrochen werden; dennoch haben sich die Erlebnisse der Inflationszeit tief ins kollektive Gedächnis gegraben.[3]

Die Goldenen Zwanziger von 1924 bis 1929 waren geprägt von ökonomischer Entspan- nung und außenpolitischen Erfolgen. Es herrschte wieder Hoffnung auf einen schnellen deutschen Wirtschaftsaufschwung, die Stabilisierungskrise wurde schnell überwunden und ausländisches — vor allem amerikanisches — Kapital floss in das Land. An die Rationa- lisierung der deutschen Wirtschaft wurden große Erwartungen geknüpft.[4]

Künstlerisch waren die Zwanziger Jahre indes eine überaus schöpferische Epoche. Die politisch interessierten Künstler der nachexpressionistischen ‚Neuen Sachlichkeit‘ thema- tisierten das Leben in der Großstadt, den gesellschaftlichen und technischen Wandel und die soziale Ungleichheit. Die Großstadt galt als der moderne Lebensraum schlechthin, denn sie versprach durch ihre Anonymität Befreiung aus nachbarschaftlicher Bevormun- dung und Einbindung in traditionelleStrukturen. 1920 ließ die administrative Bildung von Groß-Berlin die Stadt mit 4,3 Millionen Einwohnern zur drittgrößten Metropole der Welt nach New York und London werden. Ihre Multifunktionalität und ihr überwältigendes Medien- und Warenangebot vermittelte Metropolitanität. Durch die Einführung der 40- Stunden-Woche und der ersten tariflichen Urlaubsregelungen überhaupt wurde der Rah- men für die moderne Freizeit der lohnabhängigen Massen geschaffen. Ursprünglich dem Bürgertum vorbehaltene Vergnügungen standen nun potentiell allen offen: Kinopaläste, Rummelplätze, Varietes, Tanzsäle, und Boxarenen konkurrierten mit seriösen Bildungsan- geboten von Theater, Bibliothek und Volkshochschule. Massenkonsum und Freizeitkultur erhöhten die sozialen Gestaltungsmöglichkeiten großer Bevölkerungskreise und führten zu einer gewissen kulturellen Gleichstellung. Die Geschwindigkeit, mit der sich Veränderun- gen auf allen Ebenen des öffentlichen und privaten Lebens vollzogen, führte im Alltagsle- ben zu einem Pluralismus, der einerseits größere Freiheit für persönliche Entscheidungen bot, andererseits aber mehr Verantwortung — nebst daraus resultierender Unsicherheit im Umgang mit den neuen Lebensformen — nach sich zog. Diese scheinbare Widersprüch- lichkeit zwischen emanzipierter Freiheit und ängstlicher Unsicherheit ist bezeichnend für diese Epoche.[5]

Die Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 führte zum Zusammenbruch von Industrie und Banken. Die angespannte Haushaltslage bewirkte drastische Kürzungen der Beam- tenbezüge; Massenentlassungen der Lohn- und Gehaltsempfänger nie zuvor da gewesenen Ausmaßes folgten. Das Vertrauen in die Demokratie und die Republik sank ungebremst. Die Republik wurde für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich gemacht, die Ar- beitslosenzahl stieg auf über 5 Millionen; am stärksten von dieser Entwicklung betroffen war Berlin. Eine der auffälligsten Begleiterscheinungen der Weltwirtschaftkrise war eine beispiellose Selbstmordwelle, die sich mit dem Andauern der Depression auf alle sozia- len Schichten ausbreitete. Ähnlich katastrophal wie die wirtschaftliche Entwicklung ver- lief auch die politische. Die Regierung trat zurück, nachdem sie an den Schwierigkeiten der Finanzierung des Staatshaushaltes — insbesondere der Arbeitslosenversicherung — gescheitert war. Reichspräsident Hindenburg ließ Artikel 54 aus der Verfassung strei- chen, der ihn an das Parlament band, und konnte nach Artikel 53 der Verfassung einen

Reichskanzler seiner Wahl ernennen. Die Politik der autoritären Wende wurde mit Not- standsverordnungen bis zum 30. Januar 1933 — dem Tag der Machtübernahme durch die NSDAP — praktiziert.[6]

3 Handlungsverlauf

Die Handlung des Romans verläuft nicht linear, sondern in mehreren sich kreuzenden Handlungssträngen. Die 24 Kapitel haben Episodencharakter; jedem Kapitel sind drei schlagzeilenartige Überschriften zugeordnet. Die einzelnen Kapitel sind keine thematisch in sich geschlossenen Einheiten, aber beinahe jedes endet oder beginnt mit einem Orts- wechsel. Dadurch entsteht eine Dynamik, eine erzählerische Hektik, die der Geschwin- digkeit der Metropole Berlin entspricht. Der Protagonist Fabian streift scheinbar ziellos durch die Großstadt der frühen dreißiger Jahre und erlebt die Auswirkungen der gesell- schaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen.

Schon im ersten Kapitel macht Fabian die erste, für den Leser nachvollziehbare, Frau- enbekanntschaft in einem Etablissement zur „Anbahnung von Beziehungen“.[7] Es ist seine erste Begegnung mit Irene Moll, die er kurz darauf in ihre Wohnung begleitet. Dort angekommen, lernt er überraschenderweise ihren Ehemann kennen und wird über die herrschenden Verhältnisse ihrer Ehe aufgeklärt:

Nach dem ersten Jahr unserer Ehe setzten wir einen Kontrakt auf, dessen Para- graph 4 lautet: „Die Vertragspartnerin verpflichtet sich, jeden Menschen, mit dem sie in intime Beziehungen zu treten wünscht, zuvor ihrem Gatten, Herrn Doktor Felix Moll, vorzuführen. Spricht sich dieser gegen den Betreffenden aus, so ist Frau Irene Moll angewiesen, unverzüglich auf die Ausführung ihres Vorhabens zu verzich- ten. Jedes Vergehen gegen den Paragraphen wird mit einer hälftigen Kürzung der finanziellen Monatszuwendung geahndet.“[8]

Fabian ist entsetzt und verlässt fluchtartig das Haus. Seine Begegnungen mit Frauen werden noch mehrfach Einblicke in die — infolge der ökonomischen Krise und des sozialen Wandels — veränderte Sexualmoral bieten.

Im dritten und vierten Kapitel wird Fabians kritisches Verhältnis zu den Massenmedi- en und zur Werbewirtschaft behandelt, das durch die Schilderung seiner eigenen Anstel- lung in der Reklameabteilung einer Zigarettenfabrik vertieft wird. Das zentrale Thema dieser Episoden ist die Manipulation der öffentlichen Meinung. Fabian besucht in den folgenden Kapiteln gemeinsam mit seinem Freund Labude mehrere Vergnügungsstätten.

Ihre Freundschaft, politische Diskussionen, das Scheitern von Labudes Liebesbeziehung und schließlich die Eindrücke des Berliner Amüsierbetriebes prägen diese Episoden. Dabei kommt es wieder zu Frauenbegegnungen und dem Erleben sexueller Freizügigkeit.

Die Bekanntschaft mit Cornelia Battenberg stellt die einzige ernste Liebesbeziehung Fabians dar; der Moment des gemeinsamen Glücks ist ein Höhepunkt des Romans. Dieses Hochgefühl währt nur kurz, denn Fabian wird überraschend arbeitslos. Das Thema ‚Ar- beit‘ erfährt damit eine überraschende Wendung und einen Perspektivwechsel, der durch die Schilderung der Geschehnisse auf den Arbeitsämtern und der Bekanntschaft mit an- deren Arbeitslosen vollzogen wird. In seiner neuen Identität als arbeitsloser Intellektueller lernt Fabian den Erfinder kennen. Es folgt eine kritische Reflektion des technischen und ökonomischen Wandels der Zeit und dessen katastrophaler Folgen.

Fabians Albtraum im 14. Kapitel führt alle Handungsstränge in knapper Form zu- sammen. Technik erscheint im morbiden Zusammenhang mit Weltuntergang, Perversion und Unmoral. Kurz darauf verlässt ihn Cornelia zugunsten eines reichen Filmproduzen- ten. Ihr Ziel ist der Beginn einer Karriere als Filmschauspielerin. Nach dem beruflichen erlebt Fabian jetzt das private Scheitern. Er irrt wieder ziellos durch die Großstadt, im Be- griff, seinen Kummer durch Liebesabenteuer zu kompensieren. Der Suizid seines Freundes Labude aufgrund einer intriganten Lüge über die Ablehnung seiner Habilitationsschrift bedeutet für Fabian den dritten Schicksalsschlag innerhalb kürzester Zeit. Der beinahe zeitgleiche Verlust von Arbeit, Liebe und bestem Freund veranlasst Fabian, Berlin zu ver- lassen und in seine Heimatstadt Dresden zurückzukehren. Dort begegnet er mit kritischer Distanz alten Bekannten, nimmt beinahe eine Stellung bei einer rechts-konservativen Zei- tung an und sucht vergeblich nach Geborgenheit in der Provinzialität. Die vorbehaltlose Liebe seiner Mutter, die schon bei einem kurzen Besuch in Berlin eingeführt wurde, sta- bilisiert ihn kurzzeitig. Ratlos, wie er mit seinem weiteren Leben verfahren soll, stirbt er bei bei dem Versuch, einen ertrinkenden Jungen zu retten.

4 Figuren

4.1 Jakob Fabian

Bei der Hauptfigur — dem 32jährigen Germanisten Jakob Fabian — handelt es sich um einen ratlosen, passiven Beobachter, der das Berlin der Weimarer Republik durchstreift. Er treibt sich in Cafés, Nachtklubs, Kabaretts und Bordellen herum, besucht Zeitungsredak- tionen und Arbeitsämter, durchquert zahlreiche Viertel der Stadt und gewinnt dadurch ein facettenreiches Bild unterschiedlicher Milieus, die allesamt eines gemein haben: die völlige Abwesenheit von Sittlichkeit und Moral.

Fabian ist das verbindende Element der 24 Kapitel. Anfangs noch als Werbefachmann in einer Zigarettenfabrik tätig, verliert er bald seine Anstellung.[9] Fabians beruflicher Wer- degang steht exemplarisch für die Zeit der zwanziger Jahre. Er erfährt einen sozialen Abstieg, da er Tätigkeiten nachgeht, für die er eigentlich überqualifiziert ist. Seine Be- reitschaft zur Ausübung dieser Tätigkeiten ist im Kontext der Neuen Sachlichkeit als gesellschaftlicher Zwang zum modernen und flexiblen Menschen zu verstehen. Das Ver- hältnis zu seiner Anstellung in der Werbeabteilung der Zigarettenfabrik kann als Beispiel entfremdeter Arbeit verstanden werden: „Er tat seine Pflicht, obwohl er nicht wußte wo- zu“[10] und resigniert angesichts seines als sinnlos empfundenen Daseins in einem System, das ihm immer weniger Lebensraum bietet. Die Spannung zwischen der Kritik am System und der eigenen Resignation bestimmt Fabians Moralismus wesentlich.[11] Im Gegensatz zu Labude[12] glaubt er nicht daran, dass das System für das Wesen des Menschen bestim- mend ist[13], sondern vielmehr daran, dass Vernunft und moralische Integrität das System verändern werden.[14]

Fabian wirkt auf viele Frauen anziehend, ist aber nicht in der Lage, dauerhafte Bin- dungen einzugehen. Seinen Damenbekanntschaften gegenüber wirkt er fremdbestimmt und lässt sich treiben. Sie sind aktiver in das amouröse Treiben involviert und dominie- ren ihn. Das ändert sich, als er Cornelia Battenberg kennenlernt und sich in sie verliebt. Beflügelt von den Gefühlen der Zuneigung zu ihr regt sich erstmals ein Hauch sozialen Gestaltungswillens:

Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht: Vielleicht sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich doch ein wenig ernster nehmen und in dem wackligen Welt- gebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das Leben zu lieben und kein seriöses Verhältnis zu ihm zu haben.[15]

Diese Liebesbeziehung — die einen Gegenpol zur massenhaften Vereinsamung, den se- xuellen Exzessen und der Prostitution in Fabians Umfeld darstellt — endet jäh, als sich Cornelia an den Filmmagnaten Makart verkauft, um ihre Existenz nachhaltig ökonomisch abzusichern: „Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig macht.“[16] Damit erscheint ihm auch diese unschuldige Verbindung moralisch verkommen zu sein. Fabian kehrt zu seiner resignierten Position zurück, treibt durch die Großstadt und ver- sucht vergeblich, den Trennungsschmerz durch Liebschaften und sexuelle Abenteuer zu kompensieren. Nach dem Suizid seines engsten Freundes Labude kappt er seine Verbin- dung nach Berlin und kehrt in seine Heimatstadt Dresden zurück, in die vertraute Nähe der ihn vorbehaltlos liebenden Mutter und an den ihm fremd gewordenen Ort seiner Ju- gend. Hier überkommen ihn Zweifel an seiner Passivität. Fabian ertrinkt kurz darauf beim Versuch, ein Kind, das schwimmen kann, zu retten.

4.2 Stephan Labude

Die zweite wichtige Romanfigur ist die Korrespondenzfigur Fabians, sein Freund Stephan Labude. Er dient der Verstärkung des Eindrucks vom Verfall der bürgerlichen Ordnung, denn Labude verliert wie Fabian deren tragende Säulen: Liebe und Arbeit. Er entstammt einem wohlhabenden großbürgerlichen Elternhaus.[17]

Stephan Labude ist Germanist und hat in den vergangenen fünf Jahren an seiner Habilitationsschrift über Lessing[18] gearbeitet. Dieses Interesse bringt ihn ideell in die Nähe des Rationalismus. Auch seine familiäre Zukunft war genau geplant.[19]

Labude engagiert sich in einer linken Reformgruppe und glaubt an die Besserung des Menschen durch die Verbesserung seiner Umwelt und der herrschenden Verhältnisse. Seine akademische Karriere sieht er als einen Weg zum Aufbau eines Kulturstaates mit eingebür- gertem Proletariat und einem geeinten Kleinbürgertum. Im Roman dominiert allerdings häufig Fabians moralistische Position gegenüber Labudes politischer.

[...]


[1] Vgl. Kästner, Erich (1931): Fabian. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, 1979. S. 224.

[2] Vgl. Kiesel, Helmut (1981): Erich Käs tner. München: Beck, 1981. S. 90.

[3] Vgl. Peuckert, Detlev J. K. (1987): Die Weimarer Repub lik . Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987. S. 82 – 131.

[4] Rationalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang die Analyse und Optimierung von Arbeitsab- läufen. Die Erhöhung der Produktivität ist das Ziel der Rationalisierung, das durch die Investition in arbeitssparende oder arbeitsbeschleunigende Maschinen und Fließbänder, die Massenproduktion ermöglichen, verwirklicht wird. Durch die Rationalisierungsprozesse kam es zum Anwachsen eines Sockels struktureller Arbeitslosigkeit und zu einer Marginalisierung der Arbeiterschaft in den Krisen- jahren der Wirtschaft (1926, 1930 – 33).

[5] Vgl. Peuckert, 1987, S. 166 – 243.

[6] Vgl. Peuckert, 1987, S. 243 – 266.

[7] Kästner, 1931, S. 8.

[8] Ebd., S. 16.

[9] Zwischen der Figur Jakob Fabian und dem Leben Erich Kästners gibt es auffällige Parallelen: beide sind promovierte Germanisten, beide trugen vom Drill während ihrer Armeezeit ein schweres Herzlei- den davon, beide haben eine sehr enge Bindung an ihre Mutter und arbeiteten beide zwischenzeitlich als Adressenschreiber und im Reklamewesen und schließlich ist beiden gemeinsam, dass sie ihre Hei- matstadt Dresden verließen und nach Berlin zogen. (Vgl. Wagener, Hans (1984): Eri ch K äs tn e r. Berlin: Colloquium Verlag, 1984. S. 15 und Bemmann, Helga (1994): Eri ch Kästner. Lebenund Werk . Berlin: Ullstein Taschenbuch Verlag, 1994. S. 32, 40.)

[10] Kästner, 1931, S. 35.

[11] Vgl. Rauch, Marja (2001): Eri ch Kästner. Fabian, die Gesch ichtee in es Moralisten. München: Olden- bourg Schulbuchverlag, 2001. S. 32.

[12] „Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen.“ (Kästner, 1931, S. 46)

[13] „Und ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Abgesehen davon, daß es nie zustande kommen wird.“ (Ebd., S. 46)

[14] „Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit be- schäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.“ (Ebd., S. 46)

[15] Ebd., S. 97.

[16] Ebd., S. 144.

[17] Marja Rauch sieht in dem kalten, entfremdeten Verhältnis zu seinen Eltern ein Indiz für den Zerfall der großbürgerlichen Familie: während Labudes Mutter die meiste Zeit im italienischen Ferienhaus verbringt, gibt sich sein Vater verschiedenen Geliebten hin (Vgl. Rauch, 2001, S. 50). Labudes Mutter erfährt durch ein Telegramm vom Tod ihres Sohnes, sein Vater liest darüber in der Zeitung.

[18] Hier ist eine Parallele zwischen der Figur Labude und dem Leben Erich Kästners sichtbar. Kästner wollte ursprünglich in Berlin seine Dissertation über Lessings Hambur gische Drama turgie schreiben, sah sich aber gezwungen, das weite Thema zugunsten eines engeren aufzugeben. (Vgl. Wagener, 1984, S. 15)

[19] „Er organisiert gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die fünfte Stelle nach dem Komma ausgerechnet.“ (Kästner, 1931, S. 86)

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Neusachliche Motive in Erich Kästners "Fabian"
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Seminar "Literatur in der Diktatur"
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
28
Katalognummer
V122028
ISBN (eBook)
9783640272815
ISBN (Buch)
9783640273096
Dateigröße
626 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erich, Kästner, Fabian, Neue Sachlichkeit, Weimarer Republik, Zwanziger, Goldene Zwanziger, Literatur, Angestelltenroman, Massenkultur, Berlin
Arbeit zitieren
Joachim Schmidt (Autor:in), 2008, Neusachliche Motive in Erich Kästners "Fabian", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122028

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