Verstehen und Verständigung auf den Wegen zum Sinn


Wissenschaftlicher Aufsatz

16 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Was wir verstehen wollen: Materielles und Immaterielles – Materie und Geist, Personen, Sachen und Ereignisse

2. Das Missverständnis ergibt sich von selbst, während das Verstehen immer erst gesucht werden muss.

3. Man kann eine Person besser verstehen als sie sich selbst versteht.

4. Man versteht anders, wenn man überhaupt versteht.

5. Ermöglicht Verstehen „objektive Erkenntnis“?

6. Alles verstehen heißt alles verzeihen.

Literaturverzeichnis

Es gibt Verstehen ohne Verständigung, aber keine Verständigung ohne Verstehen. Was heißt das und was bedeutet es? Wir verstehen Einiges und manches nicht. Hin und wieder verstehen wir die Welt nicht mehr – oder auch uns selbst nicht. Also ist hier ein Können, ein Handeln impliziert. Wir können Einiges schon vorgeburtlich; später lernen wir das hinzu, was wir verstehen. Wenn du nicht verstehst, wie man ein Fahrrad repariert, wirst du es nie lernen.

Was folgt daraus? Offensichtlich gehört das Verstehen in größere Zusammen-hänge, in teilweise unüberschaubare: „die Welt“, „wir selbst“, „die anderen“ usw. Zum Handeln aus Verstehen – zum verständigen Handeln – gehören Ziele und Zwecke, zumeist individueller, eigentümlicher, zuweilen nicht leicht überschau-barer, nicht ohne Weiteres erkennbarer Art. – Was ist dieses Weitere? Es betrifft – im Nexus von Verstehen und Verständigung – natürlich beides: Wir können uns verständlich (verstehbar?) machen, auch wenn nicht jedermann uns versteht. Wir können uns mit anderen verständigen – oder auch nicht. Aber Verständigung ohne Verstehen? Das geht gar nicht! Ich muss die Ansichten meines Gegenübers, meiner Partner/innen zumindest annähernd verstanden haben, wenn ich mich mit ihnen auf irgend etwas verständigen bzw. einigen will. Einheiten der Verständi-gung sollen gefunden werden, oft in Form von Kompromissen. Das gilt wohl „im Kleinen“ wie „im Großen“.

Nicht selten verhindern sprachliche und/oder ideologische Barrieren („Diskre-panzen“) sowohl das Verstehen als auch die Verständigung. Reicht denn „schlechtes Englisch“ (‚bad english‘) als lingua franca, als Basis weltweiten Verstehens? Oder wird alles erst besser, wenn wir unser fremdsprachiges Gegenüber demnächst per Skype-Direktübersetzung oder technische Simultan-Übersetzung per Kopfhörer „verstehen“ können, obwohl dabei vielleicht die sonst mitschwingenden Nebenbedeutungen (Konnotationen) fehlen und die para-lingualen (nicht-verbalen) Begleit-Zeichen nicht mehr stimmen? Sprachen bestehen ja nicht nur aus Grundbedeutungen und nicht nur aus Bedeutungen, die in bestimmten Umfeldern und Konnotationen realisiert werden (können). Zur Sprache gehört Weltwissen. Wir werden unsere Gesprächspartner/innen nie wirklich verstehen, wenn wir das (multi-)kulturelle Milieu, dem sie entstammen, außer Acht lassen oder nicht erkennen können.

All dies macht Verständigung – auch Völker-Verständigung – manchmal so schwierig. Wer oder was hilft da weiter? Vielleicht Samuel Huntington, der in seiner Theorie der Zivilisation den „Zusammenprall der Kulturen“ (‚The Clash of Civilizations‘) beschwört? Wohl kaum.

Wenn aber das Verstehen zu Recht als Voraussetzung jeglicher Verständigung gilt, muss zunächst das Verstehen verstanden werden. Worauf bezieht sich denn das Verstehen? Was ist sein „Gegenstand“, was sind seine Referenz-Objekte? Ich behaupte: Es bezieht sich im Wesentlichen auf Materie und Geist, Personen, Sachen und Ereignisse, wobei ich die erstere Unterscheidung für grundlegend halte.

1. Was wir verstehen wollen: Materielles und Immaterielles – Materie und Geist, Personen, Sachen und Ereignisse

Warum aber unterscheiden wir überhaupt zwischen Materie und Geist? Täten wir es nicht, gäbe es wohl nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist alles materiell (alles wäre Materie) – oder es ist immateriell, so dass es gar keine Materie gibt, wie HHHans-Peter Dürr behauptet1. – Jedoch: Gäbe es keine Materie, gäbe es keinen (geformten, formhaltigen) Stoff, kein Zusammenspiel, keine Symbiose von Form und Substanz. (Substanz, mit Walter Schulz hier verstanden als ein „Inbegriff von Gesetzen“2, bezogen auf ein stoffliches Substrat, z.B. Atome und Moleküle.) Dass Atome so verstanden werden können, ist nicht zu bezweifeln. Also gibt es hinreichend Grund zu der Annahme, dass der Begriff Materie sich nicht nur auf ein Signifikat, einen sprachlichen Inhalt, bezieht, sondern auch auf die tatsächlich vorhandenen Referenzobjekte ‚Wirklichkeit‘ und ‚Realität‘. Es gibt also die Materie – realiter und in Wirklichkeit.

Was folgt nun daraus? Gibt es nur die Materie und nichts Immaterielles? Wenn nicht, müssten Referenzobjekte zu finden sein, die durch den Begriff Materie nicht zutreffend bezeichnet werden können. Und damit könnte durchaus das Immaterielle gemeint sein – im umfassenden Sinne wohl das, was wir Geist nennen. Bekanntlich ein zentraler Begriff des Idealismus. Ideen sind „Anschau-ungsformen“ des Denkens, des Bewusstseins. Denken ist eng an Sprache gebunden. Wer das Bewusstsein – auch wie Hegel als „Vorstufe“ des Geistes – erklären will, braucht eine Theorie der Sprachentstehung. Die weitestgehende der mir bekannten diesbezüglichen Theorien ist die von Lothar Wendt vorgeschlagene.3 Demnach beruht Sprache auf ursprünglichen, „teleonomischen“ Informationen, die sich bis hin zu den uns bekannten Anfänge der Evolutions-geschichte zurückverfolgen lassen. Schon im Big Bang („Urknall“) entsteht informationshaltige Materie. Diese enthält Möglichkeiten, Entelechie: Zweck- und Zielgerichtetheit, die teleologisch wahrscheinlich als Teleonomie (Ziel- und Zweck-Gesetzlichkeit) verstanden werden kann. Evolutionsgeschichtlich liegt die so verstandene Materie mit ihrer Information auch der Entstehung der Lebewesen zu Grunde. So dass die Evolution der Sprache von ursprünglichen (sub)atomaren und molekularen Codes zu Tier- und Menschensprachen durchgängig (wenn auch nicht vollständig) analysiert werden kann. 4

Menschensprache entwickelt sich parallel zum Bewusstsein. Dieses ist seit langem selbst-reflexiv, selbst-referentiell. Gedanken formen und verändern das Bewusstsein und umgekehrt, was sich auch auf die Synapsen-Strukturen der Gehirnzellen auswirkt. Dies bedeutet zwar nicht, dass Gedanken die materielle Grundstruktur des Gehirns bzw. der Nerven-„Verdrahtungen“ verändern, wohl aber, dass Gedanken die im Gedächtnis gespeicherten Inhalte des Denkens beeinflussen und verändern (können), einschließlich der Bedeutungs-Assozia-tionen (Denotationen und Konnotationen, Grund- und Nebenbedeutungen) der Sprache. Darüber hinaus ist seit langem bekannt, dass es „Rückwirkungen“ von Geistig-Seelischem auf Körperliches gibt, so in der Psychotherapie, beim Auto-genen Training, beim Meditieren usw. – Die Biomedizinerin Candace B. Pert bezeichnet die informationelle Interaktion in den Körperzellen als „Körpergeist“.5 Wobei Informationen und Gefühle zwischen Leib und Seele / Geist und Körper vermitteln sollen. – Weitergehende Schlussfolgerungen wagen einige Quanten-physiker und -philosophen.6

Erst recht kompliziert wird die Sache durch mindestens 2 Faktoren: 1. das Unter-bewusstsein, 2. die nicht-sprachlichen Bedeutungen. Bilder, Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen und Vorstellungen haben für uns Bedeutungen, auch wenn diese nicht sprachlich „erfasst“ oder ausgedrückt werden. Die Entstehung und Entwicklung sowohl des Unterbewusstseins als auch der non-verbalen Bedeutungen zu erklären, ist Aufgabe evolutionärer Bewusstseinstheorie und der Naturwissenschaften. Grundlagen hierfür bei: H. Benesch: Der Ursprung des Psychischen aus neuronalen Formprinzipien. Neuropsychologische Theorie, Tübingen 1974, sowie ders.: Der Ursprung des Geistes.Wie entstand unser Bewußtsein? – Wie wird Psychisches in uns hergestellt? Stuttgart 1977.

Aber was ist denn nun der Geist? Anscheinend zunächst einmal eine Verwirk-lichung von Möglichkeiten der Materie (s.o.). Schelling ging immerhin so weit, auch der Natur Geist zuzusprechen, und zwar als dialektische, „objektive Subjekt-Objekt-Beziehung“, während der Geist des Menschen als subjektive Subjekt-Objekt-Beziehung dialektischer Art zu verstehen sei 7 Die erstere, auf die Natur bezogene Annahme beruht auf theologischer Spekulation (Pantheismus); die zweite dürfte auch heute noch wissenschaftlich belegbar sein, zumal mentale Objekte auch neurowissenschaftliche Begriffe sind (Jean-Pierre Changeux 1983): Im Gehirn finden tatsächlich nachprüfbare Subjekt-Objekt-Beziehungen statt. Wir beziehen uns anscheinend ständig auf unsere Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstel-lungen und sprachlich und/oder nicht-sprachlich vermittelten gedanklichen Operationen. Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Verstand und Vernunft lassen sich dadurch zumindest teilweise erklären. Hierdurch eröffnen sich Möglichkeiten neuer dialektisch-materialistisch fundierter Erklärungen, u.a. auch der Hegelschen Phänomenologie des Geistes, ohne in alte, überwundene Dualismen zurück-zufallen.

Auch für Hegel ist der Geist eine dialektische Subjekt-Objekt-Beziehung. Weitere idealistische Bestimmungen des Geistes, wie sie bei Hegel zu finden sind, lassen sich wissenschaftlich neu erklären. Wahrscheinlich eine Herkules-Aufgabe… Stichwörter (aus Hegels ‚Phänomenologie‘): Triebe, Wahrnehmung, Anschauung, Vorstellung, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Verstand, Vernunft, freier Geist, freier Wille, Sittlichkeit, Moralität, Recht, Staat, Weltgeschichte („Substanz“), Kunst, Religion, Philosophie, Logik, das Absolute – ohne Hegel ergänzbar durch Empfindungen, Gefühle, Emotionen, Empathie, Individuum, Person, Persön-lichkeit, Gesellschaft u.a.m.

Fazit: Es erscheint nicht nur möglich, sondern auch notwendig, zwischen Geist und Materie zu unterscheiden, und zwar nicht dualistisch, sondern durchaus monistisch insofern, als beiden Begriffen das In-Möglichkeiten-Sein der Materie (Ernst Bloch) zu Grunde gelegt werden kann. Beide Begriffe sind notwendig, um die Wirklichkeit – und damit auch das in der Natur Wirkende, das mehr ist als bloße ‚Realität‘ – möglichst adäquat zu verstehen. Ulrich Warnke spricht von einem „Meer aller Möglichkeiten“ (s.o. Fußnote Nr. 6).

Bedeutet dies nun, dass wir das Verstehen als solches erst dann adäquat verstehen können, wenn Hegels Phänomenologie des Geistes umfassend dialektisch-materialistisch neu bedacht und fundiert worden ist? Wohl kaum, und zwar schon deshalb nicht, weil es Verstehenslehren (Hermeneutik) gibt, die zwar teilweise von Hegel ausgehen, aber nicht bei ihm stehen geblieben sind, so dass zwar die Unterscheidung zwischen Geist und Materie hermeneutisch zu begründen ist (s.o.), nicht aber die Hermeneutik selbst, nicht ihre „einschlägigen Ergebnisse“. Was allerdings nicht bedeutet, dass diese Ergebnisse gegenüber jeglicher Kritik immun oder gar kritiklos zu übernehmen sind.

Darüber gibt es massenweise Literatur. Raschen Überblick ermöglichen dennoch immer noch einige wenige Grund-Sätze (Leitsätze) der Verstehenslehre, die samt und sonders, zumindest sinngemäß, in Hans-Georg Gadamers Standardwerk ‚Wahrheit und Methode‘ zu finden sind. Ich meine

2. Das Missverständnis ergibt sich von selbst, während das Verstehen immer erst gesucht werden muss.

Und wieso ergibt sich das Missverständnis von selbst? Sorgen nicht unsere „Spiegel-Neuronen“ („Imitations-Neuronen“) für das Gegenteil? Angeblich sichern diese Neuronen nicht nur Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Mitlei-den-Können (Empathie), sondern auch jede Art von Verstehen, zumal in sprachlicher Kommunikation. Angeblich. Die Forschungslage sieht anders aus. „Zahlreiche Unstimmigkeiten in den Theorien der Spiegelneuronen-Verfechter“ hat der Hirnforscher Gregory Hickok herausgefunden.8 Und Kai Vogeley fügt hinzu: „Welche Funktion Spiegelneuronen haben, ist eine offene Frage. … Beim Menschen sind wohl zwei Netzwerke für soziale Wahrnehmung wichtig: das Spiegelneuronensystem und das soziale neuronale Netzwerk um den medialen präfrontalen Kortex.“ (In: Ch. Wolf a.a.O. S. 2, s. Fußnote Nr. 8)

In die Alltagssprache übersetzt bedeutet das: Bei Affen und Menschen sind Spiegelneuronen vorhanden, aber man weiß nicht genau, wie sie funktionieren. Das Verstehen lässt sich mit ihnen (noch?) nicht erklären – und auch nicht die unbestreitbare Tatsache, dass zwischen Menschen immer wieder Miss-verständnisse das Verstehen verhindern. Woran liegt es denn dann? Mit Sicherheit zunächst an der simplen, unbestreitbaren Tatsache, dass Menschen unverwechsel-bare Individuen sind, deren Individualität sich schon vorgeburtlich herausbildet, und zwar u.a. durch die Anfänge des Wertens. – Damit beginnen auch meine ‚Wege zum Sinn‘ (Hamburg 2015). Werte sind offenbar vorhanden, noch ehe wir uns ihrer sprachlich bzw. intellektuell bewusst werden. Sie begleiten jeden Le-bensweg, relativ flexibel, wandelbar, in unterschiedlichen Bahnen und (Gehirn-) „Bahnungen“. Spätestens dann, wenn wir dieser Prägung und Beeinflussung durch Werte und Wertungen gewahr werden, stellen wir fest, dass wir anders werten als unsere Mitmenschen. Das Unterbewusstsein verstärkt diese Unter-schiede. Eigenwille, Eigensinn, Trotz, Angst, Widerwillen gehören zu jeder Kindheit wie die Erfahrung, dass wir unsere Mitmenschen nicht zu hassen brauchen, um Kompromisse zu ermöglichen. Spiegelneuronen und das „soziale neuronale Netzwerk“ wachen in jedem Gehirn seit frühester Kindheit darüber, dass Eigenwille und Eigensinn (Egoismus) nicht jeglichen Altruismus verhindern.

Werte-Konflikte sind vorprogrammiert, können aber gelöst werden, wenn auch nicht immer. Wir können das Verstehen anstreben, aber warum? Weil Werte automatisch Sinn ergeben? Nicht ohne Weiteres! Vielleicht bedarf es sogar einer Theorie des Sinns, um Werte beurteilen zu können, so dass Wert-Konflikte lösbar, wenn nicht vermeidbar werden. (Weiteres auch in: Klaus Robra: Person und Materie. Vom Pragmatismus zum Demokratischen Öko-Sozialismus, München, GRIN-Verlag 2017, www.grin.com/de/e-book/375344/ )

3. Man kann eine Person besser verstehen als sie sich selbst versteht.

Schleiermacher (1768-1834) bezog diesen Satz auf Schriftsteller/innen, natürlich als Personen. Gadamer sah in diesem Satz sogar „das eigentliche Problem der Hermeneutik beschlossen“.9 Warum? Laut Gadamer: Wer eine „Produktion“ (d.h. jegliche Art von Äußerung und Mitteilung) einer Person verstehen will, bemüht sich um „Reproduktion“, d.h. um einen Nachvollzug dessen, was die Person mitteilt. In diesem Nachvollzug entsteht aber ein „Mehr an Erkenntnis“, und zwar durch den als „Interpretation“ verstehbaren Akt des Verstehens selbst (ebd.). Wobei ein gewichtiger Unterschied ausschlaggebend zu sein scheint: Wer – als Produzierende/r – etwas äußert, mitteilt, kommuniziert, vollzieht damit noch keineswegs einen Akt des Verstehens. Der/die Produzierende ist im Augenblick des Produzierens nicht Interpret/in der Äußerung der eigenen Person. Man versteht nicht, sondern handelt, indem man produziert. Es ist vielmehr der/die Adressat/in, der/die das Gesagte, Geschriebene, Getane verstehen will, verstehen muss, wenn die Kommunikation aufrecht erhalten bleiben soll. Bei Gesprochenem erkennen wir oft erst an Mimik und Gestik, was unser Gegenüber uns mitteilen will; Gesagtes will als Gemeintes verstanden werden – Verstehensleistungen, die dem/der Produzenten/in gar nicht abverlangt werden (können). Folglich verstehen wir – jedenfalls im Augenblick des Verstehens – die handelnde/ schreibende/redende Person besser als sie sich selbst „versteht“. (Denn sie kann sich selbst ja nicht unmittelbar, sondern allenfalls im Nachhinein, gestützt auf zeitlichen Abstand, überhaupt verstehen.)

4. Man versteht anders, wenn man überhaupt versteht.

Wie kommt Gadamer zu dieser Behauptung? Fruchtbar werden soll der (Zei- ten-)Abstand zwischen Urhebern und Interpreten. Verstehen bedeutet – zumindest sprachlich – Sinn-Verstehen. Sinn erschließt sich aber erst aus größeren Zusammenhängen, möglicherweise ganz anderen als denen, die für den Akt der Produktion maßgeblich waren. „Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten.“ (Gadamer a.O. S. 280), und zwar nicht im Sinne von „Besserverstehen“, sondern weil das reproduzierende Verstehen eben etwas Anderes ist als das Produzieren, so dass Gadamer folgert: „Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.“ (ebd.) –

„Anders“ verstehen, obwohl sich Missverständnisse von selbst ergeben? Wie kann da noch zwischen „Andersverstehen“ und „Falschverstehen“ (Missverständnis) unterschieden werden? Auch für dieses Problem hält Gadamer eine Lösung parat, denn – merkwürdiger und wohl auch widersprüchlicher – Weise lautet der nächste Grundsatz, als Frage formuliert:

5. Ermöglicht Verstehen „objektive Erkenntnis“?

Wodurch entsteht der Widerspruch? Durch Heidegger ! Wie dieses? Weil Heidegger den Historismus angeblich dadurch überwindet, dass er den Zeit(en)abstand für das Verstehen fruchtbar macht.10 Demnach kann man angeblich zu „historischer Objektivität“ gelangen, auch wenn man nicht, wie die Historisten, versucht, möglichst sämtliche Bedingungen, Umstände und Zusammenhänge einer Äußerung (Text-Produktion etc.) möglichst vollständig zu rekonstruieren, sondern sich stattdessen auf das eigene Wissen und Vermögen verlässt (verlassen kann?). „Sichere Maßstäbe“ sollen erreicht werden, allerdings nur unter der unabdingbaren Voraussetzung des Zeitenabstands, in dem „das Absterben aller aktuellen Bezüge“ ein „ Verständnis“ ermöglicht, „das verbindliche Allgemeinheit beanspruchen kann“ (ebd.). Somit also Verstehen = Verständnis? Und : „verbindliche Allgemeinheit“? Aha! Und wie verträgt sich gerade diese mit der prinzipiellen Andersartigkeit des je individuellen Verstehens (s.o.)?

Immerhin geht die angebliche „allgemeine Verbindlichkeit“ so weit, dass „aus einem gewissen geschichtlichen Abstande heraus objektive Erkenntnis erreichbar“ werden soll (ebd.), und zwar bis hin zur „Ausschaltung des subjektiven Anteils des Betrachters“ (a.O. S. 282). – Wie nun? Entfällt nunmehr mit dem Subjektiven auch die „Andersartigkeit des Verstehens“? Ist diese Andersartigkeit etwa plötzlich nicht mehr subjektiv? Gadamers Lösung: In einem letztlich „unend-lichen Prozess“ des Verstehens soll es möglich werden, Neues zu vollbringen, nämlich „stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren“, zu erschließen (ebd.). Und: „Der Zeitenabstand, der die Filterung leistet, hat nicht eine abgeschlossene Größe, sondern ist in einer ständigen Bewegung und Ausweitung begriffen.“ (ebd.) –

Je nun! Bedeutet dieses Konzept etwa, dass der Zeitenabstand an die Stelle des „ausgeschalteten“ Subjektiven tritt? Kaum vorstellbar! „Sinnbezüge“ kann es doch wohl ohne Subjekt nicht geben. Um derartige Kalamitäten und Aporien zu vermeiden, entwickelt Gadamer weitere Konzepte, die letztlich auf dialektische Verbindungen von Subjektivem und Objektivem hinauslaufen, darunter das „wirkungsgeschichtliche Bewusstsein“ und die „Horizontverschmelzung“ (a.O. S. 283 ff.). Verstehen ist für Gadamer nunmehr „seinem Wesen nach ein wirkungs-geschichtlicher Vorgang“ (ebd. S. 283). Verschmolzen werden sollen die Horizonte der Gegenwart und der Vergangenheit. Voraussetzung für Verstehen ist u.a. das „Gewinnen der rechten Frage“ (S. 285), das wiederum durch die Wirkungsgeschichte (einer Tat, eines Textes usw.) und damit u.a. durch die jeweilige Forschungsgeschichte und Forschungslage bedingt ist. Weite Begriffe! Sie hier im Detail zu erklären, würde zu weit führen.

Jedenfalls wird durch diese Konzepte nicht „objektive Erkenntnis“ erreicht, sondern eine Verschmelzung von Subjektivem und Objektivem in der Person des/der Verstehenden (Interpreten). Ohne Subjekt-Objekt-Dialektik (das, was Schelling den „Geist im Menschen“ nannte) scheint also kein Verstehen und kein Verständnis möglich zu sein. Und: Ob Verstehen tatsächlich gelingt, lässt sich weder „rein subjektiv“ noch „rein objektiv“ und auch nicht auf Grund angeblicher „Horizontverschmelzung“ feststellen, sondern wahrscheinlich nur auf Grund zwischenmenschlicher Vereinbarung (Konsens), beruhend auf intersubjektiv überprüfbarer Erkenntnis, Einsicht und Zustimmung.

Wobei ohnehin zu beachten ist, dass die klassische Hermeneutik sich vornehmlich auf die großen Traditionen der Philosophie- und Geistesgeschichte bezieht. Im Alltagsleben werden die Maßstäbe nicht so hoch gestelzt, wird vornehmlich mit Wasser gekocht. Verstehen gelingt da so oder so, mehr oder weniger oder gar nicht, auch wenn nicht darüber nachgedacht wird.

Generell sind Verstehen und Verständigung, Konsens und Übereinkunft möglich, weil die Welt nicht nur aus unterschiedlichen Subjekten besteht. Übereinkommen, sich verständigen können unterschiedliche Subjekte über gemeinsame Objekte in gemeinsamen Objekt-Welten. Über einen Vertragstext kann man sich einigen, wenn die Vertragspartner/innen den Text sprachlich verstanden und inhaltlich über Bedeutung, Sinn und Tragweite des Textes Einigkeit erzielt haben. Die Aussagen des Textes müssen zutreffen, wahr sein, d.h. mit ihren Referenz-Objekten (den Personal-Angaben, Sachverhalten, Bewertungen usw.) über-einstimmen (‚adaequatio rei et intellectus‘, die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die sich – zumindest im Alltagsleben – nach wie vor bewährt!). Ein Mietvertrag ist objektiv und intersubjektiv gültig, ohne dass Mieter und Vermieter deshalb ihre subjektiven, persönlichen Identitäten aufzugeben hätten. „Schnittmengen“ zwischen Subjekten ergeben sich dann, wenn ihre Objekt-Welten sich überschneiden. Verstehen beruht nicht zuletzt auf Übereinkünften hinsichtlich gemeinsamer Objekte, auch wenn die Objekt- Interessen (das subjektive Interesse an bestimmten Objekten) nicht immer übereinstimmen.

Relativ stark vereinfacht oder auch: modellhaft auf Wesentliches reduziert, lässt sich diese Erkenntnis folgendermaßen veranschaulichen:

Kreise des Verstehens und der Verständigung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(S1: Subjekt 1, S2: Subjekt 2, O1: Objekt 1 – geht von S1 aus, O2: Objekt 2 – geht von S2 aus, O3: Objekt 3 = (mögliches) Ergebnis des Verstehens- und Verständigungsprozesses zwischen den Partner/innen der Kommunikation. Verständigung findet also im inneren Kreis statt.)

Zu den speziellen Problemen des wissenschaftlichen Verstehens gibt es einschlä-gige Standard-Werke wie die Logik der Forschung von Karl. R. Popper; s. auch: Robra 2018, https://www.grin.com/document/429613. Popper lässt keinen Zwei-fel daran, dass auch für den wissenschaftlichen Wahrheits- und Verstehensbegriff die Korrespondenztheorie der Wahrheit eine unentbehrliche Grundlage bildet, so wenn er feststellt:

„Die fundamentale methodologische Idee, daß wir aus unseren Irrtümern ler-nen, kann nicht ohne die regulative Idee der Wahrheit verstanden werden: Der Irrtum, den wir begehen, besteht ja darin, da0 wir, mit dem Maßstab oder der Richtschnur der Wahrheit gemessen, das uns gesetzte Ziel, unseren Standard, nicht erreicht haben. Wir nennen eine Aussage >wahr<, wenn sie mit den Tat-sachen übereinstimmt oder den Tatsachen entspricht oder wenn die Dinge so sind, wie die Aussage sie darstellt. Das ist der sogenannte absolute oder objektive Wahrheitsbegriff, den jeder von uns dauernd verwendet … Diese Bemerkung setzt voraus, dass der Wahrheitsbegriff unterminiert war. Und in der Tat, die Unterminierung des Wahrheitsbegriffes hat zu den herrschenden relativistischen Ideologien unserer Zeit den Hauptanstoß gegeben.“11

6. Alles verstehen heißt alles verzeihen.

Könnten wir denn überhaupt jemals alles verstehen? Wohl kaum. Sollten wir alles verzeihen? Auch Auschwitz, Hiroshima, jeglichen Terror? Wer Bosheit erleidet, Schlimmstes erlebt, soll dennoch Verständnis aufbringen? Fragen über Fragen, beängstigende Fragen! Die obendrein noch auf Grundfragen der Ethik abzielen. Auf eine Ethik der Person, die ich exemplarisch an Hand von Kants „Zweck-formel“ des Kategorischen Imperativs dargestellt habe (in: Wege zum Sinn S. 250-259).

Ethik bildet den Rahmen für fast alle Fragen nach Wert und Sinn allen Tuns und Handelns. Personale Ethik lässt sich nicht durch bloße Situations- oder Interessen-Ethik ersetzen. Verständnis für eine Person kann nur aufbringen, wer diese Person achtet, und zwar als Selbst-Zweck, niemals als bloßes Mittel zum Zweck. Wird dies beachtet, scheint auch (fast) jede Art von Verständigung möglich, einschließlich derjenigen zwischen Völkern und unterschiedlichen Gesellschaften.

Und was bedeutet demnach der Leitsatz Nr. 5? Vielleicht dieses: Verzeihen ist möglich, wenn Verstehen gelingt. Aber: Ist nicht umgekehrt Verzeihen(-Können) Voraussetzung für Verstehen? Verzeihen und Verstehen bedingen sich wechselseitig. Nötig ist die grundsätzliche Bereitschaft zu beidem – trotz aller „Unheiligkeit“ und (potentieller) Bosheit der Individuen. Selbst über schlimme Taten der Vergangenheit kann man zumindest zeitweise hinwegsehen, wenn man in der Lage ist, ihre Motive und Hintergründe zu verstehen. Leitsatz Nr. 5 besagt also: Verständigung, Eintracht, Harmonie und Solidarität sind möglich, wenn Verstehen gelingt. Es kann nicht zuletzt dann gelingen, wenn man Kants Zweckformel beachtet, die anscheinend problemlos zu einer neuen Natur- und Öko-Ethik erweitert werden kann. Was ich in meinem 2017 im GRIN-Verlag, München, erschienenen Buch Person und Materie, S. 126 ff. (in: www.grin.com/de/e-book/375344/) sowie in Ethik der Verhaltenssteuerung. Eine Neubegründung, München 2020, (in: https://www.grin.com/document/923015) näher begründet habe.

Literaturverzeichnis

Dürr, Hans-Peter 2011: Geist, Kosmos und Physik, Amerang

Gadamer, Hans-Georg 1965: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philo-sophischen Hermeneutik, Tübingen

Pert, Candace B. 2001: Moleküle der Gefühle. Körper, Geist und Emotionen, Reinbek

Robra, Klaus 1991: trranscodierung – vom geheimnis der bedeutungen und ihrer vermittlung, Frankfurt a.M.

Robra, Klaus 2003: Und weil der Mensch Person ist …, Essen

Robra, Klaus 2008: „Kann das Leib-Seele-Problem durch einen dialektisch-materialistischen Informationsbegriff gelöst werden?“, in: Doris Zeilinger (Hrsg.):‚VorSchein‘ Nr. 30, Jahrbuch 2008 der Ernst-Bloch-Assoziation, Nürnberg 2008, S. 145-151

Robra, Klaus 2015: Wege zum Sinn, Hamburg

Robra, Klaus 2017: Person und Materie, München, in: www.grin.com/de/e-book/375344/

Robra, Klaus 2018: Wie ist Erkenntnis möglich? Kants Theorie und ihre Folgen, München, in: https://www.grin.com/document/429613

Robra, Klaus 2020 Ethik der Verhaltenssteuerung. Eine Neubegründung, München, in: https://www.grin.com/document/923015

Schelling, F.W.J 1975: Schriften von 1799-1801, Darmstadt

Schulz Walter 1972: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen

Warnke, Ulrich o.J., in: Wie das Bewusstsein „Wirklichkeit schaltet“Dr. Ulrich Warnke im Gespräch, https://www.youtube.com/watch?v=IUhFhR_ISdw Ferner: A.N.Whitehead, C.F. v. Weizsäcker, Rolf Froböse u.a.

Wendt, Lothar 1988: Das teleologisch-physikalische Weltbild, Band II, Heidel-berg

Wolf, Christian 2015: „ Überschätzte Universaltalente“, ‚Der Tagesspiegel‘ 20.5.2015, in: www.tagesspiegel.de/wissen/kontroverse-um-spiegelneuronen-ueberschätzte-universaltalente/11798792.html

[...]


1 Hans-Peter Dürr: Geist, Kosmos und Physik, Amerang 2011, S. 44 ff.

2 Walter Schulz: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 130: „Atomare Materie erscheint als Inbegriff von Gesetzen.“

3 Lothar Wendt: Das teleologisch-physikalische Weltbild, Band II, Heidelberg 1988, S. 170 ff.

4 Hierzu auch: Klaus Robra: trranscodierung – vom geheimnis der bedeutungen und ihrer vermittlung, Frankfurt a.M. 1991, S. 13 ff., mit einer Theorie der Bedeutungsentstehung S. 16-29

5 Candace B. Pert: Moleküle der Gefühle. Körper, Geist und Emotionen, Reinbek 2001, S. 286. Hierzu auch: Klaus Robra: „Kann das Leib-Seele-Problem durch einen dialektisch-materialistischen Informationsbegriff gelöst werden?“, in: Doris Zeilinger (Hrsg.):‚VorSchein‘ Nr. 30, Jahrbuch 2008 der Ernst-Bloch-Assozia-tion, Nürnberg 2008, S. 145-151

6 So z.B. Ulrich Warnke in: Wie das Bewusstsein „Wirklichkeit schaltet“Dr. Ulrich Warnke im Gespräch, https://www.youtube.com/watch?v=IUhFhR_ISdw Ferner: A.N.Whitehead, C.F. v. Weizsäcker, Rolf Froböse u.a.

7 F.W.J. Schelling: Schriften von 1799-1801, Darmstadt 1975, S. 643 ff. Hierzu auch: Klaus Robra: Und weil der Mensch Person ist …, Essen 2003, S. 60 f.

8 In: Christian Wolf: „ Überschätzte Universaltalente“, ‚Der Tagesspiegel‘ 20.5.2015, www.tagesspiegel.de/wissen/kontroverse-um-spiegelneuronen-ueberschätzte-universaltalente/11798792.html, S. 1

9 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965, S. 180

10 Gadamer a.O. S. 281

11 Popper, in: Schulz 1972, S. 81

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Verstehen und Verständigung auf den Wegen zum Sinn
Autor
Seiten
16
Katalognummer
V1255170
ISBN (eBook)
9783346694782
ISBN (Buch)
9783346694799
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Weltwissen - Verstehen, Lernen - Handeln, Verständigung, Materie und Geist, Sprache, Unterbewusstes, Non-Verbales, Bewusstsein und Wirklichkeit, Missverständnisse, Werte(n), Verstehen und Verzeihen
Arbeit zitieren
Dr. Klaus Robra (Autor:in), Verstehen und Verständigung auf den Wegen zum Sinn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1255170

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Verstehen und Verständigung auf den Wegen zum Sinn



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden